Datum:  30.03.1996
Ressort:  Kultur
Autor: Lutz Rathenow


Ideologiefreies Spiel 
Ein neues Buch von Jürgen Kuttner und Stefan Schwarz 

Ein Buchhändler in Zentralostberlin erzählte: Damen (mehr) und Herren im Rentenalter brächten öfter ein Buch zurück. 
Trotz wenigen Geldes legten sie sich die wichtige politische Literatur der DDR zu, so sei ihnen dieser Kuttner empfohlen worden. 
Aber den verstünden sie nicht. 
Und sie erbaten herzlich einen Umtausch in Gysi, Grass, Reinhold Andert oder Markus Wolf, Gorbatschow oder Hermann Kant, Daniela Dahn oder doch in etwas Heiteres aus dem Eulenspiegel Verlag. 
Was eben an Stabilisatoren für angekränkeltes DDR-Selbstbewußtsein auf dem Markt ist. 
Unerträglich bis amüsant Jürgen Kuttner, als Moderator in Funk und Fernsehen für seinen Nachwendequasselbarock berühmt bis berüchtigt, bietet von simpler Blödelei bis zum höheren Blödsinn dagegen einiges für Leute, die aus Büchern nichts lernen wollen. 
Es wird losgeschwatzt in seinen Sendungen, und nun zum zweiten Mal gedruckt: Die "Expertengespräche" mit Stefan Schwarz liegen vor. 
Angereichert um zahlreiche Anmerkungen und putzige kleine Fotos plus Zeichnungen. 
Man zappt sich durch das Buch, kann an jeder Stelle mit dem Lesen beginnen und beliebig aufhören. 
Das geht noch lockerer als im Internet. 
Oder der Blätterer konzentriert sich gleich auf die Fußnoten: "Es macht einen gut Teil der Popularität Lenins bei der Landbevölkerung aus, daß er über hinreichend innere Würde verfügte, um bei längeren Auftritten und Reden in der russischen Winterskälte gemächlich den Schnodder aus der Nase laufen zu lassen, der an den Mundwinkeln zwei riesige Eiszapfen bildete. 
Die abergläubischen Bauern hielten darum Lenin für ein Fabelwesen oder einen Vampir. 
Leider wurden derlei Fotos später unter Stalin retuschiert. 
Vgl. 
The Beatles ,I am the walrus`."(Durch die bildnerischen Beigaben fällt sogar für Analphabeten etwas ab.)Wie Helge Schneider und andere Komiker vermeidet Kuttner die traditionelle Machart der satirischen Zuspitzung. 
In einer Zeit, in der die Realität unaufhörlich absurde Konsequenzen autoritärer Verhaltensweisen produziert und vorführt. 
Kuttner und sein Partner Stefan Schwarz praktizieren das ideologiefreie Spiel mit Zitaten und Erfindungen: Geschichte als Puzzle, man setzt sich sein Weltbild zusammen. 
Eine Brummkreiselschwemme in Avignon 1251 oder 1252 lieferte den Anlaß, die (Er-)Zeugung kleinerer Menschen zu betreiben, die sich mit den Kreiseln beschäftigen würden. 
So entstanden Kinder. 
Und der Erfinder der Imbißbude wollte zunächst keine Speisen anbieten, "sondern einfach nur einen Ort schaffen , an dem es heiß und fettig zugeht." Unglaubhafte Ausreden Stefan Schwarz, der den Allroundexperten mimt, hat die originelleren Ideen. 
Kuttner kalauert oft fad dazwischen, läuft aber zu brillanter Form auf, wenn er seine Ablenkungsstrategien zur Erkenntnisverweigerung entfaltet. 
Ein Meister in Ausweichbewegungen und unglaubhaften Ausreden. 
Im richtigen Leben war er einmal noch besser, als er öffentlich vorsichtshalber mal glaubte, Stasimitarbeiter gewesen zu sein. 
Und dann doch keiner war, weil es keine Akten gab. 
Diese geistige Laxheit langweilt und ärgert dann doch - im Leben wie im Text. 
Der permanente Verunsicherungswille erzeugt und bestätigt das Selbstbewußtsein eingeweihter Kreise. 
Im Falle dieses Buches oft plakativ mit der DDR-Geschichte verknüpft. 
Das Gespräch über die angewandte Thälmann-Forschung und die "Arbeitsgruppe für Para-Thälmännische Phänomene" wäre in den 80er Jahren ein subversiver Text gewesen. 
Heute hat er etwas von nachholendem (versäumtem) Ungehorsam. 
Im übrigen kann es zunehmend anstrengend werden, immer alle Botschaften vermeiden zu wollen. Jürgen Kuttner/Stefan Schwarz: Expertengespräche. 
Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1996, 286 Seiten, 24,80 Mark. 

 
 
 
 
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