Startseite

 
 
 
 
 
 
 

Das Tal der verlorenen Kinder

© copyright Ruth Durga, 2003

Und ich kam in das Tal der verlorenen Kinder.
Und siehe, Tausende und Abertausende von Kindern waren hier, in allen mir bekannten Hautfarben und in mir unbekannten; Kinder aus Völkern und Zeiten, die ich kannte und Kinder, mir fremd, lange vor meiner Zeit. Und sie redeten und sangen, weinten, klagten und schrieen, schimpften und wüteten alle wild durcheinander. Der Lärm war ohrenbetäubend.

Dann sahen sie mich, eine Fremde, Erwachsene und wurden eins nach dem anderen ganz still.
Und ich schwieg.
Und ein Kind trat hervor, es war zart und klein, etwa zwei Jahre alt, an der Hand einer Grösseren. Es war schmutzig, das blonde, lange Haar verfilzt und aus der Windel, ihrem einzigen Kleidungsstück, lief es feucht hervor. Ihre Arme waren voll blauer Flecken. Und das Kleinkind sprach, und ich wunderte mich, dass ich sie verstand. Und sie sprach: “Mama hatte viele von uns. Papa war oft so laut. Ich war schon zu schwer in Mamas Bauch. Später bin ich einfach gegangen. Ich wollte nicht mehr zu schwer für sie sein. Weißt Du vielleicht, ob Mama und Papa jetzt wieder gut miteinander sind?”

Noch bevor mir eine Antwort einfiel, sprach die Ältere zu mir. Sie war dunkelhäutig und von keinem der Völker, die mir bekannt waren.
Und sie sprach: ”Wir hatten nichts mehr zu essen. Mutter Dürre hatte schon viele von uns zu sich geholt. Da haben sie mich in die Grube gelegt. Ich sollte Nahrung sein für die Hungrige Mutter, damit sie mein Volk nicht noch weiter verzehrte. Mein Volk feierte ein Fest, und sie weinten. Aber ich war stolz. Die Ehre, als Nahrung zu dienen, haben nur wenige. Weißt Du, ob ich die Hungrige Mutter gesättigt und mein Volk gerettet habe?”

Und ein Junge sprang hervor, afrikanischen Ursprungs. Er hatte ein Kind auf dem einen und ein Maschinengewehr im anderen Arm.
Und er sprach: “Sie zwangen mich, meine Schwester zu töten. Sie war noch so klein. Danach gehörte ich ihnen. Zuerst war ich zornig und litt. Aber dann verstand ich, dass dies Opfer nötig war, um mein Volk zu retten. Der zärtliche Teil von mir kam hierher, damit ich für meine Schwester sorgen und dort gleichzeitig mein Volk weiter befreien konnte. Und ich tötete weiter. Ich war ein Held. Mit einer Bombe tötete ich viele Feinde und mich selber.” Und er ballerte einige Salven mit dem Gewehr in die Luft und grinste erfreut über das erschrockene Quieken und Kichern um ihn herum. “Weißt Du, ob wir gesiegt haben?” fragte er danach noch leise und sehr ernst.

Ein kleines asiatisches Mädchen von grosser Schönheit trat hervor. Ich schätzte sie auf acht oder neun Jahre. Und sie sprach: “Meine Familie hat einen guten Preis für mich bekommen, aber ich habe sie nie wieder gesehen. All die weissen, dicken Männer haben mich benutzt. Sie haben mir sehr weh getan. Aber noch schlimmer war es, dass ich meine Mutter nicht mehr gesehen habe. Weißt Du, ob ich ausgereicht habe, damit mein Bruder studieren konnte?”

Irgendwo in der Menge begann ein Baby zu schreien, zu brüllen. Und ich verstand, was es sagte. Und es sprach: “Sie haben mich vertrieben aus dem Bauch meiner Mutter, aus der Herznähe, in der ich wohnte. Ich sehne mich bis heute dahin zurück.”

Sein Schreien verebbte, da begann ein anderes zu brüllen, irgendwo in diesem Meer von Kindern.
Und es sprach: “Mir schmeckte die Milch nicht mehr und das Gefühl an der Brust wurde zu Schmerz. Warum, weiss ich nicht. Aber ich war schuld. Nun bin ich hier. Weißt Du, ob ich dort noch lebe?”

Und ein anderes Kind trat hervor, ein Mädchen. Sie war etwa sechs und dunkelhaarig. Und sie sprach: “Meine Mutter brauchte mich sehr - mal als Schmuckstück, mal als Punchingball. Da bin ich fortgegangen, ganz, ganz langsam. Ich glaube, sie hat es gar nicht gemerkt. Aber sonst hätte ich ihr nicht helfen können. Weißt Du, ob ich sie glücklich gemacht habe?”

Und ein kleiner Junge, mit zerschlissenen Kleidern und verhärmten Augen, trat hervor. Und er sprach: “Mein Vater lag im Sterben. Er hatte nur mich. Ich wollte ihn auf seinem Weg begleiten, damit jemand auch im Himmel für ihn sorgt. Aber ich kam hier an. Ich mache mir Sorgen um ihn. Weißt Du, wie es ihm geht?”

Ein anderer Junge trat hervor, korrekt in Anzug und Fliege. Er war fein und zart. Und er sprach: “Papa war ein grosser Mann und Mama war wunderschön. Ich wollte, dass sie stolz auf mich waren, aber ich war so ängstlich. Ich ertrug ihre Blicke nicht mehr, da bin ich hierher gekommen. Dort bin ich ein erwachsener Mann geworden, dem ich nun fehle. Und niemand ist jetzt stolz auf mich.”

Und ein anderer Junge, etwas grösser, meldete sich zu Wort. Er trug eine Uniform, dunkelblau mit blitzenden Knöpfen. Er wartete, bis ich ihm mit meinem Finger das Wort erteilte. Und er sprach: “Ich wollte tapfer sein und habe mich selbst dabei gestört. Da bin ich hierher gekommen. Weißt Du vielleicht, ob ich berühmt geworden bin?”

Da hörte ich von sehr weit her eine Kleinmädchenstimme, sehr leise und sehr deutlich. Und sie sprach: “Papi hatte mich sehr lieb. Das hat mir wehgetan. Er fand mich sogar im Schrank.”

Und ein schon grösseres Mädchen von aussergewöhnlicher Schönheit trat hervor. Und sie sprach: “Sie haben nur mein Aussehen geliebt. Da bin ich fort gegangen. Manchmal suche ich jetzt den Weg nach dort zu mir - aber immer seltener.” Ihr Lächeln war sehr süss, und ich war mir sicher, dass ich es von irgendwoher kannte.

Ein unscheinbares Mädchen ganz vorne begann in sich hinein zu murmeln - auch sie verstand ich ganz deutlich. Und sie sprach: “Ich komme nicht wieder zurück, bis sie mich holen. Solange sie mich nicht wollen, bleibe ich hier - da können sie mir noch so viele Spritzen geben.”

Und ein dunkelhäutiger Junge mit überraschend rotem Haarschopf trat vor. Und er sprach: “Sie haben uns alle getötet, alle Verwandte und Freunde in ihren Hütten verbrannt, den Zauberer zuerst. Ich bin noch hierher gekommen, bevor es mich erwischt hat.”

Und ein anderer, grösserer, zeigte sich. Ihn als einzigen, verstand ich nur schwer. Irgendetwas in seinem Mund war nicht in Ordnung. Und er sprach: “Ich musste sie retten. Ich war der einzige, der das konnte. Es hat so wehgetan, dass ich hierher kam. Aber ich habe nichts gesagt, bis zum Schluss, bis ich starb. Weißt Du, ob sie am Leben geblieben sind?” Sein Körper war mit Wunden übersäht, ich sah gebrochene Knochen, sein linkes Auge fehlte und einige Finger.

Und so sprachen sie, eines nach dem anderen, so viele es auch waren; Mädchen und Jungen aus allen Zeiten und Völkern.
Und Opferberge türmten sich vor mir auf:
Opfer von Liebe und Opfer von Hunger,
Opfer von Heldentum und Opfer von Furcht,
Opfer von Kriegen, Folterungen und von Gefangenenlagern,
Opfer von Soldatenmut und Kindertapferkeit,
Opfer von Müttern und Opfer von Männern,
Opfer von grossen Idealen und kindlichen Trieben.

Kindersoldaten zogen vor meinen Augen in den Krieg und weinten beim Töten. Babys dienten zur Lustbefriedigung in ihren Augen das Grauen.
Mädchen wurden verheiratet im Kindesalter und gebaren Kinder noch vor ihrer ersten Blutung.
Mütter töteten ihre Kinder um sie zu schützen, aus Liebe, oder sie brachten sie um aus Hass.
Abgetriebene Kinder vieler Nationen und Zeiten erstanden vor mir zum Leben und sprachen zu mir.
Vertriebene Kinderseelen von Erwachsenen sah ich und ich ahnte, die Kinder wussten genau, welche Art von Erwachsener sie geworden waren und trugen dies mit Würde.
Manche der Opfer konnte ich nicht verstehen, weil sie aus Urzeiten stammten und mir fremd waren.

Und ich weinte. Mir liefen die Tränen über mein Gesicht vor Mitgefühl.
Ich starb ihre Tode und ich trug ihre Trauer.

Und die Angst wuchs in mir, weil ich nicht wusste, in welchem Alter ich hierher gekommen war, und woran ich mich erkennen sollte. Ich war hier um meinetwillen, und nun wusste ich nicht, wie ich mich finden sollte.