Die Norne(Urd erzählt)
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Eine ältliche Frau geht schnell durch den Wald. Dieser Abschnitt des Waldes ist gefährlich, sie muss sich beeilen - sie ist erst in Sicherheit, wenn sie den Heiligen Hain erreicht hat. Das Messer, dass sie an der Seite trägt, immer, beruhigt sie etwas.
Und dann kommt sie an am Hain - die anderen sind schon da: Odin und ein junger, nackter Mann - und noch viele andere, die aber nur Nebenrollen oder gar keine spielen werden.
Und da ist der Baum. Der alte Urd-Baum. Er hiess schon so, bevor sie die Hohepriesterin wurde. Es ist ein merkwürdiger Baum, von dem man merkwürdige Geschichten erzählt.
Der junge Mann steht unter Drogen. Er wird hochgehoben und an den Baum gebunden. Da hängt er nun. Er wird geweiht werden zum gehörnten Gott. Das Geweih trägt er schon. Aber vorher muss er sich mit der Erde verbinden. Und die alte Priesterin tritt zu ihm, zieht ihr Messer und beginnt Linien in den Körper zu ritzen - teilweise tiefe Linien: am ganzen Körper, Arme, Beine, Brust und Bauch, Schambereich. Und das Blut fliesst in Strömen zur Erde. Es sieht schlimmer aus, als es ist - sie weiss genau, was sie tut, wie tief sie schneiden kann und sie verletzt nichts Wesentliches.
Der junge Mann stöhnt. Es tut weh - aber die Drogen dämpfen das Schlimmste. Später werden Narben zurück bleiben, die noch tätowiert werden müssen. Ein Körper voller blauer alter Zeichen und Linien. Nur so wird er das Vertrauen dieses Landes besitzen können. Nur so.
Zwischen durch kommt eine junge, sehr schöne Frau und gibt ihm zu trinken. Sie ist ganz in Weiss gekleidet und wird für immer in seinem Unterbewussten das Bild der Göttin prägen: strahlend vor Schönheit und Güte und ihn nährend.
Das Blut tropft auf den Boden. Die in den Körper gezeichneten Linien werden zu Lichtlinien. Und indem das Blut auf die Erde tropft verbinden sich die Lichtlinien des männlichen Körpers mit den Lichtlinien der Erde. Nur sehr wenige wissen, dass es diese Linien gibt. Sie nähren das Land und die Menschen.
Und als er dort so hängt, das Bewusstsein ausgeschaltet vor Schmerz und Drogen, beginnt die Hohepriesterin ihn zu lehren. Und was sie sagt, flüstert, raunt, dringt direkt in sein Unterbewusstes ein und wird für immer dort “festgenagelt” sein.
Teilweise hänge auch ich selber dort am Baum, aber als Frau (ich sehe und fühle meine Brüste). Und ich bin blendend hell und weiss, fast wie Schnee hänge ich dort, im Unterschied zu ihm, der sich kaum gegen den Baumstamm abhebt, so voller Blut ist er.
Aber vielleicht liegt es auch nicht am Blut. Er hat rein weisse Haut und hebt sich dennoch nicht sehr ab vom Baum. Und er wird:
er selber, der Baum und die Erde.
Dann nimmt die alte Priesterin einen Speer und stösst ihn in die Nähe des Herzens. Und ein dicker Blutstrahl spritzt heraus. Der Mann muss sich beherrschen. Dies tut nun wirklich weh.
Und das Blut strömt aus dem Herzen und strömt und strömt.
Irgendwann blitzt an derselben Stelle ein Licht auf und wird zur Sonne. Und eine strahlend helle Sonne erscheint auf seiner Brust.
Dies ist das Zeichen. Die Menschen jubeln. Das passiert nicht bei jeder Initiation. Er hat es geschafft. Diese Sonne ist der Beweis, dass er der Gehörnte (1) sein kann und wird. Und er wird für den gesamten Rest seines Lebens beides behalten:
Die Wunde/den Schmerz und die Sonne/das Strahlen im Herzen.
Alle glauben, die Linien seien die Male, mit denen der Gehörnte gezeichnet wird. Aber das stimmt nicht.
Das Mal ist die Wunde im Herzen. Das wissen nur wenige.
Und dann verbinde ich mich mit ihm. Ob mir auch Linien gezeichnet worden sind, weiss ich nicht. Aber ich steige hinauf zu ihm und presse meinen blendend-weissen Körper an seinen - und es vermischen sich die Lichtadern von ihm und von mir.
Ich fühle sein Geschlecht zwischen meinen Beinen. Aber dies ist nicht für mich. Ich bleibe verschlossen.
Was immer aus ihm herausströmt, gehört der Erde, gehört dem Land.
Jetzt, noch in diesem Moment ist “Land” das schiere Erdreich, in das er hineinblutet. Etwas später, wenn er wieder bei Bewusstsein ist und gekrönt, wird “Land” sein ein begrenztes Gebiet, für das er verantwortlich ist. Und noch später, wenn er alt geworden ist und sich selber nicht mehr so wichtig nimmt, wird “Land” sein jedes Stückchen Boden, auf den irgendein Mensch seinen Fuss setzt, irgendwo auf der Welt.
Und es wird sein Heiliges Land.
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1) "der Gehörnte": darunter wird Freyr verstanden, der germanische Fruchtbarkeitsgott.
Siehe: Voenix: "Der germanische Götterhimmel", Arun Verlag 2003, ISBN 3-935581-32-7
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