Das Tal der verlorenen Kinder © copyright Ruth Durga, 2003
Und ich kam in das Tal der verlorenen Kinder.
Dann sahen sie mich, eine Fremde, Erwachsene und wurden eins nach dem anderen ganz still.
Noch bevor mir eine Antwort einfiel, sprach die Ältere zu mir. Sie war dunkelhäutig und von keinem der Völker, die mir bekannt waren.
Und ein Junge sprang hervor, afrikanischen Ursprungs. Er hatte ein Kind auf dem einen und ein Maschinengewehr im anderen Arm.
Ein kleines asiatisches Mädchen von grosser Schönheit trat hervor. Ich schätzte sie auf acht oder neun Jahre. Und sie sprach: “Meine Familie hat einen guten Preis für mich bekommen, aber ich habe sie nie wieder gesehen. All die weissen, dicken Männer haben mich benutzt. Sie haben mir sehr weh getan. Aber noch schlimmer war es, dass ich meine Mutter nicht mehr gesehen habe. Weißt Du, ob ich ausgereicht habe, damit mein Bruder studieren konnte?” Irgendwo in der Menge begann ein Baby zu schreien, zu brüllen. Und ich verstand, was es sagte. Und es sprach: “Sie haben mich vertrieben aus dem Bauch meiner Mutter, aus der Herznähe, in der ich wohnte. Ich sehne mich bis heute dahin zurück.” Sein Schreien verebbte, da begann ein anderes zu brüllen, irgendwo in diesem Meer von Kindern.
Und ein anderes Kind trat hervor, ein Mädchen. Sie war etwa sechs und dunkelhaarig. Und sie sprach: “Meine Mutter brauchte mich sehr - mal als Schmuckstück, mal als Punchingball. Da bin ich fortgegangen, ganz, ganz langsam. Ich glaube, sie hat es gar nicht gemerkt. Aber sonst hätte ich ihr nicht helfen können. Weißt Du, ob ich sie glücklich gemacht habe?” Und ein kleiner Junge, mit zerschlissenen Kleidern und verhärmten Augen, trat hervor. Und er sprach: “Mein Vater lag im Sterben. Er hatte nur mich. Ich wollte ihn auf seinem Weg begleiten, damit jemand auch im Himmel für ihn sorgt. Aber ich kam hier an. Ich mache mir Sorgen um ihn. Weißt Du, wie es ihm geht?” Ein anderer Junge trat hervor, korrekt in Anzug und Fliege. Er war fein und zart. Und er sprach: “Papa war ein grosser Mann und Mama war wunderschön. Ich wollte, dass sie stolz auf mich waren, aber ich war so ängstlich. Ich ertrug ihre Blicke nicht mehr, da bin ich hierher gekommen. Dort bin ich ein erwachsener Mann geworden, dem ich nun fehle. Und niemand ist jetzt stolz auf mich.” Und ein anderer Junge, etwas grösser, meldete sich zu Wort. Er trug eine Uniform, dunkelblau mit blitzenden Knöpfen. Er wartete, bis ich ihm mit meinem Finger das Wort erteilte. Und er sprach: “Ich wollte tapfer sein und habe mich selbst dabei gestört. Da bin ich hierher gekommen. Weißt Du vielleicht, ob ich berühmt geworden bin?” Da hörte ich von sehr weit her eine Kleinmädchenstimme, sehr leise und sehr deutlich. Und sie sprach: “Papi hatte mich sehr lieb. Das hat mir wehgetan. Er fand mich sogar im Schrank.” Und ein schon grösseres Mädchen von aussergewöhnlicher Schönheit trat hervor. Und sie sprach: “Sie haben nur mein Aussehen geliebt. Da bin ich fort gegangen. Manchmal suche ich jetzt den Weg nach dort zu mir - aber immer seltener.” Ihr Lächeln war sehr süss, und ich war mir sicher, dass ich es von irgendwoher kannte. Ein unscheinbares Mädchen ganz vorne begann in sich hinein zu murmeln - auch sie verstand ich ganz deutlich. Und sie sprach: “Ich komme nicht wieder zurück, bis sie mich holen. Solange sie mich nicht wollen, bleibe ich hier - da können sie mir noch so viele Spritzen geben.” Und ein dunkelhäutiger Junge mit überraschend rotem Haarschopf trat vor. Und er sprach: “Sie haben uns alle getötet, alle Verwandte und Freunde in ihren Hütten verbrannt, den Zauberer zuerst. Ich bin noch hierher gekommen, bevor es mich erwischt hat.” Und ein anderer, grösserer, zeigte sich. Ihn als einzigen, verstand ich nur schwer. Irgendetwas in seinem Mund war nicht in Ordnung. Und er sprach: “Ich musste sie retten. Ich war der einzige, der das konnte. Es hat so wehgetan, dass ich hierher kam. Aber ich habe nichts gesagt, bis zum Schluss, bis ich starb. Weißt Du, ob sie am Leben geblieben sind?” Sein Körper war mit Wunden übersäht, ich sah gebrochene Knochen, sein linkes Auge fehlte und einige Finger. Und so sprachen sie, eines nach dem anderen, so viele es auch waren; Mädchen und Jungen aus allen Zeiten und Völkern.
Kindersoldaten zogen vor meinen Augen in den Krieg und weinten beim Töten. Babys dienten zur Lustbefriedigung in ihren Augen das Grauen.
Und ich weinte. Mir liefen die Tränen über mein Gesicht vor Mitgefühl.
Und die Angst wuchs in mir, weil ich nicht wusste, in welchem Alter ich hierher gekommen war, und woran ich mich erkennen sollte. Ich war hier um meinetwillen, und nun wusste ich nicht, wie ich mich finden sollte.
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