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Das Hürchen

© copyright Ruth Durga, 2003

Es war einmal eine kleine Hure, die war so schön, dass sie keinen Schritt aus dem Haus gehen konnte, ohne von allen Menschen angestarrt zu werden. Ihre langen schwarzen Haare glitzerten in der Sonne, die Augen waren wie klarer Bernstein, die Lippen zart wie Himbeeren und so rot wie Kirschen. Man ahnte, ihre Brüste waren wie kleine Äpfelchen und, und wo sie ging, duftete es nach feinstem Moschus.
Aber niemand war da, der sie liebte.
Ihr wurde nachgerufen: "Oh, wie bist Du schön!" Die Männer scharten sich um ihr kleines Haus, aber niemand kannte ihren Namen. Niemand fragte sie: "Wie geht es Dir?" oder "Hast Du heute Nacht gut geschlafen?"
Sie war für alle nur "das Hürchen".

Darüber war die kleine Hure sehr betrübt, und wie sie einmal so auf der Strasse entlangging, flossen ihr die Tränen nur so aus den Augen - was sie unglücklicherweise noch schöner aussehen liess.

Da hörte sie auf einmal ganz furchtbare Laute, hob ihre Augen, und sah ein Gerippe, das am Strassenrand hockte und ganz schauderhaft vor sich hin plärrte.
Die kleine Hure setzte sich daneben.
"Was plärrst Du hier so herum?" fragte sie. Sie fand das Knochengestell scheusslich - aber sie fühlte auch Mitleid ihm, denn sie war ja selber traurig.

"Niemand mag mich!" plärrte das Gerippe und wand ihr den augenlosen Schädel zu, "weil ich so abscheulich aussehe!"
Die kleine Hure sah sich das Skelett genauer an. "Du bist nicht soooo hässlich", meinte sie dann, "es ist doch alles am richtigen Platz bei Dir. Jedes feinste Knöchelchen. Und irgendwie sieht es hübsch aus, grade jetzt, wo die Sonne durch Dich hindurch scheint. Sonne steht Dir, finde ich:" D
em Gerippe fiel der Unterkiefer herunter. "Findest Du ehrlich??" musst es sich vergewissern.
ie kleine Hure nickte ernsthaft.

"Und Du", fragte das Knochengestell, "warum hast du geweint?"
Da flossen der kleinen Hure erneut die Tränen - noch nie hatte sie jemand so etwas Liebes gefragt. "Ach", schluchzte sie, "mich mag auch niemand."
"Aber warum?" fragte das Skelett, "dein Haar glitzert in der Sonne, deine Augen strahlen wie klarer Bernstein, deine Lippen sind zart wie Himbeeren und so rot wie Kirschen. deine Brüste, so scheint mir, sind wie kleine Äpfelchen, und du duftest zauberhaft nach Moschus.
Warum sollten dich die Leute nicht lieben?"

"Ach", sagte da das Hürchen, "das verstehst Du doch nicht. Alle sehen nur, was Du auch siehst, aber daran, wie ich mich fühle, fragt niemand."
"Oh;" sagte das Knochengestell, "das kenne ich", und legte seine feinen knöchernen Finger auf die zarten Hände der kleinen Hure.

Und sie sahen einander an und sahen, so verschieden sie auch waren, so ähnlich erging es ihnen doch.
Und sie fasten sich fester an den Händen und schwiegen lange.

"Wo wohnst Du?" fragte irgendwann das Hürchen. "Ich wohne nirgends", sagte das Gerippe, "ich brauche ja nichts. Regen und Wind machen mir nichts aus, und ich esse, trinke und schlafe nicht, weißt Du."
Die kleine Hure fand das schade, denn wenn einem auch Wind und Wetter nichts ausmachen, und man nicht essen, trinken oder schlafen muss, hat man es doch gerne gemütlich.
"Wie heisst Du?" fragte das Knochengestell. "Elisabeth", sagte das Hürchen, "magst du mit mir nach Hause kommen und bei mir wohnen? Da ist es sehr hübsch, weißt Du."
Das Skelett klapperte aufgeregt mit den Knochen, "ach, ja, liebe Elisabeth, lass uns das tun! Bitte! Ich koste ja nichts, und wir könnten uns unterhalten!"
So gingen die beiden gemeinsam nach Hause.
Und es war das erste Mal, dass die Leute die Blicke abwandten, und die Männer die Nase rümpften, als das kleine Hürchen, an ihnen vorbeiging. Elisabeth fühlte sich grossartig!
Und sie gingen in das Haus, in dem Elisabeth wohnte.
So viele Männer waren hier ein- und ausgegangen - aber keiner hatte den hübschen, kleinen Garten vor dem Haus bemerkt, in dem es bis weit in den Winter hinein blühte.
Und keiner hatte gesehen, wie phantasie- und geschmackvoll die Wohnung eingerichtet war und mit wie viel Liebe. Überall glitzerten kleine Lämpchen, standen Vasen mit duftenden Blumen; weiche, bunte Stoffe bedeckten die Wände - es war einfach zauberhaft, und das Gerippe wurde ganz andächtig.
"Hier wohnst Du?" fragte es, "hast Du das alles selber gestaltet?" Elisabeth nickte und war ganz stolz.

Dann machte sie Tee, stellte dem Skelett auch eine Tasse hin - es sah schöner aus, fand sie; und das Gerippe wurde zum ersten Mal in seinem Leben bewirtet, Es trank den Tee zwar nicht, um den schönen Teppich nicht zu beschmutzen, aber es fühlte sich wunderbar.

Und sie redeten und erzählten und fanden kein Ende.
Die Männer hämmerten und klingelten and der Türe, aber das kümmerte die beiden überhaupt nicht.

Und als es Abend wurde und die Nacht hereinbrach, schliefen sie nebeneinander in Elisabeths grossem weichen Bett. Und zum ersten Mal, seit Elisabeth zurückdenken konnte, wurde sie im Arm gehalten wie eine Kostbarkeit und aus Fürsorge und damit sie gut schlief. Einfach so.
Und das Gerippe fühlte zum ersten Mal weiche Kissen und Laken unter seinen Knochen und Knöchelchen, fühlte Wärme im Arm, und Moschusduft war überall.

Als Elisabeth am nächsten Morgen erwachte, war das Gerippe fort - jedenfalls dachte Elisabeth das. Sie fühlte sich seltsam - anders als gewohnt.
Sie erhob sich, trat vor den grossen Spiegel und betrachtete sich. Und sie sah, wie schön sie war: elfenbeinfarbene Haut, Brüste wie kleine Äpfelchen, Lippen, so zart wie Himbeeren und so rot wie Kirschen, schwarze glitzernde Haare.
Und sie sah noch etwas: hinter der elfenbeinfarbenen Haut und den glitzernden Haaren sah sie einen augenlosen Schädel, sah Wirbel um Wirbel an sich herunter gleiten, sah Knochen um Knöchelchen.
Und sie dachte lange darüber nach. Sehr lange.

Als sie wieder aus dem Haus ging, Tage später, schien alles wie immer. Die Leute gafften ihr nach, die Männer pfiffen, als sie vorüberging.
Und ein neues, fremdes Lächeln trat in den weichen, roten Mund. Elisabeth tat ein paar schnelle, leichte Bewegungen, und die Leute schrieen entsetzt auf:
Sie hatten das Geklapper uralter Knochen gehört und hinter dem schönsten Gesicht, das sie kannten, einen Totenkopf erblickt.

Von nun an liessen sie sie in Ruhe.
Elisabeth, die eifrig gespart hatte, begann Innenarchitektur zu studieren und wurde sehr, sehr gut darin.
Wer immer auf sie zutrat, musste dies mit Achtung tun. Tat er es nicht, hörte er Knochengeklapper, sah Totenschädel und fürchtete um seinen Verstand.

Wer dagegen Elisabeth mit Liebe und Respekt begegnete, wurde belohnt mit dem schönsten Anblick, den man sich vorstellen konnte:
Lange, schwarze, glitzernde Haare, Augen wie klarer Bernstein, Lippen so zart wie Himbeeren und so rot wie Kirschen, Moschusduft allüberall und die leise Ahnung von Brüsten, die wie kleine Äpfelchen waren.