15-10-2001 Neue Luzerner Zeitung
Ein
Luzerner in Afghanistan
«Die Nervosität liess nie nach»
Der Luzerner Louis Palmer* fuhr mit dem Velo durch Afrika, flog mit dem Ultraleichtflieger über Südamerika. Eingebrannt aber haben sich ihm 18 Tage im Trümmerfeld Afghanistan.
«Als die afghanische Ärztin mit mir sprechen wollte, wurde mir mulmig zumute. Ich hatte bei der Einreise unterschrieben, nicht mit Frauen in Kontakt zu treten. Darauf steht die Scharia, und wer riskiert schon gerne sein Leben? Ich sprach dennoch mit ihr, und sie flehte mich um finanzielle Unterstützung für ihr Spital an, während die anderen Ärzte Schmiere standen. Ein Krankenhaus für 50 000 Menschen, in dem Ärzte seit sechs Monaten ohne Lohn ihr Bestes geben. Den Menschen zuliebe. Hätten sie mich im Gespräch mit ihr erwischt, wären ich und die Ärztin dran und das Spital sofort geschlossen gewesen. So untermauern die Taliban ihre Macht.»Von Angst und Freundlichkeit
Louis Palmer wird anderes als das zu erzählen haben, was ihn einst abschreckte.
Nicht nur, aber auch. Allzu Menschlisches, Freundschaftliches, viel Empörendes,
denn «es gibt in diesem Land nichts zu beschönigen.» Heute, zwei Monate nach
seiner Rückkehr aus Städten, die Trümmerfeldern gleichen, ahnt er um den
schwierigen Alltag der Menschen dort. «Menschen, die aber letztendlich
unschuldig sind.»
Heute, wo der langen Krisengeschichte Afghanistans ein weiteres Kapitel hinzugefügt
werden muss, traut er sich zu sagen: «Das Handeln der Amerikaner ist falsch.
Das ist, als würde man versuchen, einer Hydra den Kopf abzuhacken. Sie haben
keine andere Wahl, als sich auf die Nordallianz und den König zu verlassen,
alles andere wird die Zivilbevölkerung nicht mittragen.» Obwohl die unter den
Taliban leidet? «Nur wenig stehen wirklich hinter den Taliban. Aber - und das
sagte mir ein befreundeter Muslim - niemals wird ein Muslim zusammen mit einem
Ungläubigen gegen einen anderen Muslim vorgehen. Das geht nicht. Das ist eine
Sache des Vertrauenkönnens, obwir das verstehen wollen oder nicht. Wir müssen
es akzeptieren und damit umzugehen lernen.»
Kein Politisieren, nur
berichten
Plötzlich stockt Louis Palmer. Politisieren, nein politisieren will er nicht.
Nicht in seinem Diavortrag und nicht hier im Gespräch. «Es gibt so viele
Meinungen zu diesen Dingen und niemand hat eine Lösung. Ich auch nicht. Ich
kann nur einen Augenzeugenbericht über das Land abliefern.» Ein Aufruf soll
dieser sein, hinzusehen, zu unterscheiden zwischen den Taliban und den Afghanen.
Deshalb komme der Vortrag jetzt, in einem Augenblick, in dem wir alle nicht
wissen, auf welche Bilder wir vertrauen können. «Ich habe dort 18 Tage Angst
und Horror erlebt, aber auch riesige Gastfreundschaft», sagt Palmer. Mit Hilfe
afghanischer Freunde und Freunden aus der UNO gelang es ihm, das Land von Ost
nach West zu durchreisen. Es gelang ihm auch, hinter abgedunkelten Autoscheiben
fünfzehn Diafilme zu verschiessen. Diese Bilder erzählen von Sittenpolizisten
mit Peitschen, Frauen hinter Gittern aus Garn, von Regeln, die besser nicht
verletzt werden. Sie zeigen Minenhunde und vom Druck zermürbte
Hilfsorganisationen, das «Mittelalter, das hinter der Eisentür, die die Grenze
zwischen Pakistan und Afghanistan markiert, beginnt». Und sie sprechen
handkehrum von Menschen, die Palmer gerne zu sich nach Hause eingeladen hätten
- allein, die Gesetze verbieten es, vonn deren Grosszügigkeit und
Hilfsbereitschaft Gebrauch zu machen. «Weil sie die Wahrheit zeigen wollen»,
erklärt er deren Risikobereitschaft. Eine Wahrheit, deren scheinbare Unabänderlichkeit
«mich tagelang kaum essen liess, denn meine Nervosität hörte nie auf. Das
Risiko willkürlicher Repressionen kann man nicht vergessen. Da ging es mir so
wie vielen Menschen dort.»