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Das Kind

© copyright Durga, 2004

 

 
 

 

Und ich sah Christus: eine grosse, leuchtende Gestalt ganz aus Licht.

Und ich dachte an Odin, der am Baume hing; dachte an so viele grosse Heilige, an das Christusbewusstsein.

Und ich erinnerte mich des Kindes, das ich so oft gesehen hatte und nie beachtet:

ein Baby, dunkelhäutig, mit schmutzigen Tüchern und Binden um Arme und Hände, Beine und Füsse. Und es tropfte stinkend aus diesen Stoffen heraus. Ich wusste, es fehlten Teile der Glieder oder Gliedmassen ganz - und dachte: “Das Kind muss irrsinnige Schmerzen haben.” Und sah es mir an, und es war von vollkommener Ruhe, sehr ernst schaute es mich an.

Und ich hörte eine Stimme, die sagte: “Dies ist Christus.” Und ich verstand, da trug einer das Leiden der Welt mit; da war einer freiwillig hinab gestiegen um teilzuhaben am Elend.
Und ich fragte das Kind. Und es öffnete seinen kleinen Mund, und es schrie.
Und es schrie aus sich heraus den Jammer der Welt. Der Schrei des Kindes umtoste mich und wurde zum Schrei eines Mannes, vieler Männer, der Menschen, Frauen und Kinder der Welt. Sie alle schrieen vor Schmerz und vor Leid. Und das Schreien umtoste mich und wirbelte um mich und umfloss mich. Und da umflossen mich Perlen aus Gold, Orange und Gelb, sie kamen wie ein mächtiger Strom - es waren Tränen, die glänzten und schimmerten und klangen - ein mächtiger Fluss, der drohte, michh fortzureissen mit sich. Und alles um mich war geöffnetes Maul, voll von dem Schrei. Da öffnete auch ich meinen Mund und liess ihn hinein, diesen Schrei, und er schmeckte wie zäher, mampiger Brei, und ich erstickte daran - und bekam Angst. Und holte das Gold aus dem Schoss, es strömte empor, und der Brei wurde flüssig und wässrig und klar.

Und ich sah das Kind: es war grösser nun, etwa sieben oder so, stand fest auf seinen Beinen, keine Binden mehr um Arme und Füsse. Und es sah mich an, als sei dies alles ihm völlig egal und drehte sich um, um zu gehen. Und ich hatte Angst, etwas verkehrt gemacht zu haben.

Und immer noch strömte das Gold hoch in mich in den Scheitel und darüber hinaus, und kam Wässriges in den geöffneten Mund und strömte nach unten, zum Schoss…es war ein Spülen und Säubern ….und ich war kein Mensch mehr, war ohne Gestalt, war nur Wirbel und Strömen und Pulsieren und Kraft, war nur Leben, war nur Energie.

Und blickte wieder zum Kind.

Und sah einen uralten Mann, gebeugt von den Jahren, er schlurfte davon, drehte sich nicht mehr um.

Am nächsten Morgen war das Kind wieder da, ein Baby, dunkelhäutig, mit schmutzigen Tüchern und Binden um Arme und Hände, Beine und Füsse. Und ich öffnete seinen Brustkorb, da lag ein gold-glitzerndes Herz; es war für mich. Und ich nahm es an mich und setzte es mir selber ein. Und das Baby gluckste vor Wonne, wie nur Kleine das tun.
17. 06. 2004

 
 

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