LACHEN, RAUCHEN, SPUCKEN

oder warum chinesische Videokinos so viel Vergnügen bereiten, Teil 2

Mit der Öffnung des chinesischen Marktes für die Privatwirtschaft hält Hongkongs Pop- Kultur einen triumphalen Einzug in den chinesischen Alltag. Auf den Straßenmärkten wimmelt es von Bildern, Plakaten, Postkarten sowie Aufklebern beliebter Schauspieler und Sänger aus Hongkong. Plakate von Andy Lau Tak Wah ("Silver Fox"), Jacky Cheung Hok Yau ("Bullet in the Head") und Leon Lai Min ("Fallen Angels"), um nur einige der Stars zu nennen, dürften mittlerweile jedes Schulmädchenzimmer zieren. Männliche Teenager halten sich da eher an die Bilder der hinreißenden Anita Mui ("Miracles"), Michele Reis ("Fallen Angels") oder Joey Wong ("A Chinese Ghost Story").

Neben anderem Kleingewerbe sind auch die Videostuben allerorts wie Pilze aus dem Boden geschossen. Aufmerksame Beobachter können sie anhand ihrer Geheimzeichen, bunte Aushangbilder, in nahezu jedem Dorf und jeder Stadt finden. In den richtigen Kinos werden vorwiegend einheimische Produktionen vorgeführt. Dabei sind jetzt teilweise auch vormals verbotene Filme der sogenannten 5th Generation chinesischer Filmemacher, wie die des Regisseurs Zhang Yimou ("Rote Laterne") zu sehen. In den Videokinos laufen dagegen ausschließlich Produktionen aus der ehemaligen Kronkolonie Hongkong.

Mit ein- bis zweijähriger Verspätung wird nahezu alles gezeigt, was dort populär war. Das Hauptgewicht bestimmen dabei die Komödien bis Actionkomödien und Melodramen, gefolgt von Schwertkampf- Kung-Fu- und Gangsterfilmen. Glücklicherweise laufen sie alle mit englischen Untertiteln und bieten Freunden des Hongkong-Kinos so eine einmalige Gelegenheit, Defizite in der neueren Filmgeschichte aufzuarbeiten.

Actionfilme und Ultra-Trash. Man kann alles sehen in den Videokinos. Bei der ein-Buschmann-in-China-Geschichte "The Gods Must Be Funny In China", sollte man aber überlegen, ob man das Eintrittsgeld nicht lieber in einen Bao anlegt.

Doch Vorsicht: Einige der Filme laufen in synchronisierter und geschnittener Fassung. So fehlte in der Actionkomödie "God of Gamblers III - Back in Shanghai" der göttlich komische Mc-Donalds-Tanz. Den Anfang eines Michael-Jackson-Videos schamlos kopierend, singen und tanzen die Akteure ihre Version des Mambo-Italiano. - Und das zur Eröffnung eines Mc-Donalds-artigen Schnellrestaurants (Mc Danfook) im Shanghai der 30er Jahre. So etwas verträgt sich auch mit einem liberalerem Kurs in der Politik nicht. Geschweige denn jetzt, wo es immer wieder Probleme mit der Zensur gibt.

Das Zuschauerverhalten im Videokino ist in keiner Weise mit dem in unseren Kinos vergleichbar. Dort ist nichts von der beinahe andächtigen Ruhe vor der flimmernden Leinwand zu spüren. Da es keine festen Einlaßzeiten gibt, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. In der alten Kaiserstadt Xian, nahe der Ausgrabungsstätte der berühmten Armee von Terra-Kotta-Kriegern, sind nacheinander drei Männer durch einen defekten Klappstuhl neben mir auf den Boden gefallen, um sich dann verwundert, laut raschelnd, einen sicheren Platz zu suchen.

Bis auf die Kinder, scheint jeder im Saal zu rauchen. Von rechts und links, von vorne und hinten, hört man ein fortwährendes Räuspern und Spucken. Die Filme werden nicht schweigend konsumiert, die Reaktion auf Situationen und Ereignisse auf der Leinwand erfolgt direkt: Es wird gelacht, geklatscht und hier und da sind an den Bösen gerichtete Buhrufe und Zischlaute zu vernehmen. So muß es in den ersten Tagen des Kinos gewesen sein.

Der Besuch eines Videokinos ist ein rein chinesisches Vergnügen. Selbst in den touristischen Hochburgen Yangshuo, Xian und Shanghai, habe ich niemals andere Europäer dabei beobachtet. Wenn die Glühbirne nach der letzten Vorstellung aufflammt, hat man einen wunderbaren Blick über die Publikumszusammensetzung, wird aber gleichzeitig auch zum Objekt verwunderten Staunens. Vorbei ist es mit der warmen Vertrautheit in der plaudernden Menge.

Wenn nicht durch die Größe, so doch durch helle Haare und blassen Teint auffällig, wie eine Tarantel auf einer Quarktorte (um es mit Chandler zu sagen), muß man sich der Neugierde eben stellen. Kein Problem, die Chinesen sind höflich, niemand war jemals verärgert. Meist habe ich einfach amüsierte Blicke geerntet. Versuche diesem öffentlichen Interesse zu entgehen, indem man den Saal schon während des Abspanns verläßt, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn der Abspann wird meist gar nicht mehr gezeigt, während die Zuschauer schon mit dem Schlußbild aufzubrechen beginnen.

In der Volksrepublik, wo der Fernseher zum Luxusobjekt Nr. 1 geworden und für viele noch unerschwinglich bleibt, dienen Videokinos als Ersatz für des Fernsehzimmer sowie als gesellschaftlicher Treffpunkt. Gleichzeitig fungieren sie als Schaufenster nach Hongkong, das heißt zur Welt. Hier gibt es aus zweiter Hand Einsichten in die Wohnzimmer, Umgangsformen und Modetrends der großen Welt. Einige der Film-Frisuren werden gleich anschließend in den zahllosen Frisiersalons des Ortes ausprobiert.

Im Laufe der letzten Jahre ist die Anzahl der chinesischen Fernsehhaushalte explosionsartig angestiegen und so mag nach dem Boom ein rasches Abklingen des Videokino-Phänomens folgen, zur Zeit sind sie aber noch richtig in“. Tagsüber kommen die Mütter oder Väter mit ihren Kindern, ganze Familien, Soldaten, Halbwüchsige und Erwachsene, abends Teenager und Pärchen. Doch egal wann, das Videokino ist immer voll besetzt.

Ich habe nur eine Ausnahme gefunden, eine wahre Königin unter den Videokinos in Shanghai: Dort bezahlte man für eine Vorstellung den stolzen Preis von 5 Yuan. Nach einer Führung durch enge Gänge, gelangte ich in einen mit roten Samtsesseln ausgestatteten relativ kleinen Raum, in dem vorne ein riesiger Sony-Farbfernseher thronte. Hier war Lachen, Rauchen, Spucken, Reden, Essen und Trinken, kurzum alles, was das Vergnügen in einem Videokino ausmacht, untersagt. Unnötig zu erwähnen, daß diese Vorstellung nicht ausverkauft war.
Anja Böhnke

Home Seite 1

Noch zur Sache: Untersuchungsgrundlage des Videokino-Phänomens bildet meine Chinareise vom Oktober 1992 bis Dezember 1992. Bis März 1995 hatte sich die Situation nicht verändert. Videokinos erfreuten sich weiterhin großen Zulaufs, in Yangshuo wurde sogar noch ein weiteres eröffnet. Für die Zeit nach März 1995 habe ich aber leider keine aktuellen Daten mehr. Erstveröffentlichung: Die Kleine Mechthild Nr. 2, November 1993. © Anja Böhnke.
Anja Böhnke