Ideologiefreies Spiel
Ein neues Buch von Jürgen Kuttner und Stefan Schwarz
Ein Buchhändler in Zentralostberlin erzählte: Damen (mehr)
und Herren im Rentenalter brächten öfter ein Buch zurück.
Trotz wenigen Geldes legten sie sich die wichtige politische Literatur
der DDR zu, so sei ihnen dieser Kuttner empfohlen worden.
Aber den verstünden sie nicht.
Und sie erbaten herzlich einen Umtausch in Gysi, Grass, Reinhold Andert
oder Markus Wolf, Gorbatschow oder Hermann Kant, Daniela Dahn oder doch
in etwas Heiteres aus dem Eulenspiegel Verlag.
Was eben an Stabilisatoren für angekränkeltes DDR-Selbstbewußtsein
auf dem Markt ist.
Unerträglich bis amüsant Jürgen Kuttner, als
Moderator in Funk und Fernsehen für seinen Nachwendequasselbarock
berühmt bis berüchtigt, bietet von simpler Blödelei bis
zum höheren Blödsinn dagegen einiges für Leute, die aus
Büchern nichts lernen wollen.
Es wird losgeschwatzt in seinen Sendungen, und nun zum zweiten Mal
gedruckt: Die "Expertengespräche" mit Stefan Schwarz liegen vor.
Angereichert um zahlreiche Anmerkungen und putzige kleine Fotos plus
Zeichnungen.
Man zappt sich durch das Buch, kann an jeder Stelle mit dem Lesen beginnen
und beliebig aufhören.
Das geht noch lockerer als im Internet.
Oder der Blätterer konzentriert sich gleich auf die Fußnoten:
"Es macht einen gut Teil der Popularität Lenins bei der Landbevölkerung
aus, daß er über hinreichend innere Würde verfügte,
um bei längeren Auftritten und Reden in der russischen Winterskälte
gemächlich den Schnodder aus der Nase laufen zu lassen, der an den
Mundwinkeln zwei riesige Eiszapfen bildete.
Die abergläubischen Bauern hielten darum Lenin für ein Fabelwesen
oder einen Vampir.
Leider wurden derlei Fotos später unter Stalin retuschiert.
Vgl.
The Beatles ,I am the walrus`."(Durch die bildnerischen Beigaben fällt
sogar für Analphabeten etwas ab.)Wie Helge Schneider und andere Komiker
vermeidet Kuttner die traditionelle Machart der satirischen Zuspitzung.
In einer Zeit, in der die Realität unaufhörlich absurde Konsequenzen
autoritärer Verhaltensweisen produziert und vorführt.
Kuttner und sein Partner Stefan Schwarz praktizieren das ideologiefreie
Spiel mit Zitaten und Erfindungen: Geschichte als Puzzle, man setzt sich
sein Weltbild zusammen.
Eine Brummkreiselschwemme in Avignon 1251 oder 1252 lieferte den Anlaß,
die (Er-)Zeugung kleinerer Menschen zu betreiben, die sich mit den Kreiseln
beschäftigen würden.
So entstanden Kinder.
Und der Erfinder der Imbißbude wollte zunächst keine Speisen
anbieten, "sondern einfach nur einen Ort schaffen , an dem es heiß
und fettig zugeht." Unglaubhafte Ausreden Stefan Schwarz, der den Allroundexperten
mimt, hat die originelleren Ideen.
Kuttner kalauert oft fad dazwischen, läuft aber zu brillanter
Form auf, wenn er seine Ablenkungsstrategien zur Erkenntnisverweigerung
entfaltet.
Ein Meister in Ausweichbewegungen und unglaubhaften Ausreden.
Im richtigen Leben war er einmal noch besser, als er öffentlich
vorsichtshalber mal glaubte, Stasimitarbeiter gewesen zu sein.
Und dann doch keiner war, weil es keine Akten gab.
Diese geistige Laxheit langweilt und ärgert dann doch - im Leben
wie im Text.
Der permanente Verunsicherungswille erzeugt und bestätigt das
Selbstbewußtsein eingeweihter Kreise.
Im Falle dieses Buches oft plakativ mit der DDR-Geschichte verknüpft.
Das Gespräch über die angewandte Thälmann-Forschung
und die "Arbeitsgruppe für Para-Thälmännische Phänomene"
wäre in den 80er Jahren ein subversiver Text gewesen.
Heute hat er etwas von nachholendem (versäumtem) Ungehorsam.
Im übrigen kann es zunehmend anstrengend werden, immer alle Botschaften
vermeiden zu wollen. Jürgen Kuttner/Stefan Schwarz: Expertengespräche.
Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1996, 286 Seiten, 24,80 Mark. |