Von den großen Büchern des neunzehnten Jahrhunderts sind die Werke von Darwin wohl
die einzigen, die immer noch im Zusammenhang der
Biologie unserer Zeit gelesen werden können. Selbst sein
Buch von 1871 über die "Abstammung des Menschen", dessen
Titel reichlich antiquiert anmutet, ist nun durch ein
Vorwort von Richard Dawkins, dem populärsten Darwinisten
unserer Tage, zu einer Neuausgabe (Charles Darwin, The
Descent of Man, Gibson Square Books, London 2003) in die
Debatten des zwanzigsten Jahrhunderts über die sexuelle
Auslese hineingezogen worden. Dawkins zieht außerdem
einen bisher unbekannten Darwinbrief heran, um den
Nachteil wettzumachen, daß Darwin abenteuerliche
Vorstellungen über Vererbung vertrat.
Das unvergleichliche Prestige,
das Darwin heute in der Biologie genießt, verführt dazu,
die zeitbedingten Grenzen seines Werkes zu übersehen.
Was das Zentrum des Buches seinerzeit ausmachte, rückt
heute an den Rand. Dazu gehört die These von der
Gattungseinheit der Menschheit, die zu einer
Selbstverständlichkeit geworden ist. [Aber nur bei halbgebildeten
Zeitungsreportern. Die moderne Gentechnik hat inzwischen herausgefunden, daß zwischen
Negriden und Nicht-Negriden ein Gattungsunterschied besteht. Das in der Öffentlichkeit
breit zu treten, ist freilich aus Gründen der politischen Korrektheit nicht opportun, Anm.
Dikigoros.] In ihr mischten sich biologische Erkenntnisse und kulturelle
Überzeugungen: "Wenn der Mensch in der Kultur
fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen
sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung
jeden einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er
seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also
auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder
desselben Volkes, auszudehnen habe. Wenn er einmal an
diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine
künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die
Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen."
Die Biologie schien für eine Moral von unbegrenzter
Reichweite zu sprechen.
Darwin verschwieg nicht den Preis, der für die Durchsetzung
dieses erweiterten Ethos gezahlt werden mußte. Er war
nämlich der Ansicht, daß die "zivilisierten Rassen", die
den Prozeß der Integration der Menschheit anführten, ihn
auf Kosten der "wilden Rassen" vollenden würden. Die
zivilisierten Rassen waren in seinen Augen unbesiegbar
geworden, so daß er die Prognose wagte: "In irgendeiner
zukünftigen Zeit, die nach Jahrhunderten gemessen nicht
einmal sehr fern ist, werden die zivilisierten Rassen
der Menschheit fast mit Bestimmtheit auf der Erde die
wilden Rassen ausgerottet und verdrängt haben." Auch
Alfred Wallace, der unabhängig von Darwin den
Auslesemechanismus entdeckt hatte, war überzeugt, daß
der Daseinskampf zur "unvermeidlichen Auslöschung aller
niederen und geistig unentwickelten Bevölkerungen"
führen werde, die mit Europäern in Berührung kämen.
Bedenkt man, welche Anstrengung der Darwinismus unternommen hatte,
den Menschen aus seiner privilegierten Stellung in der
Natur zu vertreiben, so muß es irritieren, daß sich nun
innerhalb der Menschheit das neue Privileg der
"zivilisierten Rassen" durchsetzen sollte. [Was muß daran irritieren?]
Die aus dem Naturprozeß mühsam eliminierten Rangunterschiede kehrten
in der Zivilisation zurück, alles lief von neuem auf
eine Privilegierung des Menschen hinaus. Der Mensch
besaß zwar das Schöpfungsprivileg nicht mehr, dafür aber
hatte er den Erfolg in der Artenkonkurrenz auf seiner
Seite. Was der Darwinismus dem Menschen genommen hatte,
gab er ihm nun als erworbene Überlegenheit der
"zivilisierten Rassen" zurück.
Die Überzeugung Darwins vom Sieg der zivilisierten um den
Preis der Vernichtung der wilden Rassen war ein spätes
Einlenken im Fortschrittsglauben der Zeit. Die
gemeinsame Abstammung aller Lebewesen von einer einzigen
ursprünglichen Form war eine seiner frühesten
Überzeugungen gewesen, und auch in "Die Entstehung der
Arten" von 1859 hatte er sich jeder Anwendung seiner
Theorie auf den Menschen enthalten und sich im letzten
Satz des Buches auf eine Andeutung beschränkt: "Licht
wird fallen auf den Ursprung des Menschen und seine
Geschichte." Nicht nur seine Scheu, in theologischen
Streit einzutreten, dürfte für diese Zurückhaltung
verantwortlich gewesen sein, auch den säkularen
Fortschrittstheorien mit ihrer Unterscheidung von
höheren und niedrigen Stufen der Kultur mißtraute er:
"Sage niemals höher oder niedriger." In seinem Buch über
die Entstehung der Arten kam deshalb der Begriff der
Entwicklung überhaupt nicht vor. Der Fortschrittsgedanke
war aber im Bewußtsein der Zeit so tief verankert, daß
Darwins Theorie von Anfang an mit ihm in Verbindung
gebracht wurde.
In diesem Sinne war Darwin kein Darwinist, zumindest nicht bis 1871, als er sein Werk über die
"Abstammung des Menschen" veröffentlichte. Stephen Jay Gould meinte, daß er nach langem
Widerstand schließlich doch dem Fortschrittsdenken nachgegeben habe, als er erklärte: "Nach
langem Nachdenken kann ich der Überzeugung nicht Ausweichen, daß es eine fortschreitende
Entwicklung gibt." [Das hat S. J. Gould richtig erkannt. Im übrigen ist er ein Dummschwätzer:
der letzte Anti-Darwinist am Ende des 20. Jahrhunderts, der noch verzweifelte Rückzugsgefechte
gegen die Evolutionslehre führt und sich dabei ausgerechnet auf Darwin beruft - ein Treppenwitz
der Wissenschafts-Geschichte, Anm. Dikigoros] In dem Buch, in dem er eine Theorie der Einheit
des Menschengeschlechts entwickelte und nachwies, daß die Unterschiede der Rassen
evolutionsgeschichtlich bedeutungslos waren, räumte er nun einen Fortschritt in
der Entwicklung der zivilisierten Rassen ein. Während er
bei der natürlichen Auslese nur lokale Anpassungen
angenommen hatte, behauptete er nun für die Entwicklung
der geistigen und körperlichen Verfassung einen
Fortschritt auf lange Sicht und in globalen Dimensionen.
Das Schicksal der Völker, die an diesem
zivilisatorischen Fortschritt nicht teilnahmen, mußte
damit als besiegelt erscheinen. Aktuelle Einsichten, so
lehrt Darwins Buch über die "Abstammung des Menschen",
können auch dort liegen, wo ein Anschluß an
wissenschaftliche Fortschritte nicht zu gewinnen
ist.
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