Wer sind die Zwerge heute?





Wer hat heute Angst vor seinem Mitleid?














Wer tut nur seine Pflicht?











Wer stiftet heute das Reisig?






Wer sieht heute zu?
Wolfdietrich Schnurre

Die Zwerge



Ihr Verbrechen: Sie waren zu klein. Nun marschieren sie auf des Ältestenrates Geheiß aneinandergekettet durch die Straßen der Stadt. Vorweg geht der Büttel; er schellt ihr Vergehen aus und verliest die Begründung, weshalb sie verbrannt werden sollen. Jedoch niemand achtet auf ihn. Die sich über die Winzigkeit der Zwerge beim Rate beschwerten, erkennen die Folgen ihrer Verleumdungen nicht an, und die nicht wissen, daß die Zwerge angezeigt wurden, haben Angst, ihr Mitleid zu zeigen, und gehen gesenkten Kopfes vorüber. Die Zwerge sehen verstört aus; es ist schwer für sie zu begreifen, daß man größer sein muß, um unangetastet leben zu dürfen; sie glauben, gerade ihre Unscheinbarkeit bietet ihnen Gewähr, auf ewig unbeachtet zu bleiben. Nun ist das Gegenteil eingetreten. Einige schluchzen, und in den Staub ihrer Gesichter haben sich Tränenbäche gegraben; andere blicken ergeben auf ihre einwärts gedrehten Füße; und einer liegt bleich und den Bart zum Himmel gereckt auf einer Bahre, die vier andere tragen. Sie haben lange, schwarze Mäntel an, gefettete Locken sehen ihnen unter ihren hohen, mit lila Bändern geschmückten Hüten hervor. Jetzt zerrt sie der Büttel die Rathausstufen hinauf und verliest noch einmal ihr Vergehen: Zu klein, zu zierlich, zu flink; es ist immer dasselbe. Aber nicht einmal hier hört jemand ihm zu. Dem Büttel macht das nichts aus, er tut nur seine Pflicht. Also faltet er die Vergehensliste wieder zusammen, und der Zug schleppt sich weiter. Er schleppt sich an den Märkten vorbei und an Kinos, an Kirchen, Kasernen, und überall läutet der Büttel, setzt sich das leere Brillengestell auf die Nase und verliest die Anklagepunkte und die Höhe der Strafe. Nein, niemand möchte ihn hören, niemand ihn sehen, niemand Mitleid empfinden. Am Abend dann meldet sich der Büttel beim Ältestenrat zurück, und der Rat übergibt ihm die Liste der Bürger, die das Holz stiften müssen. Und der Büttel geht zu den Bürgern, und die Bürger stiften das Holz. Dann übergibt der Rat die Liste der Bürger, die das Reisig stiften müssen. Und der Büttel geht zu den Bürgern, und die Bürger stiften das Reisig. Dann übergibt der Rat dem Büttel die Liste der Bürger, die das Öl stiften müssen. Und der Büttel geht zu den Bürgern, die das Öl stiften müssen. Als der Scheiterhaufen errichtet und das Öl ausgegossen worden ist, schickt der Büttel die Zwerge im Auftrag des Rates hinauf und erhält dann von diesem das Zeichen. Umständlich rückt er sich das glaslose Brillengestell auf der Nase zurecht, dann reißt er den Span an, und gierig rast die Flamme die Zwerge entlang, wird größer und greller und heller und schneller und leckt aus dem Dunkel die Fenster der Bürger heraus; die Fenster der Bürger, die das Holz spendeten, die Fenster der Bürger, die das Reisig spendeten, die Fenster der Bürger, die das Öl spendeten: Starräugig, vom Feuer gebannt, das den Zwergen jetzt an den lila gebändelten Hüten emporzüngelt, stehen sie hinter den Gardinen und kühlen sich an den Scheiben die Stirn.








Welche Urteile werden heute gesprochen?





















Aus welchen Gründen werden Menschen heute ausgeschlossen?










Wer stiftet heute das Holz?




Wer stiftet heute das Öl?













Wer möchte heute nichts damit zu tun haben?
Aus: Klaus Wagenbach (Hrsg.) Lesebuch deutscher Literatur zwischen 1945-1959, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1980