Linth Zeitung, 15.11.2001
«Geh in Dein Land und tu etwas»
Rapperswil:
Im Sommer reiste Louis Palmer durch Afghanistan - Seine Eindrücke
schildert er in seinem Dia-Vortrag Als bisher einziger Ausländer dieses Jahr
durchquerte er Afghanistan im Sommer in seinem eigenen Auto. Der Luzerner Lehrer
Louis Palmer wurde durch diese Reise aus seiner Bahn geworfen. Als neutraler
Augenzeuge ist er heute ein gefragter Mann bei der Presse, und mit Hilfe eines
Dia-Vortrags setzt er sich für die Bevölkerung Afghanistans ein und sammelt
Geld für ein Krankenhaus in Jalalabad.
18
Tage lang war der Luzerner in dem bis dato durch die Taliban sorgfältig
abgeschotteten Land unterwegs. «In dieser Zeit war ich in den Abgründen
Afghanistans», erzählt er, und seine Betroffenheit über das Gesehene und
Erlebte steht ihm ins Gesicht geschrieben. Und von diesen Abgründen, aber
ebenso von den Hoffnungsträgern, die sich teilweise unter Lebensgefahr für
humanitäre Ziele einsetzen, möchte Louis Palmer in seinem Dia-Vortrag mittels
seinen «verbotenen Bildern» berichten. «Es geht mir nicht ums Politisieren»,
betont er, «ich versuche lediglich, ein Bild von dem Afghanistan zu vermitteln,
wie ich es an eigener Haut erfahren habe. Und Hilfe zu mobilisieren für die
zivile Bevölkerung.»
Für
die Menschen unverändert
Die
jüngsten Ereignisse ändern daran nichts, weder an seinem Engagement noch an
seiner Botschaft. «Natürlich muss ich heute, wenn ich auf die Taliban zu
sprechen komme, grösstenteils in der Vergangenheit reden», meint er, «aber
wie es für das Land weitergeht, ist zur Zeit völlig ungewiss, und für die Bevölkerung
ist die Lage im Moment kaum verändert. Im Gegenteil, viele sind sich ihres
Lebens heute noch weniger sicher.» So sind seine Bilder und Eindrücke höchstens
auf der politischen Ebene von der Aktualität überholt worden, jedoch gewiss
nicht in menschlicher Hinsicht. Als aussenstehender Augenzeuge sah Louis Palmer
auf seiner ReiseElend und Unterdrückung, die mit der Vertreibung der Taliban
nicht aus der Welt geschaffen sind. Und die Zeugnis ablegen von den
schrecklichen Folgen eines dogmatischen Totalitarismus.
Verbotenes
Gespräch mit einer Frau
Dass
sich der junge Lehrer mit solcher Entschlossenheit für dieses Land, dem infolge
der Geschehnisse der vergangenen Wochen plötzlich die Aufmerksamkeit der
gesamten Welt gilt, einsetzt, ist unter anderem auch auf seine kurze, aber aufwühlende
Begegnung mit einer afghanischen Ärztin in einer Klinik in den Bergen nahe
Jalalabads zurückzuführen. Obwohl Gespräche zwischen Mann und Frau von den
Taliban rigoros verboten werden, hatte Louis Palmer in einer verdunkelten Kammer
des Spitals Gelegenheit, zwei Minuten mit der Ärztin zu sprechen - «und die
zehn männlichen Ärzte standen derweil vor der Tür Wache.» In diesen zwei
Minuten schilderte ihm die Ärztin in fliessendem Englisch die verheerende
Situation der Klinik. Seit Monaten hatten sie und ihre Kollegen keinen Lohn
erhalten, doch darum ging es der Frau nicht, kann die Belegschaft der Klinik
doch dank der Menschen aus dem Dorf, die sie ernähren, überleben. Nicht so die
Kranken, die teilweise tagelang auf Bahren über die Berge hingetragen werden,
und die entweder im Spital sterben oder wieder nach Hause geschickt werden müssen,
weil die Medikamente fehlen. Das einstmals österreichische Hilfswerk, das nun
in afghanischen Händen liegt und darum nicht mehr Austrian, sondern Afghan
Relief Committee (ARC) heisst, bekommt keine Gelder von ausländischen
Hilfsorganisationen mehr, da diese in ihren Statuten festhalten, dass nur die
Hilfswerke unterstützt werden, die den Gerichtsstand hierzulande haben. Damit
nicht Gelder verschwinden können und man nicht einmal die Möglichkeit hat, die
Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Botschaft der afghanischen Ärztin
an den Schweizer war unmissverständlich: «Geh zurück in Dein Land und erzähl
von uns, tu etwas.» Dafür setzte sie ihre Existenz und die der Klinik aufs
Spiel, denn hätten die Taliban von dieser kurzen Begegnung erfahren, hätten
sie dadurch einen willkommenen Vorwand erhalten, das Krankenhaus zu schliessen,
was Louis Palmer erst im Nachhinein erfuhr.
Intensive
Vorbereitung auf die Reise
Auch
für ihn selbst waren solche Kontakte nicht ohne Risiko. Und dass er in einem
Land, in dem das Fotografieren sämtlicher Lebewesen verboten war, 15 Filme gefüllt
hat, und zwar zu einem grossen Teil mit Aufnahmen von Menschen, verstiess
ebenfalls ganz klar gegen das Gesetz. Doch die Versuchung war zu gross, selbst
wenn er vor der Einreise in das Land von der UNO gewarnt worden war, er müsse
sich strikt an die Regeln der Taliban halten. «Ich habe mich ja in Pakistan
zwei Wochen lang auf diese Reise vorbereitet», erzählt Louis Palmer weiter. «Eigentlich
wollte ich zunächst gar nicht nach Afghanistan, ich hatte bis dahin selber
Vorurteile und war der Überzeugung, dort werde man umgebracht, gefressen...
Aber als ich hörte, dass vereinzelt Ausländer vor mir im Land waren und auch
wieder unversehrt heraus kamen, wollte ich die Reise unbedingt antreten. Ich wäre
jedoch nicht nach Afghanistan gefahren, wenn ich hätte annehmen müssen, dass
ich mich in Gefahr begeben würde.» Da er sich mit seinem Auto auf der Rückreise
von Nepal befand, wollte er so auch Afghanistan durchqueren. Dass dies
schliesslich geklappt hat, verdankt er afghanischen Freunden in Pakistan. «Die
mir versprochene Road Permission war natürlich für ein pakistanisches Auto
gedacht, ein Schweizer Fahrzeug wollten die Taliban nicht einlassen. Doch mit
Vitamin B erhielt ich die Bewilligung schliesslich doch - was vor mir noch kaum
ein Ausländer geschafft hat. Denn die Taliban lassen sich nicht bestechen, mit
Geld ist da nichts zu machen.»
Mit
Hunden auf den Minenfeldern
Ohne
afghanische Begleiter hingegen durfte der Schweizer gemäss Ratschlag der UNO
nicht reisen, handkehrum erhielt er gerade durch diese Begleiter einen Einblick
in das Land, wie er sonst wohl kaum möglich gewesen wäre. «So besuchte ich
beispielsweise das Camp, wo die Minenhunde ausgebildet werden, und war mit den
Hundeteams auch auf den Minenfeldern, wo die Hunde nach den Minen suchen, die
anschliessend gesprengt werden.» Das Ausbildungslager wurde vor kurzem durch
amerikanische Bomben zerstört. Für Louis Palmer eine Nachricht ganz anderen
Gehalts als für die übrige westliche Welt. «Ich kannte diese Leute, die jetzt
vielleicht tot sind. » Auch das Ende Mai eröffnete Flüchtlingscamp bei Herat,
mitten in der Wüste, in das noch kein Journalist den Fuss setzen durfte, sah
Louis Palmer - dank eines Kanadiers, der dort als Mitarbeiter eines Hilfswerks
Brunnen bohrt. «Das Camp war von der UNO für 10 000 Menschen errichtet worden,
die vor der Dürre flüchteten, doch die Buschauffeure erzählten überall
herum, dass man dort gratis essen, trinken und schlafen könne, sie fuhren die
Leute hin und machten ein Geschäft, und innerhalb eines Monats war das Camp
hoffnungslos überfüllt.» Die Taliban drohten damals, vor einigen Monaten, mit
der Schliessung des Lagers. «Ich wüsste gerne, wie es für die Menschen dort
weiterging», sagt Louis Palmer, «wenn das Camp noch besteht, darf man sich gar
nicht vorstellen, wie es heute aussieht.»
Steinigungen
im Fussballstadion
In
den Städten wurde der Luzerner Zeuge der Brutalität des Regimes. «An einem
Laternenpfahl sah ich ein Stück Tuch flattern, ich dachte zuerst, es sei eine
Fahne. Doch dann klärte man mich auf, dass es sich um den absichtlich hängen
gelassenen Turban eines Diebes handelte, den man am Vortag an dem Pfahl aufgehängt
hatte.» Andernorts stand er vor dem Fussballstadion, wo vor dem Spielbeginn die
richterlichen Urteile vollzogen wurden: Steinigen, Auspeitschen, Hände
Abhacken. «Ich hörte das Publikum im Stadion johlen. Das war ihr übliches
Freitagnachmittag-Programm.» Louis Palmer ist jedoch überzeugt, dass es sich
bei den Menschen, die sich über solche Spektakel belustigen, um eine kleine
Minderheit handle. Er selbst habe von den Einheimischen, wo immer er auch
hinkam, in erster Linie eine Gastfreundschaft erfahren, die alle bisherigen
Erlebnisse des Vielgereisten übertraf. «Alles zusammengezählt habe ich bisher
rund drei Jahre meines Lebens mit Reisen verbracht, ich war in allen
Kontinenten, habe in vielen Ländern die dortige Gastfreundschaft genossen, aber
die der Afghanen ist einmalig.»
Und noch in einem andern Punkt unterscheidet sich diese Reise von seinen früheren, selbst wenn die vielleicht «verrückterer Art» waren - auf dem Fahrrad quer durch Afrika, mit einem gekauften Flugzeug durch den Südwesten Amerikas etc. -: «Normalerweise komme ich von einer Reise nach Hause und erzähle, wie toll dieses war und wie fantastisch jenes... von Afghanistan brachte ich ganz andere, erschütternde Eindrücke mit. Diese Reise hat mich geprägt wie kaum ein Erlebnis zuvor.»
Afghanistan - ein Augenzeugenbericht. Dia-Vortrag aam Dienstag, 20. November im evang. ref. Kirchgemeindehaus Rapperswil, 19.30 bis ca. 21.45 Uhr. Eintritt: 15 Franken. Ein Teil der Einnahmen geht an eine Klinik in Djalalabad. Die zusätzliche Kollekte ist vollumfänglich für die Klinik.