Flucht © copyright Ruth Durga, 2003 Und die Liebe blickte mich an und sprach zu mir. “Sieh her!“ Und ich sah in ihre Augen und schaute und sah: Ein Strom von Flüchtlingen, Männer, Frauen und Kinder, ich selbst war mitten dabei, eine Alte, nur noch Haut und Knochen, fast ein Skelett. So schoben wir uns vorwärts. Die Luft war voll von Schweiss, Urin, Erbrochenem und Angst - vor allem von Angst. Und ich sah mich um und hörte das Rufen und Schreien, Kinder nach den Müttern und Vätern, Eltern nach ihren verlorenen Kindern. Ich sah Kleinkinder wandern mutterseelenallein mit versteinerten Augen. Eine Frau war dabei, die trug einen alten Mann, der nur mehr Knochen war, auf ihrem Rücken mit sich herum, und ich wusste: sie hatte keine Vorräte mitnehmen können wegen ihm, den sie liebte. Und ich wusste, sie würden beide verhungern. Und eine Familie sah ich, die auf ihrem Esel schleppten und ihren schmalen Rücken, was sie nur konnten: Salz und Brot, Säcke voll Mehl, Fernsehapparat, Stühle und Kisten mit Bier, und ich wusste, sie hatten ihre Kranken zu Hause gelassen um selbst eine Chance zu haben. Sie mochten sie haben, aber, oh, um welchen Preis. Ihr Sohn war unter denen, die sie zurückgelassen hatten und die Urahn, die Führerin. Einen kleinen Jungen, etwa 5 Jahre, sah ich mit seinen beiden Schwestern, eine war jünger als er, die andere wesentlich älter. Die ältere Schwester tat, wie die jüngere, klaglos, was der kleine Bruder befahl. Er war der einzig übrig gebliebene Mann und musste sorgen für alle. Und ich sah die Last in seinen Augen: Er konnte sie nicht am Leben erhalten, er wusste nicht wie und musste es doch. Er war der Mann. Eine alte Frau sah ich, die ihr Enkelkind mit sich herumtrug, das krank war und hungrig und brüllte nach Milch. Zwei andere Kinder noch begleiteten sie. Und eine Frau, deren Baby soeben verstorben war, bot sich und die Brust an als Nahrung für das Kleine, und die Alte strahlte vor Glück - bis sie den Preis hörte für diese Milch: eines der Kinder forderte die Frau ein für sich als Ersatz für das Verlorene, und damit jemand da war, der Holz holte und sorgte fürs Essen. Ein junges Mädchen sah ich, kaum 15 Jahre alt. Sie trug ein Kind auf dem Arm und war schwanger mit dem nächsten. Ich sah ich schimpfen und streiten mit einem Alten: er war ihr Mann und er kümmerte sich nicht. So gingen wir alle dahin, schleppten uns mühsam vorwärts und hatten selbst keine Hoffnung. Und die Liebe sagte zu mir: Sag’ ihre Worte. Sing ihre Klage. Sprich ihre Sprache. Rede für die, die keine Sprache mehr haben. Sie die Zunge für jene, denen man sie genommen hat.
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