"Neue Wohnstrassen?"

Situation und Perspektiven der
Verkehrsberuhigung in Wohnquartieren


Zusammenfassung

[als PDF: 3 p. / 17 kb]

 

Diese Arbeit ist ein Beitrag zur aktuellen Diskussion der Wohnqualität in Stadtquartieren.


Ausgangslage

In den letzten Jahrzehnten hat die Zunahme des Motorfahrzeugverkehrs die Qualität der städtischen Lebensräume vermindert. Mit Verkehrsberuhigungsmassnahmen wird versucht, diese negativen Einflüsse zu reduzieren. Während sich die aktuelle öffentliche Diskussion auf die Tempo-30-Zonen konzentriert, geht das zweite existierende Verkehrsberuhigungsmodell für Wohnquartiere, die Wohnstrasse, scheinbar vergessen.

Im Rahmen der Diskussionen rund um die Fussgängermodellstadt Burgdorf, einem breit abgestützten Pilotprojekt zur Förderung des Langsamverkehrs in Schweizer Städten, wurde deshalb unter dem Stichwort "Neue Wohnstrassen" die Idee einer Revitalisierung der Wohnstrasse wach.


Ziele und Vorgehen

Die vorliegende Arbeit untersucht einerseits, inwieweit eine solche Revitalisierung des Wohnstrassenmodells notwendig und sinnvoll ist. Dafür ist es erforderlich, grundlegende Daten zu den Erfahrungen und Meinungen rund um die Anwendung der Wohnstrasse zu gewinnen. Dies geschieht primär durch die Befragung der kommunal für die Durchführung von Verkehrsberuhigungsmassnahmen verantwortlichen Behörden. Zugleich wurde die Chance wahrgenommen, entsprechende Daten auch für die Tempo-30-Zonen zu erheben, um so Vergleichswerte zu erhalten und eine Positionierung der Wohnstrasse gegenüber der Tempo-30-Zone zu ermöglichen. Die Befragung beschränkte sich auf die 13 grössten Schweizer Städte, weil sich in Ballungszentren die Verkehrsprobleme am frühesten akzentuierten, entsprechend früher und stärker als anderswo Handlungsbedarf bestand und eher Geld für einzelne Projekte verfügbar war; dementsprechend war zu erwarten, dass in solchen Gemeinden die Erfahrungen am grössten sind. Um aber auch Vergleichswerte für die grosse Mehrheit kleinerer Gemeinden zu erhalten, wurden zusätzlich sechs Kleinstädte (mit jeweils ca. 15'000 Einwohnern) befragt.

Andererseits werden in der Arbeit mögliche Ansatzpunkte für "Neue Wohnstrassen" erarbeitet. Dabei werden zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt:

Der pragmatische, praxisbezogene Ansatz orientiert sich am aktuellen IST-Zustand; er propagiert Verbesserungsmöglichkeiten, die sich aus der Expertenbefragung ergeben und stellt zusätzlich aktuelle schweizerische Alternativprojekte vor.

Der theoretische, ökosystembezogene Ansatz orientiert sich an einem als erstrebenswert erachteten "idealen" SOLL-Zustand der städtischen Aussenräume: Ein Maximum an menschlichem Wohlbefinden und Umweltqualität lassen ein hochwertiges Wohnumfeld entstehen, das sich positiv auf die Wohnattraktivität der Stadtquartiere auswirkt.

 

Resultate

Der Fragestellung entsprechend lassen sich die gewonnenen Resultate nach zwei Bereichen zusammenfassen:

 

Was ist die Wohnstrasse?

Merkmale

Wohnstrasse

Zonensignalisation
Tempo 30


Ziel

Schaffung eines vielfältig und gleichberechtigt benutzbaren Strassenraums

Flächenhafte Verkehrsberuhigung in Wohnquartieren

In Kraft seit

1984

1989

Max. Geschwindigkeit

20 km/h

30 km/h

Geltungsbereich

Einzelne Strasse in Wohnquartier

Klar abgegrenzte Zone einheitlichen Charakters (Quartier)

Grösse

Max. 300 m Distanz zum nächstgelegenen "Tor"

Ideal ca. 0.4 km2 (~ 630 m x 630 m), Max. 0.7 km2 (~ 840 m x 840 m)

Strassentyp

Nur Erschliessungsfunktion

Erschliessungs- und Sammelfunktion

Vortrittsregelung

Fussgängervortritt

Fahrzeugvortritt, Rechtsvortritt

Spiel und Sport

Ausdrücklich erlaubt

Nur auf verkehrsarmen Strassen

Parkieren

Nur in markierten Feldern

Nur in markierten Feldern

In den untersuchten Städten

(per 1. März 1997)

(per 1. März 1997)

- existent:

ca. 60

ca. 160

- projektiert:

keine

ca. 260

Die qualitativen Resultate können zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen (der Untersuchungsraum umfasst ca. 1.5 Mio. Einwohner); sie zeigen aber diejenigen Aspekte, die in der praktischen Erfahrung der für Verkehrsberuhigungsmassnahmen verantwortlichen öffentlichen Stellen als wichtig empfunden werden:

Das Wohnstrassenmodell wird von den befragten Experten zwar grundsätzlich positiv beurteilt. Da die Realisation sehr aufwendig ist, aber nur lokal wirkt, ist das Modell im Vergleich zur Zonensignalisation Tempo 30 finanziell ineffizient. Hinzu kommt, dass das Modell zuwenig flexibel ist: Wegen der strengen Auflagen kommen nur wenige Strassen in Betracht, und zudem wirkt das Modell zu sehr auf eine ganz bestimmte Situation zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ausgerichtet. Aus diesen Gründen hat sich die Wohnstrasse nur schlecht verbreitet.

Die Tempo-30-Zonen hingegen befinden sich mitten in der Umsetzung. Positive Erfahrungen mit Pilotprojekten haben dazu geführt, dass die meisten grossen Schweizer Städte heute in Wohnquartieren eine flächendeckende Verkehrsberuhigung anstreben; da auch die neuen Erfahrungen gut waren, ist im Untersuchungsraum geplant, die Zahl der Tempo-30-Zonen in den nächsten fünf Jahren mehr als zu verdoppeln.

Auf eine allfällige Revitalisierung der Wohnstrasse bezogen, lassen sich aus der Untersuchung folgende Schlüsse ziehen:

Das Ziel der Verkehrsberuhigung in Wohnquartieren, das früher nur mit einer Wohnstrasse erreicht werden konnte, ist heute mit der Zonensignalisation Tempo 30 einfacher, günstiger und umfassender realisierbar. Für solche Anliegen ist eine Revitalisierung deshalb nicht notwendig. Andererseits kann die Tempo-30-Zone aber weitergehende Ziele, wie z.B. die gleichberechtigte Nutzung des Strassenraums durch alle, nicht erreichen. Dafür sind die mit einer Wohnstrasse verbundenen Auflagen notwendig. Soll die Strasse wieder Lebens- und Aufenthaltsraum sein, so ist deshalb eine Revitalisierung der Wohnstrasse sinnvoll. Weil ihre momentanen Ausführungsbestimmungen aber zu streng sind, ist dazu ein neues, verbessertes Modell notwendig.

 

Was ist die "Neue Wohnstrasse"?

Um die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten der Wohnstrasse zu erarbeiten, werden zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt.

Das pragmatische Vorgehen beruht auf den Verbesserungsmöglichkeiten des bisherigen Modells, die sich aus der Untersuchung ergeben haben: Dies betrifft insbesondere die Gesetzesgrundlagen, d.h. die Weisungen des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Gefordert wird eine Flexibilisierung der Massnahmen, insbesondere eine Verminderung der notwendigen baulichen Massnahmen wie z.B. die Aufhebung des Zwangs zur Nivellierung der Strassenfläche sowie eine Lockerung der Anforderungskriterien für mögliche Standorte.

Das theoriebezogene Vorgehen beruht auf der Rückbesinnung auf die ursprünglichen Ziele der Wohnstrasse: Die bisherigen Modelle beschränken sich auf einen passiven Ansatz der Verkehrsberuhigung; dabei ging der ursprüngliche Gedanke der aktiven Schaffung von Strassenraum als Lebensraum verloren. Im Rahmen einer ganzheitlichen, vernetzten Betrachtung des Aussenraums als Teil des menschlichen Wohn- und Lebensraums muss deshalb versucht werden, diejenigen Aspekte darzustellen, die eine Wohnumwelt maximalen menschlichen Wohlbefindens und optimaler Umweltqualität charakterisieren. Dabei wurde deutlich, dass einerseits die bisherige, parzellenorientierte Planung solche Anforderungen nicht erfüllen kann und dass andererseits der Aussenraum von der Planung vernachlässigt wurde. Zugleich zeigt sich auch, welche Vielzahl an wichtigen Funktionen ein angepasster Aussenraum beinhalten könnte: Er könnte für den Menschen Ort der Begegnung, des Spiels und des Ausgleichs sein, zugleich aber auch seinen Beitrag an ein ausgeglicheneres städtisches Ökosystem leisten. Weil der Strassenraum in Wohnquartieren nicht nur dominantes, sondern auch zentrales Element des Aussenraums ist, wäre es sinnvoll, "Neue Wohnstrassen" nur mehr als Subsystem eines bedürfnisgerechten Aussenraums zu sehen.

Die nachstehende Checkliste charakterisiert die substantiellen Eigenschaften und Merkmale eines solchen Aussenraums. Ein "idealer" Aussenraum, der eine optimale Umweltqualität und ein Maximum an menschlichem Wohlbefinden bieten will, muss deshalb folgenden Kriterien genügen:

Angenehm und komfortabel

Multifunktional

Bedürfnisgerecht

Naturnah

Erlebbar

Räumliche Einheit

Gemeinschaftsfördernd

Sicher

Identifizierbar

Vielfältige Raumstrukturen

Manipulierbar

Zugänglich

Das Ziel eines solchen Ansatzes kann aber nicht in erster Linie eine sofortige praktische Verwendbarkeit sein. Vielmehr soll es darum gehen, grundsätzliche Ideen aufzuzeigen. In diesem Sinn soll das theoretische Modell vorab eine allgemeine Orientierung ermöglichen und Leitlinien möglicher Entwicklungen aufzeigen.

 


Die Wohnstrassen von heute sind Wohnstrassen von gestern.

Die praxisorientierten Verbesserungsvorschläge sind die Wohnstrasse von morgen.

Das theoretische "Ideal" ist Grundlage der Wohnstrasse von übermorgen.


 

 

ende


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