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Variation II

© copyright Ruth Durga, 2003


Die Kreatur

Ich sah, da war die Welt, und da waren die Menschen.
Und ich sah Missgunst und Neid, Habgier und Gewalt, Machtgier und die Lust an Vernichtung von allem: Menschen, Pflanzen und Tiere.
Und ich sah, ein Geschöpf wurde geboren aus den Gelüsten, gross, dunkel und gefährlich, geboren aus Hass, Neid und der Lust zur Qual.
Schrecklich was es anzusehen, dieses Geschöpf - von allen, denen es begegnete nur “die Kreatur” genannt und mehr gefürchtet als der Tod selber.

So zog die Kreatur, die aus den Gefühlen der Menschen gemacht worden war, über die Erde und hinterliess tiefe Spuren von Verwüstungen und Vernichtungen und nährte sich weiterhin aus dem Hass der Menschen und wurde immer grösser und mächtiger.
Furchtbar war ihr Erscheinungsbild, und wer immer sie erblickte, erschrak zu Tode. Türen und Fenster wurden verrammel, sobald die Kreatur am Horizont ansichtig wurde. Wer mutig genug war, wagte den Versuch, sie zu verjagen mit allen Mitteln.
Es half ihnen nichts.
Die Kreatur war geboren. Nun lebte sie und ging ihrer schrecklichen Wege.

Es gab auch einen Mann, der lebte in einem Dorf nahe dem Waldrand. Er war ein ruhiger Mann, der sich stets einen kleinen Stoppelbart stehen liess und mit viel Liebe sein Rosengärtchen pflegte. Er war beliebt im Dorf, hatte für jedermann ein freundliches Wort, und seine blitzblauen Augen sahen gar manches. Auch er hatte von der Kreatur gehört, wie all Menschen rings um den Erdball. Die Kunde davon war sogar in die verlorensten Winkel der Welt gedrungen, in Bereiche, von denen niemand sich vorstellen konnte, dass sie existierten.

Der Mann dachte nach, während er seine Rosen beschnitt, düngte und die Erde darum herum erneuerte. Er dachte nach mit schwerem Herzen und mit Liebe. Und da er, obwohl klug, ein einfacher Mann war, waren auch seine Gedanken schlicht.
Er dachte etwa folgendermassen: “Dies ist ein schlimmes Geschöpf. Es ist auch ein Geschöpf, dass von jedermann abgelehnt wird und vollkommen ungeliebt ist. Vielleicht wäre es weniger grauenhaft und würde aufhören mit seinen schrecklichen Werken, wenn jemand es mit nach Hause nehmen und bergen würde. Kein Geschöpf gibt es auf dieser Erde, das, ungeliebt, nicht böse wird.” So sinnierte er vor sich hin und Plan reifte in ihm.

Und eines Morgens versorgte er seine Rose, wie er furchtsam bedachte, vielleicht ein letztes Mal. Er nahm einen kleinen Beutel, darin steckte er ein Tuch, so fest gewebt, dass auch die Sonne es nicht durchdrang, ausserdem eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern und einen sehr schönen Spiegel. Dazu kam noch etwas Proviant.
Dann ging er in den Stall, um seinen Ochsen loszubinden. Es war ein schönes, sanftes, rotbraunes Tier mit Hörnern wie Mondsicheln und einem Fell von Seide. Es war des Mannes Freund, und so manches Mal hatte er ihm Geschichten erzählt, oder was ihm so durch den Kopf ging, und der Ochse hatte ihm jedes Mal sehr gern zu- gehört. Aber was er nun vorhatte, besprach er nicht mit seinem Tier - er wollte es nicht betrüben. Er zog sich seine schweren Schuhe an und zog los, der Ochse neben ihm.

Es war nicht schwer, die Spur der Kreatur zu finden. Er brauchte nur den Verwüstungen zu folgen, und so zog er hinter der Kreatur her. Und was er sah auf seinem Weg, machte ihn wünschen sterben zu können oder nie geboren worden zu sein:
Verbrannte Wälder, geschändete Frauen und Kinder; Menschen, irrsinnig geworden vor Schmerz und Vieles, Vieles mehr. Und der Mann zog mit seinem Ochsen durch die Welt und war klug genug, die Verwüstung um ihn herum nicht in sein Herz dringen zu lassen. “Denn”, so erklärte er dem Ochsen, “will ich die Menschen retten, muss ich die Kreatur bergen, und dazu brauche ich alle Herzensliebe, deren ich fähig sein werde.” Dass sich die beiden allmählich der Kreatur näherten, merkten sie am Geruch. Es begann zu stinken, je näher sie der Kreatur kamen, desto furchtbarer.
Immer wieder weigerte sich der Ochse weiterzugehen und musste überredet werden.
Wüster, als wo sie nun waren, hatte es bislang noch nirgends ausgesehen.

Da stoppte der Mann und redete lange und sprach mit dem Ochsen und erklärte ihm vieles. Dann band er sich das dunkle Tuch um die Augen, hielt sich an seinem Tier fest, das nun für ihn den Weg sah und ihn führte. Und unter ständigem guten Zureden und Kraulen des Mannes hielt der Ochse auch durch und taumelte weiter, bis er irgendwann stehen blieb. Jetzt endgültig. Seine Flanken zitterten, und der Schweiss lief in Strömen das Fell hinunter. Er war besessen von Angst. Da wusste der Mann dass sie vor der Kreatur standen.

Zuerst einmal beruhigte er den Ochsen so gut er konnte, holte einige Leckereien für ihn heraus, lobte und fütterte ihn unter Liebkosungen, bis er die Angst des Ochsen nachlassen spürte. Dann wandte er den Kopf in die Richtung, aus der der Gestank am stärksten kam. “Hallo”, sagte er. Die Kreatur schwieg. “Hallo”, sagte der Mann erneut und bemühte sich, seiner Stimme einen lockeren Klang zu geben. “Wer bist Du?” Die Kreatur sprach. Er hörte nur eine gehässige, zischende Stimme und ihn schauderte, aber er verstand die Worte. “Ich bin gekommen, dich nach Hause zu holen”, sagte der Mann. Ein gehässiges Lachen, dass ihm durch Mark und Bein fuhr, war die Antwort. “Du hast ein Tuch um die Augen”, hörte er die hässliche Stimme sagen, “Hast Du Angst?” “Nein”, sagte der Mann tapfer, “ich habe keine Angst vor Dir. Wenn Du mich vernichten willst, mich und meinen lieben Ochsen hier, darfst Du das gerne tun. Aber Du bist stark und mächtig, und ich weiss nicht, ob ich Deinen Anblick zu ertragen in der Lage wäre. Und wenn ich stürbe, könnte ich Dir nicht mehr helfen.” Die Stimme des Mannes war dabei immer leiser geworden. Er hatte auf sein Herz gelauscht, während er sprach, und so wusste er, dass er die Wahrheit sagte.

“Ich fühle Dich nicht”, sagte die böse Stimme und Überraschung schwang mit - ein neuer Ton, neu auch für die Kreatur. “Überall”, so fuhr sie fort, “fühle ich Angst, Neid, Hass, Zorn - davon lebe ich. Dich spüre ich nicht. Daher weiss ich, dass Du die Wahrheit sprichst. Du bietest mir Dein Heim an und hast keine Angst vor mir. Aber wovon, glaubst Du, soll ich mich ernähren?”
Der Mann schluckte. “Der Ochse”, sagte er, und ihm war zum Weinen zumute, “vielleicht genügt Dir erst einmal der Ochse. Danach - wir werden schon sehen.”
Die Kreatur dachte nach. “Das nützt mir nichts”, sagte sie, “ich nähre mich von Blut, Hass und Gewalt. Du bietest mir freiwillig eine Gabe an und bist frei von Angst. Dein Ochse würde mich nicht nähren. Ich wäre nicht einmal in der Lage, ihn zu verzehren. Ausserdem schmeckt er bestimmt scheusslich.” Dem Mann flossen die Tränen vor Erleichterung, denn er und der Ochse hatten einander sehr lieb. “Dann komm einfach mit mit mir” sagte er, werden schon sehen, wie es weitergeht.” “Du bist der erste Mensch, der nach mir fragt”, sagte die Kreatur und seine Stimme bekam den Anflug von Furcht. “Ich werde Dir folgen.” “Bitte, bleib hinter mir”, sagte der Mann, ich werde die Binde von meinen Augen nehmen müssen, sonst finde ich den Weg nicht nach Hause”. “Ja”, sagte die Kreatur.

Der Mann drehte sich um, nahm die Binde von den Augen, setzte sich die Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern auf und dann machten sich alle drei auf den Weg nach Hause. Um neue Verwüstungen zu vermeiden, führte der Mann die kleine Gruppe die gleiche Spur zurück auf der er gekommen war. So gingen sie dahin, der Mann, der Ochse und die Kreatur.

“Alles ist tot”, sagte irgendwann die Kreatur.
“Ja”, sagte der Mann.
“Warum?” fragte die Kreatur.
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Er hatte sich an den Gestank inzwischen gewöhnt und an die Hässlichkeit der Stimme. Und er hatte vergessen, wie furchterrregend die Kreatur war und auch seine Befürchtung, bei ihrem Anblick zu sterben. So sah er die Kreatur nun zum ersten Mal, gross, dunkel und fürchterlich, mit bösen Augen. Und er starb nicht. Denn es geschah, dass auch die Kreatur sich selber zum ersten Mal sah - in den verspiegelten Gläsern der Sonnenbrille - und zu zittern begann.
“Du hast das getan”, sagte der Mann, seine Augen fest in die bösen der Kreatur gerichtet, “weil Du so gemacht wurdest. Ich glaube, Du wurdest geboren aus unseren Vorstellungen heraus, unseren Ängsten, Vorurteilen, unserem Zorn. An all dem hier”, und sein Arm holte weit aus, “sind wir Menschen schuld. Du nicht. Du wurdest von uns so gemacht.”
“Ich sehe schrecklich aus”, sagte die Kreatur, “ich bin unvorstellbar schrecklich und nichts, was ich tat, ist so schrecklich wie ich selber.”
“Das mag angehen”, sagte der Mann.
Die Kreatur trat näher, bis dem Mann der Atem stehen blieb vor dem Gestank. “Dann sei Ihr schrecklich”, sagte die Kreatur, Ihr müsst fürchterlich sein, wenn Ihr in der Lage seid, etwas wie mich zu erschaffen.”
“Das stimmt”, sagte der Mann traurig.
“Und”, fügte die Kreatur hinzu, “Ihr seid mächtiger, viel mächtiger, als ich dachte.”
“Du irrst”, sagte der Mann und lächelte traurig, “ich wünschte Du wärest geboren worden aus Macht.
Aber Du bist geboren worden aus Hilflosigkeit, Ohnmacht und nackter Gewalt. Und Dummheit.”
“Ich bin unschuldig?” fragte die Kreatur.
“Du bist nicht schuld”, bestätigte der Mann.
“Dann darf ich weiterleben von Eurer Boshaftigkeit und Gemeinheit?”
“Nein”, sagte der Mann, “das geht nicht. Sonst vernichtest Du erst uns, dann unseren Planeten und zuletzt Dich selber. Denn wovon willst Du leben, wenn es nichts mehr gibt?”
“Oh”, sagte die Kreatur.
“Kannst Du mich durch diese Brille hindurch sehen?” fragte sie dann.
“Ja”, sagte der Mann, ”die Abendsonne blendet mich. Aber wenn du Dich noch weiter betrachten willst, kann ich Dir etwas anderes geben.” Und er zog den Spiegel aus dem Beutel, überreichte ihn der Kreatur, drehte sich um, und sie zogen weiter ihres Weges. Ab und zu drehte sich der Mann um, und jedes Mal sah er, wie die Kreatur sich im Spiegel betrachtete. Sie hielte den Spiegel vor das Gesicht und studierte jeden einzelnen Zug darin sorgfältig.” “Zu Hause habe ich noch einen, der ist so gross wie ich”, sagte der Mann, “da kannst Du Dich noch besser sehen.”
“Ihr seid böse”, war die Antwort.
“Das ist wahr”, sagte der Mann, “das ist leider wahr.”
Und so zogen sie weiter. “Es hat sich selber noch nie gesehen”, dachte der Mann kummervoll bei sich selber, “es ist geboren aus Hass und wusste bislang nichts davon.”

Irgendwann blieb der Mann zögerlich stehen.
“Weshalb bleibst Du stehen?” fragte die Kreatur.
“Weil wir in der Nähe meines Dorfes sind”, sagte der Mann, “siehst du, ab hier blüht und grünt noch alles.”
“Dann werde ich es zerstören.”
“Lebst Du wirklich von den Gefühlen der Menschen?” fragte der Mann.
“Ja, von ihrem Hass, ihrer Angst, ihrer Niedertracht”, sagte die Kreatur.
“Die Menschen in meinem Dorf werden Dich fürchten”, sagte der Mann.
“Weil ich so schrecklich bin?” fragte die Kreatur.
“Weil sie dumm sind”, sagte der Mann, “und nicht wissen, dass, wenn sie Dich sehen, sie sich selber sehen. Sie fürchten sich vor sich selber und wissen es nicht.
Trotzdem liebe ich sie und will sie nicht tot sehen oder Schlimmeres. Denn sie sind nicht nur böse, weißt Du, sie sind auch sehr hilflos, ein wenig wie Kinder.” Die Kreatur sah ihn lange an. “Bist Du sicher”, fragte sie, “dass sie Deine Zuneigung verdienen?” “Nein”, sagte der Mann, “das bin ich nicht. Aber wer verdient Zuneigung schon …”
Die Kreatur lachte leise und zum ersten Mal schwang so etwas wie Humor darin mit.
“Du hast mir Gutes getan”, sagte sie, “Du hast mir erklärt, wer ich bin. Du hast mir gesagt, wer Schuld hat und wer nicht. Du bist zu mir gekommen als einziger und erster. Gibt es noch andere wie Dich?” “Ja”, sagte der Mann, “sicher.”
“Ich will Dir nicht schaden”, sagte die Kreatur, “denn Du warst gut zu mir; trotz allem. Ich mache Dir einen Vorschlag.” “Ich höre”, sagte der Mann.
“Du gehst”, sagte die Kreatur, “alleine weiter mit Deinem Ochsen und ich ziehe weiter meiner Wege. Ich weiss jetzt, woraus ich geschaffen bin. Wir werden sehen, ob das etwas ändert. Und Du, mein Freund, der einzige, den ich habe auf der Welt, magst mich rufen, wenn Du dieses Leben einmal leid hast. Ich werde Dir dann helfen es zu verlassen, so sanft ich es vermag.”
“Das verspreche ich Dir”, sagte der Mann, “Wie heisst Du?”
“Wie nennt Ihr mich?”, fragte die Kreatur.
”Wir nennen Dich ‚die Kreatur’”, sagte der Mann.
“Dann werde ich darauf hören, wenn du mich so rufst. Ich werde die Kreatur in Euch allen sein.” “Behalte den Spiegel”, sagte der Mann, “Als Geschenk und als Erinnerung; und damit Du daran denkst, dass, wer dich sieht, nur das Schlimmste in sich selbst erblickt.” “Ich werde daran denken”, sagte die Kreatur, “und jeden, der mich anzusehen bereit ist, werde ich verschonen und als Freund betrachten.” Sie blinzelte in die Sonne und ein leichtes Lächeln, das erste, erschien auf ihrem Gesicht. “Vielleicht wird sich vieles nun ändern”, fuhr sie fort.
“Du hast mir ein Geschenk gemacht”, sagte die Kreatur weiterhin.

“Zum ersten Mal seit Urzeiten hat mich jemand zu sich nach Hause eingeladen.
Zum ersten Mal seit Urzeiten nenne ich jemanden ‚Freund’.
Zum ersten Mal, seit Urzeiten, hat mir jemand ein Geschenk gemacht.
Ich habe auch eines für Dich.”
Die Kreatur griff in sich hinein und holte aus seinem Bauch kleine Körner heraus, die in der Sonne glitzerten.
Sie übereichte sie dem Mann, der sie eingehend betrachtete.
Und den Mann mit dem liebenden Herzen und dem einfachen Gemüt überkam eine Grösse, von der er bislang nicht wusste, dass sie in ihm geschlummert hatte.
Er sah die Kreatur an und seine Stimme zitterte vor Tränen, als er sagte: “Du spiegelst uns wider das Schrecklichste, was in uns wohnt. Und Du birgst in Deinem Inneren das Beste, was ein jeder Mensch in sich trägt. Diese Körner sind zusammengesetzt aus Liebe, Mitgefühl, Hoffnung, Glauben, von allem ein wenig. Was bist Du nur für ein erstaunliches Geschöpf! Säe sie aus, und Du tust Gutes.”
Die Kreatur schüttelte den Kopf. “Ich bin nicht erschaffen worden um Gutes zu tun. Sieh her”, sie nahm ein Korn und lies es auf die Erde fallen. Und noch bevor das Korn dei Erde berührte, zerfiel es zu Staub. “Ich habe es schon versucht”, weißt Du”, sagte sie.

Und so kam es, dass der Mann neue Gewohnheiten annahm, die seine Freunde aus dem Dorf bislang noch nicht von ihm kannten. Jeden Herbst verschloss er sein Haus, nahm den Ochsen und blieb fort, bis der Frühling wieder kam.

Was genau er tat, weiss ich nicht, das hat mir die Kreatur nicht anvertraut.
Aber sicher ist, dass sie sich trafen. Sicher ist auch, dass der Mann die Samen, die die Kreatur ihm reichte, aussäte an den verwüstetsten Stellen der Erde. Und wo immer ein Körnchen hinfiel, wuchs Gras, die Luft wurde weicher und die Sonne schien häufiger als zuvor.

Es gab noch andere Menschen, wie diesen Mann, und die Kreatur traf auch sie. Und sie hielt ihr Versprechen, die zu verschonen, die bereit waren ihren Anblick zu ertragen. Und einigen von ihnen vertraut sie die Samen an und sie werden ausgesät bis heute.

Und immer, wenn der Lebensabend eines von ihnen kommt, erscheint die Kreatur und hilft ihnen sanft hinüber.
Und wer genau hinsieht, sieht die Sehnsucht in den Augen der Kreatur.
Aber sie muss noch bleiben. Sie bleibt, bis auch der letzte Mensch gegangen ist.

* * * * *