Der Tod und Johannes Brahms

Zu Brahms' 100. Todestag am 3. April 1997


(mit Empfehlungen zum Hören)

Dr. W. O. Deutsch

1. Einleitung

Am 3. April 1897 hat der Tod Johannes Brahms in Wien in der Karlsgasse eingeholt. Er war ihm lange auf den Fersen gewesen: das Thema "Tod" hat Brahms wie kaum ein anderes (zumindest in seinen großen Chorwerken) beschäftigt (1). Er hat den Tod nicht gefürchtet. Er hat ihn aber auch eigentlich nicht herbeigesehnt. Man hat seine Musik zwar gelegentlich "todessüchtig" genannt (2). Aber das wird man differenzierter sehen müssen, das soll hier versucht werden.

Der Tod hat ihn, als Thema, lange beschäftigt. Es war aber nicht der Tod, der ihm zu schaffen machte, sondern - das Leben. Zur Geburt des Sohnes von Joseph Joachim schreibt er: "Das Beste kann man ihm ja in dem Fall nicht mehr wünschen - nicht geboren werden!" (3) Und in seinen Vier ernsten Gesängen wählt Brahms für eines von ihnen einen Text aus dem Buch Kohelet, in dem es heißt: "Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben hatten." Wir werden darauf später zurück kommen. In einem seiner Briefe an Clara Schumann nach dem Tode Roberts kommt B. zu jener zunächst überraschenden Feststellung, die sein Verhältnis zu Tod und Leben zusammenfasst: "Das Leben raubt einem mehr als der Tod"! (4) Es ist das Leben, das ihm zu schaffen macht, nicht der Tod. Bisweilen hat er Selbstmordgedanken geäußert: 1855/56, als die Beziehung zu Clara Sch. vor und besonders nach Roberts Tod eine leidenschaftliche Zuspitzung erfuhr, die Brahms, selbst gerade 23 Jahre alt, sich mit Goethes Werther vergleichen ließ (5). Aber immer ist er getrieben gewesen von einer Sehnsucht, die in aller seiner Musik spricht: Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen und zugleich nach Freiheit, Sehnsucht nach Anerkennung und Anstellung und zugleich nach freier Verfügung über seine Zeit, Sehnsucht nach festem Ort, nach Ruhe, nach Heimat. Man hat ihn den "Sänger des Heimwehs" genannt (6).

2. Der unbehauste Brahms

Am 7. Mai 1833 in einem ärmlichen Viertel der Hamburger Altstadt geboren, wäre Brahms gern zeit seines Lebens seiner Vaterstadt treu geblieben. Er war ein veritabler Patriot. Sie hat ihn nicht gewollt. In eben dem Jahr 1858, als sein Vater nach langen Jahren endlich als Kontrabassist in das Philharmonische Ochester aufgenommen wird, wird die Bewerbung seines Sohnes Johannes um die Stelle des Kapellmeisters dieses Orchesters abgelehnt. Der Umgang der Stadt Hamburg mit den großen Komponisten hat schon etwas Tragisches: Händel, Bach, Brahms, Mahler - lauter Ablehnungen.

Die Wunde, die Brahms hier geschlagen wurde, war nicht nur die einer verletzten Eitelkeit. Hamburg war Heimat für ihn, die Ablehnung kam fast einem elterlichen Liebesentzug gleich.

"Ich bin kein Kosmopolit", schreibt Brahms an Clara, "sondern ich hänge wie an einer Mutter an meiner Vaterstadt. .... Wie selten findet sich für unsereinen eine bleibende Stätte, wie gern hätte ich sie in der Vaterstadt gefunden. Jetzt hier - er schreibt von Wien aus - wo mich so viel Schönes erfreut, empfinde ich doch, und würde es immer empfinden, daß ich fremd bin und keine Ruhe habe". (7) Er leidet, wie er an anderer Stelle mitteilt, "etwas altmodisch an Heimweh" (8).

Die Suche nach der "bleibenden Stätte" - eines der bleibenden und treibenden Motive im Leben Brahms', der jahrelang eigentlich ohne festen Wohnsitz war! Und es ist ein ambivalentes Motiv: mit der Suche nach Geborgenheit geht einher die Flucht vor Bindung und Seßhaftigkeit, nicht nur in der Beziehung zu Clara Schumann (die Trennung geht von ihm aus!), sondern auch wenig später von der Göttinger Professorentochter Agathe von Siebold, der er, kaum daß sie die Verlobungsringe getauscht hatten, gleich wieder schreibt (1858): Ich liebe Dich! Ich muß Dich wiedersehen! Aber Fesseln tragen kann ich nicht!.... (9)

In zwei seiner großen Werke und einigen seiner Lieder hat Brahms sich mit dem Motiv des Unbehaustseins auseinandergesetzt, und es ist für ihn dort konstitutives Element von Menschsein, also nicht nur Tragik seines persönlichen Lebens. Ich denke hierbei vor allem an die Sätze aus dem Schicksalslied: "Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn" und aus dem Deutschen Requiem: "Denn wir haben hie keine bleibende Statt". Dazu gehört u.a. auch das Lied Kein Haus, keine Heimat (op. 94, nr.5). Da aus dem Deutschen Requiem heute abend noch des öfteren zitiert werden wird, werde ich mich an dieser Stelle den beiden anderen Passagen zuwenden.

Das Schicksalslied, dessen Text Brahms von Hölderlin nimmt, lebt textlich und musikalisch von dem Kontrast zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen droben und unten, zwischen Himmel und Erde. Die Götter: "im Licht, schicksallos, ewig blühend, in stiller ewiger Klarheit". Dagegen die Menschen: "ohne ruhende Stätte, schwindend, fallend, leidend, blind, ins Ungewisse hinab". Brahms verarbeitet diesen Kontrast musikalisch: Die Dimension des Göttlichen, allen Spannungen enthoben, repräsentiert in reinen Schwebeakkorden (Geigen con sordino!) in Es-Dur; der Chor singt den Text wie eine Hymne; davon abgesetzt durch schroffe verminderte Akkorde und heftige abrupte Bewegung in Orchester und Chor die menschliche Dimension: das "Fallen von Klippe zu Klippe", die Ruhelosigkeit, das Geworfensein, die Vergänglichkeit, das "Hinab" des Grabes: alles ist musikalisch zu hören:


Hörbeispiel: Schicksalslied op. 54, Anfang und Mittelteil

Die beiden Welten stehen sich unvermittelt gegenüber, das Göttliche hat nicht teil, nimmt nicht Anteil am menschlichen Ergehen. Der Gott, der nicht leiden kann, leidet auch nicht mit - Brahms hat, das sei an dieser Stelle schon einmal vorwegnehmend gesagt, keine Christologie! Wohl dagegen eine Soteriologie - darüber, und was der Unterschied zwischen beiden ist, später mehr. Hier nur soviel: Brahms geht über Hölderlin hinaus, wenn er sein Werk nicht bei dem "Hinab" des Grabes enden läßt, sondern in der Sphäre der "Himmlischen": dorthin kehrt die Musik wortlos zurück, das ist der Fluchtpunkt der Brahmsschen Sehnsucht: "Ich sage ... eben etwas, was der Dichter nicht sagt", schreibt er dazu in einem Brief (10). Und nicht zufällig überschreibt er die erste Partiturzeile "langsam und sehnsuchtsvoll", "lento e languido".

Dieses eigentümliche Lebensgefühl des Unbehaustseins findet sich ausdrücklich in dem Lied aus op. 94 (1884) wieder:

Kein Haus, keine Heimat,
Kein Weib und kein Kind.
So wirbl' ich, ein Strohhalm,
In Wetter und Wind.

Achten Sie darauf, wie die Unruhe heimatloser Existenz, ihre Gebrochenheit und Bruchstückhaftigkeit von Brahms musikalisch zum Ausdruck gebracht wird. Es ist eines der kürzesten und kältesten Lieder von Brahms: es dauert kaum eine halbe Minute.


Hörbeispiel: Kein Haus, keine Heimat (op. 94, nr. 5)

Zum Lebensgefühl des Unbehaustseins bei Brahms gehört sicher auch, daß er sich als Außenseiter erlebt. Und auch als einsamen Menschen. Neben einer Reihe von Liedern, die dies zum Inhalt haben [z.B. Ich schlich umher (op. 32, 3) oder Feldeinsamkeit (op. 86, 2)], denke ich hierbei an Brahms' Alt-Rhapsodie nach einem Gedicht von Goethe, in dem es u.a. heißt:

Aber abseits wer ist's?
Ins Gebüsch verliert sich der Pfad....
Die Öde verschlingt ihn.
Ach, wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank? .....

Dieses mit einer Vorhaltsdissonanz, also einem unheimlichen Akkord, den man zunächst gar nicht orten, gar nicht einordnen kann, anfangende Werk geht zurück auf eine tiefe Enttäuschung Brahms': Er hatte sich 1869 in die 24jährige Julie Schumann (die dritte Tochter von Robert und Clara) verliebt, hatte aber seine Gefühle wie so oft so vollkommen verborgen (In meinen Tönen spreche ich, sagte er einmal in einem Brief an Clara (11)), daß man im Hause Schumann Julies Verlobung mit einem anderen Mann betreiben konnte, ohne auch nur zu ahnen, was das für Brahms bedeuten würde. Kurz nach der Verlobung überreichte er die Rhapsodie Clara als "seinen Brautgesang" für Julie.

Goethe schließt sein Gedicht mit dem Bild des "Durstenden in der Wüste"; Brahms stellt den Text um und interpretiert ihn damit auf seine Weise neu - und das tut auch seine Musik, die, in Spannung zu der düsteren Eröffnung in c-moll, eine auf Lösung und Versöhnung bedachte Stimmung (Ende in C-Dur) spiegelt. Brahms läßt den Männerchor mit dem an Gott gerichteten Gebet schließen: So erquicke nun sein Herz! Brahms' Einsamkeit war immer die eines Sehnsüchtigen, nicht die eines Verbitterten: (12)


Hörbeispiel: Anfang und Schluß der Alt-Rhapsodie (ab: Ist auf deinem Psalter......)

Brahms' paradoxe Erfahrung von Einsamkeit - nämlich Sehnsucht nach Beziehung und gleichzeitige Flucht vor Bindung - hat er selbst einmal in dem Auspruch zusammen-gefaßt: "Leider bin ich Gott sei Dank immer noch nicht verheiratet!" (13). Brahms schaut gelegentlich sehnsüchtig auf ein gelungenes Familienleben (z.B. Schumanns), weiß aber auch um den Preis: "Es ist ein schönes Glück, Familie zu haben, in enger Verbindung mit Menschen zu leben ... Aber mit wieviel Sorge, wieviel Schmerz (wird) es oft und teuer bezahlt..." , schreibt er ein Jahr vor seinem Tod an Clara (14).

3. Brahms' Umgang mit Bibeltexten

Die Frage, wie Brahms das Thema des Todes religiös angeht und wo insgesamt seine Religiosität zu verorten sei, kann nicht an der Frage vorbei, welchen Stellenwert die Bibel als Urzeugnis christlichen Glaubens für ihn hat. Auch hier beobachten wir eine eigentümliche Ambivalenz: Einerseits bemerkt Brahms - ganz norddeutscher Protestant - wiederholt mit einem gewissen Stolz, daß er täglich in der Bibel lese (15), andererseits aber identifiziert er sich nicht mit den Texten in einem "gläubigen" Sinn: Sie wecken Bilder in ihm, geben ihm Anregungen, oder liefern ihm Stichworte, deren Bekanntheit er bei seinem kulturprotestantischen Publikum voraussetzen konnte. Er benutzt die Texte für sein musikalisches Schaffen, aber er möchte sie nicht - wie beispielsweise J.S. Bach - durch seine Musik verkündigen helfen.

Ein berühmtes Beispiel ist seine Bemerkung im Blick auf eine apokalyptische Passage aus dem 1. Korintherbrief im Deutschen Requiem: Dort heißt es im 6. Satz

Wir werden alle verwandelt werden,
und dasselbige in einem Augenblick
zu der Zeit der letzten Posaune.
Denn es wird die Posaune erschallen
und die Toten werden auferstehen unverweslich.

Brahms verkündet an dieser Stelle nicht die Auferstehung der Toten. Sein Biograph Max Kalbeck berichtet, daß Brahms 1897 - also in seinem Todesjahr - betont habe, "daß er weder damals, als er das 'Requiem' schrieb (fast 30 Jahre zuvor), noch jetzt an die Unsterblichkeit der Seele glaubte. Die Apostelstelle [die ich eben zitierte] habe ihm nur als musikalisch verwendbares Symbol tiefen Eindruck gemacht" (16). Und das "musikalisch verwendbare Symbol" ist - offenbar - die Posaune und das durch sie ausgelöste Nach-oben-Aufbrechen der Auferstehungsbewegung (aus Es-Dur in einen G-Dur-Akkord) gewesen - so trivial das klingt, wir müssen das in aller Nüchternheit sehen:


Hörbeispiel: Deutsches Requiem, VI, Ausschnitt

Bibel-Texte werden bei Brahms primär funktional für seine musikalischen Absichten benutzt, nicht um ihrer eigenen Aussage willen. Berühmtestes und zugleich ironischerweise bei uns unbekanntestes Beispiel ist sein Triumphlied, ein großartiges strahlendes Werk für 8stimmigen Chor und großes Orchester aus dem Jahre 1871, das diesen Text aus der Offenbarung Johannis Kap 19 vertont: (Auszug)

Halleluja! [Händel!] Heil und Preis,
Ehre und Kraft sei Gott, unserm Herrn! ....
Denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen....
Ein König aller Könige, und ein Herr aller Herren.
Halleluja! Amen!

Was Brahms hier im Blick hat, hat mit nichts weniger zu tun als mit dem bei Johannes angesprochenen Endzeitmoment des Jüngsten Gerichts, sondern mit dem Sieg über Frankreich 1870, der Gründung des Reiches und der Kaiserkrönung im Januar 1871. Der "König aller Könige und Herr alles Herren" ist niemand anders als Kaiser Wilhelm I., und er hat "das Reich eingenommen". Ihm widmet Brahms dieses Werk "ehrfurchtsvoll"; er ist offenbar wie viele andere Zeitgenossen von der mächtigen Woge des Patriotismus erfaßt worden und überhöht diesen religiös durch die Instrumen-talisierung des Bibeltextes. Damit dieser nicht "mißverstanden" und doch wieder religiös gedeutet wird, flicht Brahms schon in die ersten Takte (und dann, motivisch variierte, durch den ganzen ersten Satz) das Anfangsmotiv von "Heil dir im Siegerkranz" (D-E-Cis-D-E-Fis; bzw. A-H-Gis-A-H-Cis) ein. Dieser schon fast schwülstige Patriotismus und die darin begründete haarsträubende Verfremdung des Bibeltextes ist sicherlich einer der Gründe, warum das Triumphlied heute so gut wie nie mehr aufgeführt wird, weil nach unserer Geschichte mit dem Nationalismus so ein Ausbruch nicht mehr vorbehaltlos zu genießen ist - wobei ich allerdings meine, dabei geht eine wunderschöne Musik zu unrecht (17) verloren, wie Sie gleich hören werden. Ob man nicht Brahms' Patriotismus historisch relativieren und verzeihen kann, um die Musik nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? (Wagner)


Hörbeispiel: Ausschnitt aus 2. Satz des Triumphlieds (ab: "Lebhaft")

Brahms komponiert Bibeltexte, weil sie ihm als norddeutschem Protestanten vertraut sind, weil sie in ihrer Sprach- und Bildgestalt seiner eigenen Gemütsverfassung entsprechen oder ihn zu einer musikalischen Gestaltung anregen - nicht aber, um (wie Schütz und Bach) den Bibeltext zu verkündigen. Man kann sogar ein umgekehrtes Text-Musik-Verhältnis bei Brahms konstatieren: Dient bei Schütz und Bach in zwar unterschiedlicher, aber doch vergleichbarer Weise die Musik dem Text bzw. der Auslegung des Textes, so dient bei Brahms der Text der Musik: Er liefert das Material oder den Anstoß für die grundlegende musikalische Idee (18). Die Bibeltexte haben somit grundsätzlich keinen anderen Stellenwert als Gedichte von Goethe, Schiller (Nänie, op. 82), oder Hölderlin. Auf die "Worte", sagt Brahms an einer Stelle zu seiner Textwahl (hier: Schicksalslied) komme es ihm gar nicht an (19).

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich aber nun keineswegs, daß die (Bibel)-Textauswahl bei Brahms beliebig oder willkürlich ist. Im Gegenteil: Er ist "ungemein wählerisch in der Auswahl seiner Stoffe" (20). Gerade weil er Texte danach auswählt oder umstellt, wieweit sie seiner eigenen inneren Disposition entsprechen bzw. etwas in ihm ansprechen, spiegeln sie etwas von seiner eigenen inneren Verfassung; sie sagen also mehr über ihn selbst aus, als die Texte Schütz'scher und Bach'scher Werke über Schütz und Bach. In den Bibeltexten Brahmscher Chorwerke und Lieder treffen wir eigentlich nicht auf die Bibel, sondern auf - Johannes Brahms. Darin kommt das das 19. Jahrhundert zunehmend bestimmende Moment der romantischen Subjektivität zum Tragen.

4. Werke, die explizit mit dem Tod zu tun haben

Ich möchte anhand von drei Werken, in denen Brahms sich explizit mit dem Thema "Tod" auseinandersetzt, einiges von dem exemplarisch präzisieren, was ich bisher eher generell gesagt habe. Es handelt sich um die Motette Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen? (op. 74, 1, 1877), Ein deutsches Requiem (op. 45, 1868) und Die vier ernsten Gesänge (op. 121, 1896).

Es handelt sich ausschließlich um Vertonungen von Bibeltexten.

4.1 Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?

Der Text dieser Motette stammt aus Hiob 3, 20-22. Es folgen Texte aus den Klageliedern, dem Jakobusbrief (Anklang an Worte aus dem Requiem!), und einem Choral Martin Luthers. Brahms hat sie "eine kleine Abhandlung über das große Warum?" genannt. Tatsächlich ist dieses Fragewort "Warum?" der eigentliche Inhalt der Motette: Sie beginnt damit und wiederholt das Warum immer wieder.

Aber was dem "Warum?" folgt, ist keineswegs gleichgültig. Charakteristischerweise richtet sich dieses Warum ja nicht auf Tod, Leiden, Schmerzen: die klassische Theodizeefrage, die in der Bibel nur allzu oft in dieser Fassung auftaucht: "Warum hat uns Gott das getan?" (Gen 42,28); "Warum muß ich so traurig gehen?" (Ps 43, 2); "Warum hast du mich verlassen?" (Ps 22, 2; cf. Mk 15,33) "Warum willst du alle Menschen umsonst geschaffen haben?" (Ps 89, 48). Das Warum gilt nicht dem Leiden, dem Tod, sondern: dem Leben: "Warum ist das Leben gegeben den betrübten Herzen...?" Schließlich fühlte sich Brahms - nicht zuletzt wegen seines vielfachen Scheiterns im Blick auf eine dauerhafte hauptberufliche Stellung "sehr unnütz auf der Welt" (zit. bei F. Grasberger, J.B., 261).

Wir finden in dieser Textwahl Brahms' bestätigt, was ich eingangs thesenartig feststellte: Es ist nicht der Tod, der B. zu schaffen macht, sondern: das Leben. Das Leben natürlich nicht in seiner Schönheit (von der Brahms mit Schiller in seinem Chorwerk Nänie nüchtern-resignativ feststellt: "Auch das Schöne muß sterben" (op. 82)), nicht mit seiner "Behaglichkeit", die Brahms so schätzte, sondern mit seinen Verletzungen, seinen Enttäuschungen, seinen nicht gelingenden Beziehungen, seinen Verlusten: all dem, das das Leben "mühselig" macht und zu "betrübten Herzen" führt: Das Leben raubt einem mehr als der Tod! Wenn das das Leben ist, warum dann überhaupt leben? Das ist der Inhalt dieses "großen Warum". Ich erinnere noch einmal an Brahms' Reaktion auf die Geburt des Kindes von J. Joachim: Das Beste könne man ihm ja nun nicht mehr wünschen - nämlich gar nicht geboren werden.

Brahms gestaltet die Motette musikalisch fast in bachisch-barocker Art: die Struktur ist polyphon-kontrapunktisch (was Brahms' Zeitgenossen als antiquiert empfanden!), chromatische, quälend klingende Tonverschiebungen etwa unterstreichen die Qual der "betrübten Herzen". Ähnlich bachisch ist der Abschluß der Motette mit einer lutherischen Choralstrophe, die unterstreicht, daß der Tod eigentlich eine willkommene Antwort auf die Frage "Warum?" wäre: Mit Fried und Freud ich fahr dahin..... der Tod ist mir Schlaf worden.

Daß der Tod des "Schlafes Bruder" ist, kann übrigens auch Bach sagen: im Schlußchoral seiner Kantate "Ich will den Kreuzstab gerne tragen". Und in seiner Kantate "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" verwendet Bach selbst auch diesen Choral "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" (mit dem Satz: "Der Tod ist mir Schlaf worden") Aber wie ambivalent dieses Bild ist, zeigt der charakteristische Unterschied zwischen beiden: Für Bach bedeutet der Tod als Schlaf: Ich werde (dank Christus) aus ihm wieder aufwachen. Deshalb brauche ich keine Angst mehr vor ihm zu haben. Für Brahms hingegen: Ich komme endlich zur Ruhe. Die quälende "Warum"-Frage kommt endlich zur Ruhe. Darum brauche ich vor dem Tod keine Angst zu haben. (Wie wichtig ihm das Motiv der Ruhe war, werden wir noch im Zusammenhang mit dem Requiem genauer entdecken!) An eine Auferstehung glaubt Brahms nicht, ebensowenig an eine Unsterblichkeit der Seele. "Die einzige richtige Unsterblichkeit ist in den Kindern", sagt er einmal in einem Brief. Ein überraschender Satz von einem Mann, der keine eigenen Kinder hatte - es sei denn, wir entnehmen ihm indirekt, daß Brahms seine Werke, also das, was er 'gezeugt' hatte, als seine "Kinder" betrachtete! Und tatsächlich haben sie ihn ja unsterblich gemacht!

Daß Brahms in seiner "Warum"-Motette Bach im Kopf hatte, macht er an einer Stelle deutlich, wo er nachträglich und gezielt die Tonfolge im Sopran in B-A-C-H ändert (über den Worten "die des Todes warten": Takt 36). Daß Brahms sich durchweg in der Gestaltung seiner Chorwerke stark an Bach und Händel (Triumphlied!) orientiert, sei hier nur nebenbei vermerkt.

Diese Motette gilt übrigens als "bedeutendste Komposition im Rahmen der Gattung der Motette seit Bach" (21)


Hörbeispiel: Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen? (Anfang)

4.2 Ein Deutsches Requiem

Angesichts der Bekanntheit und Bedeutung dieses Werkes - es ist Brahms' größtes und großartigstes Chorwerk - und einer Fülle auslegender Literatur werde ich mich auf die Aspekte beschränken, die uns Auskunft im Blick auf unser Thema geben: Was sagt uns das Requiem über Brahms' Verhältnis zum Tod?

Brahms' Requiem unterscheidet sich nicht nur in formaler Hinsicht von den vielen Vertonungen der klassischen röm.-kathol. Sterbemesse. Letztere vertont lateinische Liturgie, Brahms selbstgewählte Texte aus der Lutherbibel. Auch der inhaltliche Unterschied ist bedeutsam oder sogar noch bedeutsamer: Das klassische Requiem hat die Verstorbenen im Blick, die Fürbitte für sie, ihr Ergehen im Jüngsten Gericht, die Rettung vor dem ewigen Schrecken durch das Lamm Gottes, Christus. Brahms Requiem hat hingegen die "Leidtragenden", die trauernden Hinterbliebenen im Blick; für sie und zu ihrem Trost ("Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet") schreibt er sein Requiem, sagt das selbst sogar nach Fertigstellung der ersten Fassung: "Ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden" (22), ein "Trostwerk für die Trauernden" (23), ein "Hohelied des Trostes", wie es sein Biograph Max Kalbeck nennt (24). Die Verstorbenen hingegen brauchen keine Fürbitte und keinen Trost, sie "ruhen von ihrer Arbeit" und sind darum "selig" (letzter Satz).

Was das Requiem in seiner Textauswahl über Brahms' Verhältnis zum Tode aussagt, ist dies: Der Tod, den man fürchten muß, an dem man zu schaffen hat, ist nicht der eigene Tod, sondern der Tod derer, die man verliert: der Tod, den man erlebt und überlebt, nach dem man also weiterleben muß. Und das ist auch der Hintergrund dieses merkwürdigen Ausspruchs Brahms': Das Leben raubt einem mehr als der Tod. Brahms' Angst vor dem Tod ist die Angst vor Verlust dessen oder derer, die man liebt.

Wir hören jetzt einmal in den ersten Satz des Requiems hinein, der ja das Motto des ganzen Werkes, nämlich die "Seligpreisung der Leidtragenden" , enthält; ich wähle daraus bewußt den letzten Abschnitt, wobei der Text derselbe ist: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden (Text liegt Hörern vor) - aus der Bergpredigt Jesu (übrigens gut, daran zu erinnern, daß es sich hier bei den "Leidtragenden" um Trauernde handelt [wörtliche Bedeutung] und nicht allgemein um Menschen, "die unter der Not der Welt leiden", wie die Gute Nachricht übersetzt!)


Hörbeispiel: Ein Deutsches Requiem, Satz I: Ab Takt 96 bis Ende.

Brahms schließt das Requiem mit der gleichen Musik, allerdings über einen anderen Text. Das wird uns etwas darüber sagen, wie er diesen neuen Text verstanden wissen will. Der stammt aus der Offenbarung Johannes 14, 13 (liegt vor): Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach.

Brahms führt zunächst den ganzen Text durch, bleibt dann aber bei dem ersten Teil: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben - selig, und den wiederholt er mehrfach. Hier ruht offenbar sein Interesse. Wenn er nun diese Zeile mit derselben Musik unterlegt, wie die Zeile Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden am Anfang des ganzen Werkes, dann schließt sich nicht nur formal der Kreis des Requiems, sondern dann will Brahms auch eine Beziehung, eine Verwandtschaft, vielleicht sogar eine Identität herstellen zwischen denen, die als Leidtragende getröstet werden und denen, die im Herrn sterben: "Selig" sind sie beide, und die Musik unter-streicht das beide Male durch ein tröstliches, fast heiter-gelöstes F-Dur. Wenn wir vor allem aus dem Text heraushören "Leid tragen" und "Sterben", legt Brahms ihn mit seiner Musik auf das "selig" hinaus aus. "Selig" heißt: Nähe Gottes. Wer genau hinhört, wird in dem ruhigen hymnischen Singen die Sphäre der Himmlischen aus dem Schicksalslied wieder hören (oder umgekehrt, weil ja das Requiem zuerst da war). Brahms mag keine leibliche Auferstehung glauben, aber seine Musik "weiß" um ein Bei-Gott-Sein: Gott ist bei den Trauernden, und die Toten sind bei Gott. Das ist der Rahmen seines Deutschen Requiems.


Hörbeispiel: Ein Deutsches Requiem, VII, ab Takt 142

Die Toten sind bei Gott - eine der zentralen Stellen des Requiems, musikalisch und textlich besonders hervorgehoben, sagt genau dieses. Es ist die Passage im II. Satz: "Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an!" (25) Der vorangehende Text dieses Satzes stammt wörtlich aus Ps. 39 (5ff). Das Zitat aus Ps 39 endet mit den Worten: Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich. Und dann kommt dieser Text über die "gerechten Seelen", und der stammt nicht aus Ps 39 und er stammt auch aus keinem anderen kanonischen Buch der Bibel wie alle anderen Texte (wenn sie auch manchmal sehr heterogen zusammengestellt sind), sondern aus dem apokryphen Buch Weisheit Salomos (3,1), etwa aus dem 1. vorchristlichen Jh. Diese Schrift ist stark hellenistisch, also von antikem griechischem Denken geprägt. Die Vorstellung, daß die "Seelen in Gottes Hand sind", ist dem Judentum des AT und Christentum des NT fremd, oder wird jedenfalls nie so ausgesprochen - warten doch beide (das Judentum zumindest nach dem Exil) auf eine Neuschöpfung nach einem totalen Sterben.

Für Brahms hingegen entsprach dieses hellenistische Denken genau dem eigenen Empfinden. Das ist seine persönliche Hoffnung nach dem Tode: in Gottes Hand sein und nicht mehr leiden. Und so läßt er diese Aussage auch die Antwort auf die Frage des Psalmisten sein: "Wessen soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich" - und dann kommt der Inhalt der Hoffnung (26). Musikalisch wird dieser ganze Zusammenhang besonders gestaltet durch einen unendlich erscheinenden Orgelpunkt, über dem der Chor eine nach Bach'scher Manier gestaltete Fuge intoniert. Der Orgelpunkt ist der 35 Takte (ich glaube, das ist der längste Orgelpunkt der klassischen Musikgeschichte!?) lang ausgehaltene Grundton D im Orchesterbaß. In dieser ganzen Passage ändert sich also der Grundton nicht mehr, die Musik ist zu ihrem Ursprung, der zugleich (in der tonalen Musik!) ihr Ziel ist, zurückgekehrt, das Leben hat seinen unveränderlichen Grund gefunden, kommt zur Ruhe.

Das ist Brahms' Hoffnung: die Ruhe von der Unstetigkeit, Unbehaustheit des irdischen Lebens in Gottes Hand. Dem entspricht, daß der nächste Satz die "Wohnungen" besingt, die Gott bereithält: Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Das ist Brahms eschatologisches Wunschbild: eine Wohnung, ein Zuhause, eine bleibende Statt, eine Heimat bei Gott. Hier stoßen wir auf ein Stück, vielleicht sogar einen Kern des Brahmsschen Glaubensbekenntnisses! -

Achten Sie beim Hören darauf, wie der Bass unverändert bleibt!


Hörbeispiel: Ein Deutsches Requiem, III. (ab Takt 164 bis Ende)

Ich sagte im ersten Teil, Brahms habe eine Soteriologie, aber keine Christologie. D.h. er hatte eine Vorstellung von Heil im religiösen Sinne, aber dazu brauchte er keinen Christus. Das wird besonders deutlich im Requiem, wo Brahms bewußt auf alle Hinweise auf Christus verzichtet. Bewußt insofern, als er vor der Uraufführung von dem Bremer Dirigenten Karl Reinthaler, der sich für die Uraufführung im Bremer Dom einsetzte, daraufhin gewiesen wurde, daß in seinem Requiem "für das christliche Bewußtsein der Punkt (fehle), um den sich alles dreht, nämlich der Erlösungstod des Herrn". Und er schlägt ihm vor, an die Passage im VI. Satz O Tod, wo ist dein Stachel.... eine entsprechende Passage anzuhängen, weil das nun einmal dazugehöre.

Brahms aber weigert sich. Ohne nähere Begründung gibt er zu, daß er bewußt ("mit allem Wissen und Willen") alle christologischen Hinweise weggelassen habe - z.B. auch einen solchen Text wie Joh 3, 16: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab...." (27) Die Folge war übrigens, daß man in der Uraufführung und auch in späteren Aufführungen in der Mitte der Aufführung die Arie aus Händels Messias einfügte "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt", damit eine Aufführung des Requiem in einer Kirche überhaupt gerechtfertigt sei. Brahms hat offenbar dagegen keine Einwände gehabt - vielleicht aufgrund seiner Hochachtung für Händel.

Brahms bewältigt den Tod, seinen Tod also ohne Christus. Aber er ist nicht etwa ein Nicht-Christ oder würde sich selbst nicht als solchen bezeichnet haben. Er ist eher ein typischer Protestant des 19. Jahrhunderts. Was das bedeutet, macht ein kleiner Vergleich mit Johann Sebastian Bach, 100-130 Jahre vor Brahms, deutlich. Wenn irgendjemandes Musik "todessüchtig" genannt werden kann, dann Bachs. In seinen Kantaten wimmelt es geradezu von Arien und Chören, die die Todesstunde herbeisingen, z.B. : "Schlage doch, gewünschte Stunde" (BWV 53) , oder: "Ach, schlage doch bald, selge Stunde" (in: Christus, der ist mein Leben; BWV 95) "Komm, o Tod, du Schlafes Bruder" (in: Ich will den Kreuzstab gerne tragen, BWV 56), "Komm, du süße Todesstunde" (BWV 161). Für Bach ist Sterben "ein Gewinn", weil es ihm (in der dann folgenden Auferstehung) den unmittelbaren Zugang zu Christus sprich Gott ermöglicht - und zwar - und hier liegt der entscheidende Unterschied zu Brahms: durch das Blut Christi!

Für Bach ist der Tod Christi als Sühnopfer, das Gott gnädig stimmt, ein unerläßliches Element in seiner Heilsvorstellung und in seiner Einstellung zum Tod. Das Blut Christi als Heilsmittel kommt sicher am stärksten in seiner Matthäus-Passion zur Geltung - die wiederum Brahms, obwohl er theologisch gar nichts damit anfangen konnte, für das größte musikalische Kunstwerk der Geschichte gehalten hat (28).

Bach ist darüber hinaus in seinen Kantaten geprägt von der mittelalterlichen ars moriendi (29). Sie bestand darin, sich "Hoffnung vermittelnde Sätze der Bibel aneinandergereiht vorzulesen oder vorzusagen. Oft ist es der Sterbende selbst, der sich dieses Mittels bedient, um im Sterben die Gedanken fest auf Gott und auf die Erlösung in Jesus Christus zu richten" (30).

Weil für Bach wie für das Luthertum seiner Zeit der Tod ganz paulinisch (Röm 5,18) "der Sünde Sold war", also hamartiologisch als Folge des Falls Adams ("Durch Adams Fall ist ganz verderbt..."), gedeutet wurde, bedeutete das Sühnopfer Christi als das Auslöschen der Sünde die Befreiung von den ewigen Folgen des Todes: Christi Tod macht, daß man dem Tod ohne Angst entgegensehen kann und sogar sagen: "Sterben ist mein Gewinn" (BWV 95). (vgl. o. Bachs Herbeisehnen der Todesstunde!)

Seit Schleiermacher, dem großen Erneuerer der protestantischen Theologie Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, ist jedoch die Verbindung Sünde-Tod nicht mehr zwangsläufig. Im Gegenteil, der Tod gilt nicht mehr als Ver-Fall der Schöpfung, der ursprünglich nicht in Gottes Schöpfungsplan vorgesehen war, sondern ist genuiner Teil der Schöpfung. Der Mensch ist nie unsterblich gewesen, auch nicht vor dem "Fall" Adams (31). Es gibt auch keine Sünde zum Tod oder "Todsünde" (32).

Ist aber der Tod keine Folge der Sünde mehr, spielt der Tod Christi für die Bewältigung des Todes auch keine Rolle mehr; dem Leiden Christi kommt keine spezielle erlösende Wirkung mehr zu, die sie noch bei Bach hatte (33). Der Tod ist Teil der mit der Geschöpflichkeit gegebenen Endlichkeit des Menschen und ist als solcher zu akzeptieren - etwa im Sinne des Ps 90 (12): "Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden!" Bzw.: die Endlichkeit des Menschen ist seine große Infragestellung, nicht sein der Sünde Verfallensein.

In diese Denkrichtung des liberalen Protestantismus ist Johannes Brahms einzureihen. Für ihn ist der Tod ein existentielles, kein religiöses Dilemma, das durch eine heilsgeschichtliche Konstruktion zu beheben wäre. Das ist also der Grund, warum in seinem Requiem kein Christus erscheint, kein Lamm Gottes, warum Brahms in seiner Begegnung mit dem Tod ohne Christologie auskommt. Er zitiert stattdessen die Psalmen (39,5): "Herr, lehre doch mich, daß es ein Ende mit mir habe, und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß".

Daß Brahms im Blick auf den Tod dem Schöpfer gegenübertritt, nicht aber dem Richter, der durch ein Blutopfer gnädig gestimmt werden muß, wird deutlich in seiner Behandlung der Doxologie, des großen Lobpreises im 6. Satz. Nach der großartigen herausfordernden Geste dem Tod gegenüber Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg - eine Stelle, die Ernst Bloch ebenso regelmäßig zu Tränen gerührt hat wie das Trompetensignal der sich ankündigenden Befreiung in Beethovens Fidelio (34), weil er spürte, daß die Musik hier mehr sagt, als Brahms auf Befragen zugeben würde - fällt der Chor in den Lobgesang aus der Offenbarung Johannis, der in Händels Messias dem Lamm Gottes gilt, das Gottes Gnade erwirkt hat (Off. 5, 12; Schlußchor des Messias):

"Das Lamm, das erwürget ist und uns Gott erkauft hat mit seinem Blut, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob".

Brahms benutzt fast die identischen Worte, aber sie gelten nicht dem Erlöser, sondern dem Schöpfer, und stammen aus einem anderen Teil der Offenbarung. Brahms hat Händels Messias nur zu gut gekannt, und er wußte, was das bedeutete, wenn er das christologisch motivierte Lob auf das Lamm quasi umfunktionierte auf den Schöpfer. Bei Brahms heißt es an dieser Stelle (Off. 4,11):

Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft, denn du hast alle Dinge geschaffen und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen.


Hörbeispiel: Ein Deutsches Requiem, VI, ab "Tod, wo ist dein Stachel...."

4. 3 Vier ernste Gesänge op. 121

Was im Requiem zu entdecken ist, wird durch Brahms Textauswahl in seiner letzten großen Vokalkomposition, den Vier ernsten Gesängen von 1896, bestätigt. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema "Tod" ist geprägt von der Skepsis der alttestamentlichen Weisheitsliteratur. Hier ist seine geistliche Heimat. Es ist daher kaum überraschend, daß er am Ende seines Lebens für drei dieser vier Gesänge Texte aus dem Prediger Salomo oder aus dem (apokryphen) Jesus Sirach wählt. Überraschend ist hingegen die Textwahl des letzten Gesangs: Es ist das Hohelied der Liebe aus 1. Kor 13. Die Liebe bleibt, und sie ist die größte unter ihnen! Brahms weiß also um einen eschatologischen Kontrapunkt gegen den Tod, der sich nicht weisheitstheologisch verrechnen läßt!

Doch zunächst zu den drei anderen Texten: In ihnen kommt die typisch Brahmssche Ambivalenz dem Tod gegenüber zum Ausdruck - z.B. in dem dritten Gesang O Tod wie bitter bist du und gleichzeitig O Tod, wie wohl tust du.... Wir erinnern uns an die Motette "Warum". Angesichts der (Brahmsschen) Erfahrung, daß das Leben einem mehr raubt als der Tod, ist der Tod letztlich das geringere Übel. Und so heißt es denn auch in dem zweiten Gesang: "Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren mehr als die Lebendigen, und noch mehr den, der noch gar nicht geboren ist (NB!), weil er das Böse unter der Sonne gar nicht erst erlebt. Hören wir uns den dritten der Vier ernsten Gesänge an. Brahms hat sich übrigens geweigert, einer Aufführung dieser Gesänge, die er ironisch-distanzierend "gottlose Schnadahüpferln" nannte (35), beizuwohnen; sie gingen ihm zu nahe, da war sein Kern getroffen.


Hörbeispiel: O Tod, wie bitter bist du...

Man hört, wie die Musik eine Versöhnung mit dem Tod nahelegt: aus den düsteren Moll-Akkorden am Anfang, die die Bitterkeit des Todes spiegeln, der Übergang in das E-Dur, das den Text begleitet: "O Tod, wie wohl tust du". Brahms ist mit dem Tod versöhnt, der aus einem düsteren, dürftigen Leben führt. Der Tod, der einen in Trauer zurückläßt, der Gemeinschaft zerstört, ist der "bittere Tod", der, den Brahms gefürchtet hat, der, unter dem er gelitten hat bei Robert und Clara Schumann, bei seiner Mutter. Zugleich ist das aber auch der Tod, bei dem er die Erfahrung gemacht hat, daß dieser Tod nicht die Liebe zwischen Menschen aufheben kann: Brahms hat ja weiterhin Robert und Clara Schumann und seine Mutter geliebt. Er hat erlebt, daß die Liebe den Tod überlebt, daß sie stärker ist als der Tod. Das, was den Tod dieser geliebten Menschen so hart, so schwer erträglich machte, war zugleich das, was ihn überlebte, was ihn überwand. (36)

Es ist daher im Blick auf Brahms' Biographie doch keine Überraschung, daß er als Schlußstrich unter seine Auseinandersetzung mit dem Tod mit dem letzten der Vier ernsten Gesänge das Bekenntnis zur Liebe als der bleibenden Kraft setzt. Ich fühle mich in dieser Deutung bestätigt durch die Textumstellung, die Brahms an Schillers Nänie vornimmt (op. 82). Sie haben ihn vor sich. Solche Textumstellungen signalisieren, daß Brahms die Worte eines Textes keineswegs egal waren: aber sie mußten dem entsprechen, was er aussagen wollte! Schiller schließt mit den resignierenden, dem Geist der Antike enstammenden Worten: Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab. Brahms hört da nicht auf, sondern läßt die Liebe, von der vorher die Rede war, weiterleben, indem er den Chor enden läßt mit den Worten: Auch ein Klagelied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich. Daß hier für ihn eschatologischer Boden betreten wird, macht Brahms auch durch die musikalische Behandlung deutlich, die an den letzten Teil des Schicksallieds erinnert.


Hörbeispiel: Nänie op. 82, 1880/81; ab I.

5. War Johannes Brahms ein Christ?

Diese Frage dürfte uns heute weit weniger berühren als noch zu Beginn und in der Mitte dieses Jahrhunderts, als tatsächlich in Fachkreisen darüber debattiert wurde - vermutlich um zu klären, ob man denn nun Brahms' Musik in Kirchen aufführen dürfe oder nicht (37).

Seine Vorliebe für alttestamentliche oder der Antike entlehnte klassische ("heidnische", wie er sie nannte) Texte, seine ausdrückliche Weigerung, christologische Bezüge in sein Requiem aufzu-nehmen, haben natürlich den Verdacht genährt, daß Brahms trotz seiner - für seine Zeit ungewöhnlichen - regelmäßigen täglichen Bibellektüre[WfW61] durchaus kein Christ war.

Am deutlichsten tritt ihnen das zutage in Brahms "strikter Ablehnung der fundamentalen Glaubensdogmen der Gottesohnschaft und der Erlösermission Christi, mit denen [ihrer Ansicht nach] das Christentum steht und fällt" (38). Und schließlich ist es Brahms' Sicht des Todes, die ihn vom christlichen Glauben nach dieser Auffassung trennt: "Im christlichen Sinn ist der Tod der Anfang eines neuen Lebens, weil durch Christi Auferstehung der Tod überwunden wurde. Im Brahmsschen Sinne ist der Tod ein Ende, ewiger Schlaf nach vollbrachter Erdenarbeit" (39). So tritt denn "an die Stelle einer kirchlich-konfessionellen oder auch nur in allgemein christlichen Fundamenten verwurzelten Religiosität ... eine ganz und gar humanitäre Frömmigkeit, die dadurch einen besonderen Akzent erhält, daß sie von dem Vergänglichkeitsgedanken in höherem Maße ergriffen ist als von der christlichen Erlösungsidee, daß in ihr das pessimistische 'Denn alles Fleisch, es ist wie Gras' tiefer Wurzel geschlagen hat als die Paulinische Überzeugung 'Ich habe Lust abzuschneiden, um bei Christus zu sein'" (40). Wir hingegen wissen inzwischen, daß Brahms mehr über den Tod zu sagen wußte, als nur pessimistisch die Vergänglichkeit des Menschen zu betrauern! Dem pessimistischen "Alles Fleisch ist wie Gras" antwortet ja der großartige Kontrapunkt: "Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit!":

Nach allem,was wir von Brahms wissen und auch heute abend an seinen Werken beobachtet haben, war er sicherlich kein Christ in einem konventionell-dogmatischen Sinn. Er war ein typischer lutherischer Kulturprotestant des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der bei aller Nähe zur Bibel eine ziemliche Distanz zu den Kirchen und ihren Glaubenslehren hielt.

Es gibt ja heute eine Menge Christen und Christinnen, die sehr unterschiedliche Vorstellungen von der "Gottessohnschaft" Christi haben, die außerordentliche Probleme mit der Idee des Sühnopfertodes Christi (und dem zugrundeliegenden Gottesbild) und mit Vorstellungen von leiblicher Auferstehung haben, die aber trotzdem sich weiterhin für Christen halten.

Für Brahms gilt gleichwohl: Er hat eine hohe Affinität zur biblischen Tradition; sein selektiver Umgang damit ist Charakteristikum seiner individuellen Annäherung. Brahms war kein Atheist, (41) und er selbst hätte sich wohl für einen Christen im Sinne des norddeutschen Kulturprotestantismus gehalten, der den ChristInnen in und außerhalb unserer heutigen Volkskirche jederzeit das Wasser reichen könnte. Daß dieser Kulturprotestantismus Anfang unseres Jahrhunderts von der dialektischen Theologie als bürgerliche Verflachung und Ausverkauf des genuinen christlichen Glaubens gegeißelt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Aber man wird Brahms nicht mit den Maßstäben der dialektischen Theologie messen dürfen, wenn man sich auch nur einen Hauch von historischer Seriosität bewahren will.

6. Schluß:

Wenige Wochen vor seinem Tod sagte Brahms zu einem Bekannten - und er wußte da längst, daß sein Leberkrebs das Endstadium erreicht hatte -: "Ich werde demnächst eine lange, lange Reise antreten, von der werden Sie hören" (42). Wir haben von ihr gehört. Und wissen aus seiner Musik, daß er diese Reise schon lange vor seinem Tod angetreten hatte.

Der Orgelchoral O Welt, ich muß dich lassen ist das letzte Werk, das aus seiner Feder stammt. Er hat es, zusammen mit zehn weiteren Choralvorspielen, der Tochter Clara Schumanns als "ganz eigentliches Totenopfer für Ihre geliebte Mutter" (43) überreicht. Nach jeder Zeile gibt es die Ahnung einer Wiederholung: Es klingt wie ein Echo, wie "ein hintergründiges 'Welt ade!', mit dem Brahms sich verabschiedet" (44).

In diesem Lied wird nun nicht, wie einer seiner Interpreten meint, primär die "Klage über das Vergängliche angestimmt", die als "Leitmotiv das Brahmssche Leben und Schaffen" durchziehe (45). Vielmehr sagt uns der Text - und wenn Brahms auch hier nicht den Text insgesamt im Auge hat, das seine Komposition anregende Bild ist dieses: - daß Leib und Leben in Gottes gnädige Hand gelegt werden - ganz so wie der zentrale Satz des Requiems es sagt: "Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand".

O Welt, ich muß dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
ins ewig Vaterland.
Mein Geist will ich aufgeben,
dazu mein' Leib und Leben
legen in Gottes gnädig Hand.


Autor: Dr. Wilhelm Otto Deutsch - Hauptstraße 67 - D-66127 Saarbrücken - GERMANY
Mit e-mail zu erreichen bei: brahms-de@oocities.com

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Fußnoten:

1 Vgl. F. Grasberger, Johannes Brahms. Variationen um sein Wesen, Wien 1952, 102: Bei Brahms findet sich "eine bis in die verborgensten Tiefen des Schöpferdaseins reichende Beschäftigung mit dem Problem des Todes".

2 H. Mayer, Ein Denkmal für Johannes Brahms, in: ders., Ein Denkmal für Johannes Brahms, 1983, 71.

3 1877, zit. bei H. Mayer, a.a.O., 69.

4 Zit. bei Siegfried Kross, Brahms und Schumann, in: Brahms-Studien, Bd. 4, Hamburg 1981, 40.

5 Vgl. Siegfried Bauer, Johannes Brahms, 42.

6 M. Kalbeck, Johannes Brahms, II/1, 43; Verweis auf An die Heimat, op. 64,1.

7 H. A. Neunzig, Brahms, 58.

8 Neunzig, 59.

9 Neunzig, 48.

10 Zit. in Neunzig, Brahms, 110.

11 1868, in: Litzmann (Hg.), Briefwechsel Clara Schumann und Johannes Brahms, Bd. I, 595.

12 Gegen S. Kross, Brahms und Schumann, 37.

13 Zit. bei F. Grasberger, Johannes Brahms. Variationen um sein Wesen, 275.

14 26. 1. 1896; Litzmann II, 612.

15 Brahms an Rudolf von der Leyen: "Die Leute wissen eben nicht, daß wir Norddeutschen jeden Tag nach der Bibel verlangen und keinen Tag ohne sie vergehen lassen. In meinem Studierzimmer greife ich auch im Dunkeln meine Bibel gleich heraus" . Zit. bei Rob. Hernried, Brahms und das Christentum, 21.

16 Kalbeck II, 238 A.

17 Und nicht "aus gutem Grund", wie Christoph Albrecht meint, der offenbar nicht unterscheiden kann zwischen Musik und historischem Anlaß: Chr. Albrecht, Ernste Gesänge, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt, 2/97, 15.

18 F. Grasberger spricht mit Recht von einem "Vorrang des Musikalischen gegenüber dem Textlichen": ders., a.a.O., 59

19 Kalbeck, Brahms II/2, 366.

20 Neunzig, a.a.O., 110.

21 I. Fellinger, Brahms' Bedeutung in heutiger Zeit, in: Brahms-Studien VI, Hamburg 1985, 27.

22 Zit. bei Kl. Blum, Hundert Jahre Ein Deutsches Requiem von Johannes Brahms, Tutzing 1971, 31.

23 Ebd. 131.

24 Kalbeck II, 248.

25 Max Kalbeck nennt diesen Satz - etwas mißverständlich - "das Fundament Brahmsscher Ethik" (II, 245). Was er meint, ist: das Fundament Brahmsscher Eschatologie!

26 Mir ist unerfindlich, wie ein Interpret hier von einer "hoffnungslosen Klage in einer ausweglosen Situation" sprechen kann: So R. Gerber, Das "Deutsche Requiem" als Dokument Brahmsscher Frömmigkeit, 184.

27 Zu diesem ganzen Sachverhalt vgl. K. Blum, Hundert Jahre Deutsches Requiem, 34f.

28 Vgl. J.-E. Berendt, Hinübergehen, 57.

29 Hierzu und zum folgenden vgl. M. Petzold, Hat Gott Zeit, hat der Mensch Ewigkeit. Zur Kantate BWV 106 von Johann Sebastian Bach, in: MuK 1996, 212-228.

30 Ibid. 214.

31 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der Christliche Glaube pp. 73 -75.

32 Ibid. p. 96.

33 Vgl. Schleiermacher, p. 101.

34 Vgl. H. Mayer, a.a.O., 87.

35 Zit. in S. Kross, Brahms und Schumann, 9.

36 Max Kalbeck sieht auch in der Musik zum Begräbnisgesang op. 13 einen Hinweis auf die "den Tod überwindende Liebe" (I, 383).

37 Dazu vgl. R. Gerber, Das "Deutsche Requiem" als Dokument Brahmsscher Frömmigkeit, in: Das Musikleben 1949, 181ff. und Robert Hernried, Brahms und das Christentum, in: MUSICA 1949, 16ff.

38 R. Gerber,183

39 Ibid. 183

40 Ebd.

41 A. Dvorak kannte ihn eben nicht wirklich, wenn er 1896 von Brahms sagte: "Er glaubt an nichts!" (zit. in R. Gerber, a.a.O., 239).

42 Zit. bei Grasberger, J.B., 340.

43 Zitiert in J.-E. Berendt, Hinübergehen. Das Wunder des Spätwerks, 57.

44 Chr. Albrecht, Ernste Gesänge, a.a.O., 15.

45 Gerber, a.a.O. 239.