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Der goldene Katzenmann und die Rubinrosenfrau

© copyright Ruth Durga, 2003


 

Der Katzenmann lag auf der Wiese. Lang ausgestreckt boten sich die geschmeidigen Glieder dem Sonnenlicht dar. Der Mann lag auf dieser Wiese, genoss die Sonne auf seiner Haut und dachte an gar nichts. Und so schlief er ein.
Als er wieder erwachte, schien die Sonne noch immer, es war heller Tag und nicht eine Stunde schien vergangen zu sein. Aber etwas war anders. Der Goldene Katzenmann räkelte sich etwas und sah sich um. Der Rosenbusch! War der Rosenbusch vorher schon da gewesen? Er erinnerte sich nicht. Er stand auf und ging auf ihn zu; er ging so leicht, dass das Spiel seiner Muskeln unter seiner Haut völlig überflüssig, aber sehr genüsslich wirkte.

Die Rosen standen in voller Blüte, es waren die grössten Blüten, die er jemals an einem Busch gesehen hatte, rubinrot schimmerten sie in der Sonne wie weich glitzernder Samt. Er streckte seine Hand aus, um eine der Blüten zu liebkosen, da glaubte er ein Raunen zu hören. „Tabu!“ war das Wort, das aus dem Busch ihm entgegenhauchte. Er zog seine Hand zurück, verblüfft, denn sprechende Blumen kannte er nicht. Erneut streckte er seine Finger aus und wieder kam ihm der ernsthafte Hauch „Tabu!“ entgegen. Er lachte leise. Er liebte Blumen und hatte grosses Vertrauen, dass alles Kreatürliche sich auch verstehen müsste. Das „Tabu!“ nahm er nicht ernst, konnten doch Pflanzen nicht sprechen und war doch alles, was schön war, einander Quelle zur Freude. Er berührte ein Blütenblatt und zog seine Hand erschrocken zurück - diese Blütenblätter waren nicht weich. Sie glitzerten in der Sonne wie weichster Samt oder feinste Seide, und doch war seine Hand auf schieres, hartes Material getroffen - und ausserdem hatte er sich gestochen. Seine Hand blutete und erneut raunte ihm der Busch entgegen „Tabu!“. Der Goldene Katzenmann machte mit einem Mal Augen wie ein kleiner Junge und lutschte an seiner verletzten Hand.

Als er sich innerlich wieder beruhigt hatte, ging er um diese merkwürdigen Rosen herum und betrachtete sie sehr eingehend. Sie waren so schön, dass es ihm ans Herz griff. Die einzelnen Blütenblätter waren so fein und dünn, dass die Sonne durch sie hindurchschien und sie rosé-violett aufleuchten liess. Er war entzückt - aber er war auch vorsichtig geworden. „Tabu!“, dieses Wort ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wer order was war „Tabu“? Und warum verletzte es ihn?

Langsam zog die Dämmerung herein und noch immer erfreute sich der Goldene Kazenmann an dem Farbenspiel der Blüten, dass sich je nach dem Sonnenstand, veränderte. Er wurde müde. Träge liess er sich unter den grossen Busch gleiten, besah sie die Blütenpracht noch einwenig von unten, ganz schwarz wurden die Blüten, je dunkler es wurde. Aber sie verloren nicht ihr Glitzern. Jetzt, in völliger Dunkelheit, schien ein kleines, goldenes Sprühen von diesen Blüten auszugehen. Das war noch das Letzte, was er bemerkte, bevor er einschlief.

Als er erneut erwachte, war es tiefdunkle Nacht. Der Mond schien silbern am Himmel und tauchte die Umgebung in ein sanftes, bergendes Schimmern.
Und er lag nicht mehr unter dem Rosenbusch. Nein, das stimmte nicht ganz - er lag immer noch dort, wo er sich zuvor hingelegt hatte, aber der Rosenbusch war nicht mehr dort.
Stattdessen kauerte neben ihm eine Frau - und soweit er es in der Dunkelheit beurteilen konnte, hatte er noch niemals eine schönere gesehen. Von ihrer Haut schien ein feines, goldenes Schimmern auszugehen. Sie trug ein Kleid, er dachte es müsse ein rotes sein, aber er konnte es nicht genau erkennen. Das einzige, dessen er sich sicher war, war, dass es sich um ein so feines Material handeln müsste, dass es bei Tageslicht sicherlich durchsichtig wäre. Die Haare der Frau waren lang und schwarz und wenn sie den Kopf bewegte, sprühten goldene Funken aus ihrer Haarpracht, wie kleine Glühwürmchen. Sie sah in an, und er wurde etwas verlegen. Da hatte er sie die ganze Zeit mit offenem Mund angeschaut und sie hatte es gemerkt. „Tabu!“ sagte sie, und es war wieder das Raunen aus dem Rosenbusch, nur klarer jetzt und deutlich.
„Tabu?“ fragte der Goldene Sonnenmann, „Was ist Tabu?“
„Ich bin ‚Tabu’“, sagte sie, „ich heisse so.“
„Und warum hast Du mich verletzt?“ die alte Empörung fiel ihm wieder ein.
Sie kicherte, und als er sah, wie sich ihr Gesicht so fröhlich veränderte, war es, als ginge die Sonne auf mitten in der Nacht, so voller Strahlen war es. „Du bist etwas empfindlich, oder?“ Sie wurde wieder ernst und mit ihrer Ernsthaftigkeit kehrte die Nacht wieder zurück. „Weil ich Tabu bin. Ich heisse nicht nur so.“
„Und was bedeutet das?“
„Das bedeutet, Du darfst mich nicht berühren. Es bedeutet, Du darfst mich nicht anfassen.“
Er war so überrascht, dass er ein etwas dümmliches Gesicht machte. „Warum?“
Ihr Gesicht zog sich in sich selber zurück bis es fast nicht mehr zu sehen war in der Schwärze der Nacht. „Weil es so ist. Das ist meine Natur.“ Sie sah ihn an und Sehnsucht leuchtete aus ihren Augen. „Und es bedeutet auch, dass ich Dich niemals anfassen darf.“ Sie senkte ihre Augenlider, und er konnte ihr Gesicht nicht mehr deuten. Aber die Stimme war ihm traurig vorgekommen.
Als sie ihn wieder ansah, schimmerten Tränen in ihren Augen.
„Wieso bist Du jetzt ein Mensch?“ fiel es ihm plötzlich ein.
Und wieder glitt dieses Lächeln über ihr Gesicht, dass die Nacht so hell machte. „Eine Frau“, sagte sie, “ich bin eine Frau. Und“, und wieder wurde sie ernst und die Nacht etwas dunkler, „ich bin nur während der Nacht eine Frau. Des Tags bin ich ein Rosenbusch. Es gibt einige von uns, nur wenige, aber es gibt uns. Und ganz, ganz selten entdeckt uns ein Mann.“ Sie sah ihm nun voll ins Gesicht, und er konnte ihre Augen leuchten sehen. Eigentlich konnte er nur ihre Augen sehen, alles andere ging unter in deren Leuchten. „Wir haben eine Gabe glücklich zu machen“, sagte sie, „aber der Preis ist, dass wir unberührbar sind.“
„Was geschieht denn, wenn man Euch anfasst?“ wollte der Goldene Katzenmann jetzt wissen.
„Das hast Du gesehen. Wir verletzen. Wir können das nicht ändern. Es ist unsere Natur. Und das bedeutet ’Tabu’.“ Jetzt verstand er.

Da stand er vor der schönsten Frau, die er jemals gesehen hatte, alles an ihr schien zu glitzern und zu schimmern, es wurde taghell, wenn sie lachte und schwarze Nacht, wenn sie ernst oder betrübt war. Und er durfte sie nicht berühren, wenn er nicht verletzt werden wollte.
„Und da gibt es keinen Weg hinaus?“ fragte er, „da kann man gar nichts tun?“ Er war zu allem bereit, er hätte Heldentaten vollbringen wollen, nur um Tabu ein einziges Mal berühren zu können.
„Nein!“ sagte sie, und die Traurigkeit in ihren Augen schnitt ihm ins Herz.
„Weißt Du“, sagte sie, „selten nur entdeckt uns jemand. Und noch seltener kommt es vor, dass er eine von uns so schön findet, dass er unter ihr einschlafen mag.“ Sie schnitt eine kleine, traurige Grimasse. „Du bist schön, weißt Du das? Es hat mir Spass gemacht, Dir beim Schlafen zuzusehen. Noch nie habe ich eine so goldenen Haut gesehen“. Sie strahlte ihn an, „und Du bewegst dich auch so schön.“

Er wurde sehr traurig. Das also war eine Frau. Er kannte bislang nur Frauen wie seine Mutter oder seine Schwester - und natürlich die Freundinnen seiner Mutter und seiner Schwester. Aber sie alle konnte er berühren. Diese hier, die einzige, die er anfassen wollte, durfte er nicht berühren.
„Bist Du ein Mensch?“ Die Frage kam ihm dumm vor, aber er musste sie stellen.
„Nein“, sie schüttelte den Kopf, und wieder stoben goldene Funken aus ihrem Haar. „Nein, wir sind nur und ausschliesslich Frauen. Die menschliche Rasse kam erst sehr viel später nach uns.“

Es fiel ihm etwas ein, was sie lange vorher gesagt haben musste …. Es war etwas über das Glück. Er runzelte die Stirn.
„Wir haben die Gabe, glücklich zu machen.“ Sie wiederholte den Satz, als habe sie seine Gedanken gelesen.
„Wie?“ fragte er.
Sie zögerte mit der Antwort. Wenn sie ihn falsch eingeschätzt hatte, bedeutete diese Antwort ihren Tod. „Bleibe bei mir“, sagte sie. „Bleibe drei Tage und drei Nächte und in der dritten Nacht werde ich es Dir sagen. Und nun schliesse bitte die Augen.“

Er tat, was sie ihm sagte. Es war schon etwas heller geworden, die Nacht nicht mehr ganz so dunkel. Und so stand er mit geschlossenen Augen, spürte den Wind auf seiner Haut und leichten Rosenduft. Wie schön sie doch war….. Als er lange genug so gestanden hatte, fragte er: „Kann ich die Augen wieder aufmachen?“ Er erhielt keine Antwort, nur ein leichtes Rauschen drang an sein Ohr. Er öffnete seine Augen - es war hellerlichter Tag, die Sonne schien und der Rosenbusch stand dort, als hätte es diese Nacht nicht gegeben.

Er hielt sein Versprechen. Er blieb drei Tage und drei Nächte. Des Tags wachte er über die Rosen und verscheuchte alles Getier, was sich ihm nähern wollte, unsicher, welche Tiere wohl für sie (er nannte den Rosenbusch immer „sie“ - er konnte nichts anderes in ihm sehen als die Frau) gefährlich sein mochten, und welche nicht. Wenn die Sonne allzu sehr brannte ging er Wasser holen und goss die Erde rings um sie herum.

Und des Nachts hielten sie lange Gespräche. Er erzählte ihr von seiner Familie, seinem Leben, seinen Wünschen (da wurde er immer traurig, denn er wünschte sich sie, nur sie) und sie erzählte ihm von ihrer Art, von ihrer Wahrnehmung der Welt. Er lernte viel von ihr. Er wusste nicht, wie eine Frau so klug sein konnte, die ihr Leben lang an einem einzigen Platz stand und nur des Nachts sich in menschliche Gestalt begab. Und er erfuhr, dass sie das normalerweise gar nicht tat. Sie hatte ihn gern gemocht und hatte sich ihm deshalb gezeigt.

Und er liebte sie, je mehr er sie kennen lernte. Die Nächte waren taghell, denn sie strahlte wie die Sonne bei Tage. Und dann kam die dritte Nacht. Es war die letzte, um die sie ihn gebeten hatte, und er war sehr gespannt - und auch traurig - was nun wohl kommen würde. Inzwischen hatte er sich an das erstaunliche Schauspiel gewöhnt, sie sich in einen Rosenbusch oder wieder in eine Frau verwandeln zu sehen. Jedesmal schien es wie Nebel vor seinen Augen aufzusteigen oder wie ein Schleier um ihn herum zu sein. Die Luft flirrte, dann funkelte Goldgeglitzer, dass er gar nichts mehr sehen konnte, und dann war es vollbracht. Dann war sie entweder ein Busch oder eine Frau.

Jetzt, in der dritten Nacht, hielt sie etwas in ihren Händen - ein Blütenblatt von einer ihrer Blüten. Und er entdeckte Blut an ihrer Schulter, dort, wo sie es sich vermutlich ausgezupft hatte. Sie legte ihm dieses Blütenblatt in die Hand. Erstaunt stellte er fest, dass es aus sehr festem Material war, auch wenn es so fein war, dass er hindurchblicken konnte, sogar im Mondlicht. Sie beobachtete ihn. „Es ist für Menschen sehr wertvoll“, sagte sie, „Sie stellen sogar Schmuck daraus her.“ Ein Ring seiner Mutter fiel ihm ein, darin ein Stein eingefasst war, exakt in der Farbe dieses Blütenblattes. „Rubin“, sagte er erstaunt, „es ist Rubin.“ Sie nickte. „Dieses Wort habe ich sagen hören, aber ich weiss nicht, was es bedeutet.“ - „Es bedeutet“ - er stockte, denn jetzt erst wurde ihm klar, was es bedeutete. Er sah sie an. „Es bedeutet, dass Du in Gefahr bist. Sie werden die Rosen vernichten und Dich töten, wenn sie das erfahren.“ Sie nickte. „Ich weiss. Deshalb konnte ich es Dir auch nicht sofort sagen. Ich musste Dich erst kennen lernen. Du hast gut für mich gesorgt. Du hast gemerkt, welche Tiere schädlich für mich waren, und welche nicht. Du hast mir Wasser gebracht und mit mir geredet, auch wenn ich dir nicht antworten konnte. Und Du hast nie wieder versucht mich zu berühren. Deshalb vertraue ich Dir.

Baue ein Haus hier. Das Land gehört, soweit ich weiss, niemandem. Heirate eine Frau - mach Dir keine Sorge, Du wirst sie lieben und sehr glücklich mit ihr sein - und sorge weiterhin für mich. Dafür darfst Du alle Blüten und Blütenblätter aufsammeln, die ich verliere. Mit jeder Blüte, die kommt und mit jedem neuen Trieb, verliere ich einige Blüten, die darfst Du aufsammeln und verkaufen. Sage, Du habest sie selber hergestellt, dann wird niemand Verdacht schöpfen. Und wir können für immer zusammen sein.“ Sie sah ihn etwas ängstlich an. Sie hatte sich in ihn verliebt. Er war so stark und so liebevoll, seine Bewegungen anzusehen waren die reinste Freude und seine Augen waren wie der Sommerhimmel selber: strahlend blau.

Und er baute das Haus. Er bezweifelte, sich jemals in eine andere Frau verlieben zu können, aber er baute das Haus. Und nachts genossen sie einander in endlosen Gesprächen und lustigem Gelächter.
Einige Dörfler, die den goldenen Katzenmann schätzten wegen seiner ruhigen, humorvollen Art, und weil er noch niemals irgendjemandem etwas zu leide getan hatte, kamen um zu helfen. Unter ihnen war auch die Tochter der Spinnerin. Die Spinnerin war berühmt für ihre feine Ware und wusste immer die schönsten Geschichten zu erzählen.
Friedmarie, die Tochter, war nicht besonders schön, aber warmherzig, herzlich und freundlich, und es schien ihm, als sei irgendetwas Besonderes an ihr, das man nicht auf den ersten Blick sah, aber das zu entdecken ihm ungeheuer wichtig wurde - warum, wusste er selber nicht so recht. Und so verbrachte er immer mehr Zeit mir ihr, und der Rosenbusch bemerkte dies wohl. Und je besser er Friedmarie kennen lernte, desto mehr wuchs sie ihm ans Herz.
Und nach einiger Zeit, das Haus war schon fast fertig, hatten sich die beiden ineinander verliebt.
Sie zogen gemeinsam in das schöne Haus, Freunde kamen und gingen, es war ein ständiges Ein und Aus - denn sie waren ein liebenswertes Paar, der Goldene Katzenmann und Friedmarie, und jedermann fühlte sich wohl bei ihnen.

Allein des Nachts, wenn alles schlief, stand er, der Goldenen Katzenmann auf und ging in den Garten. Seine Frau wusste dies wohl, aber sie hütete sich, ihn zu fragen, was er dort machte - denn, und das war das Besondere an ihr - sie war eine kluge Frau und wusste, dass das Herz ihres Mannes Geheimnisse barg. Und sie rührte niemals daran.

Er sammelt unauffällig die abgefallenen Blüten und Blütenblätter und verkaufte sie ab und zu, wenn sie Geld brauchten, oder bei Freunden die Not ausgebrochen war.

Mit Tabu besprach er alles, sie verfolgte sein Leben und gab ihm hin und wieder klugen Rat. Und ihre Liebe hielt während seines ganzen Lebens.
Eines Tages, Friedmarie und er waren schon alt, wurde seine Frau krank und irgendwann starb sie. Er lebte noch ein Weilchen allein in seinem Haus und pflegte seinen Rosenbusch, doch irgendwann starb auch er.

Und als die Leute anfingen, den Haushalt aufzulösen und die Dinge, die nun herrenlos waren, unter sich aufzuteilen oder in den Müll zu geben, bemerkte niemand von ihnen, dass der Rosenbusch, den der Goldene Katzenmann sein Leben lang gehegt und gepflegt hatte, wie andere ihre junge Geliebte, einfach verschwunden war.

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