Die Mutter

©right; copyright @ Durga, 2004



Wir standen in weissem Raum, Han Shan rechts, der Lehrer im Ritualgewand links von mir. Hinter mir stand, mich zu stützen, Guru Ananda. Und das Weiss bewegte sich, und es formte sich etwas - ich sah nur den Saum des Kleides, zuerst. „Die Göttliche Mutter!“ hörte ich, und Han Shan mahnte mich zur Geduld. „Dies kann jetzt lange dauern“, sagte er, und so war es. Es entstand aus dem Weiss eine Bewegung, jemand ging direkt auf mich zu, endlose Zeiten und hielt dennoch den Abstand stets gleich. Zuerst war der Saum da des Kleides, das wogte beim Gehen, später die Falten des Rockes, die Brust, der Ausschnitt, der Hals - festestes Gold und tiefstes sternendurchsetztes Blau - und gleichzeitig lichtes Himmelsblau mit Rosa darin. Die Füsse, sie standen auf Halbmond und Lotos zugleich, der Hintergrund Sternenhimmel und Wassergewoge. Das Antlitz der Mutter entstand sehr langsam aus Vielen: Da war Maria , Diana, Durga und Tara - es waren so viele, bis endlich ich sah: Kuan Yin, mit festem, gütigen Antlitz. Und sie begann zu wirken an mir, ich weiss nicht, was sie tat, aber es wurde grün um mich. Ich war nun allein. Grüner Nebel wogte um mich, und auf mich zu glitt die grosse Goldene Kugel, in die ich blickte und sah das Antlitz der Göttin in so vielerlei Gestalt. Mir wurde ganz wirr von den vielen Formen der Mutter.

Da machte ich die Augen auf, die Lehrer waren wieder neben und um mich, und sah vor mir stehen aus Licht die gütige Mutter, es glitt an ihr auf und ab Leben und Liebe und Sein. Aus ihrem Scheitel entsprang Durga in vielerlei Form und verschwand in der Schulter, aus der Stirne trat Dianas Vielschichtigkeit und verschwand in den Falten des Kleides. Aus dem Herzen heraus tanzte Kali, die Dunkle und leuchtete hellauf als Grazie - und das Herz der Göttin pulsierte wie explodierend und setzte frei bei jedem Schlag, den es tat, lebendiges Feuer.
Um den Hals trug die Göttin Geschmeide, jedes Glied daran eine Gottheit selber. Auch die Zacken der Krone Gottheiten waren, die sich bewegten und wanderten und wirkten frei, in dem grenzenlosen Körper aus Licht.

Han Shan stand neben mir und weinte vor Glück und ging ein in das Licht, auch der Lehrer auf meiner anderen Seite. Guru Ananda mochte nicht gehen ohne mich, und zog mich mit sich hinein in das Licht dieser grossen Gestalt, die Viele war und doch Eine.

Und ich sah in der Göttin noch Guru Ananda weiss werden und gross und vergehen - dann war da nichts mehr. Nur Stille. Kein Laut, keine Bewegung, kein Ton, nicht Raum und nicht Zeit. Stille. Sonst nichts. Gar nichts. Ab und zu hatte ich das Gefühl eines Werdens, eines Vergehens, aber von so unendlicher Langsamkeit, dass immer noch Stille war, ganz absolut.

Und ich ging unter darin.

Nach geraumer Zeit gab es mich wieder, und sah ich mich um, und sah den Raum der Stille, wie eine grosse Leere um mich. Es war nicht hell und nicht dunkel - Leere und Stille umgaben in weitem Raum die ich nicht mehr war. Und an den äusserstes Rändern heraus trat ein Leuchten, es kam aus der Leere, der Stille, trat weit daraus hervor.

Und ich verstand:
Der Ursprung von Allem ist Stille.
Der Ursprung der explodierenden Sonne ist Stille.
Der Ursprung tosender Wasserfälle ist Stille.
Der Ursprung von Sternengeburten und -toden ist Stille.
Der Ursprung von rasendem Lauf ist Stille.

Es mag vielleicht auch noch wohnen im Herzen von Lärm, Hetze und Zorn - die Stille.

Und Ananda Moyi Ma nickt mir zu und sagt: „Ja, so ist es. Ganz genau so!“