Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann sagte in seiner Rede zum
Tag der deutschen Einheit: "Wir haben nun gesehen, wie stark und
nachhaltig Juden die revolutionäre Bewegung in Rußland und
mitteleuropäischen Staaten geprägt haben. Mit einer gewissen Berechtigung
könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten
Revolutionsphase nach der "Täterschaft' der Juden fragen...Daher könnte
man Juden mit einiger Berechtigung als "Tätervolk' bezeichnen". Hohmann
bezieht seine Kenntnisse aus einem hetzerischen Machwerk, zu welchen Ernst
Nolte ein Vorwort beisteuerte. Der Historiker behauptet dort, dass der
Mythos vom "jüdischen Bolschewismus" keiner sei, sondern einen rationalen
Kern in der Wirklichkeit besitze. Hohmann hat mit seinen Betrachtungen zur
Geschichte der russischen Juden Argumentationsmuster benutzt, wie sie
schon vor über 80 Jahren unter den völkischen Antisemiten, den Vorläufern
der Nationalsozialisten, kolportiert wurden. Sie sind als Manipulationen
der historischen Wahrheit längst erkannt und angeprangert worden. Hohmann
und Nolte beweisen, dass es eine Vergangenheit, insbesondere die der
russischen Juden gibt, die nicht vergehen soll, um Nolte zu
paraphrasieren.
Auch Alexander Solschenizyn leistet hierzu in seinem Buch "Zweihundert
Jahre zusammen", dessen zweiter Band jetzt erschienen ist, einen Beitrag.
Im Buch wird die Geschichte der sowjetischen Juden von 1917 bis zu den
90er Jahren behandelt. Es hat eine bizarre Vorgeschichte. Im Jahre 2000
tauchte in Russland eine von Anatoli Sidortschenko herausgegene Broschüre
mit drei Texten auf, darunter dem Aufsatz von Alexander Solschenizyn "
Juden in der UdSSR und im zukünftigen Russland", der laut Impressum 1965
verfasst und 1968 umredigiert wurde. Solschenizyn hat dessen Autorenschaft
mit dem Hinweis abgeleugnet, dass es sich um das Produkt eines
geisteskranken Fälschers handele. Nach Erscheinen des zweiten Bandes haben
Historiker, wie Kostyrtschenko und Deitsch festgestellt, dass viele
Textstellen der Broschüre mit Texten im Buch übereinstimmen. Erst ein
halbes Jahr später bequemte sich Solschenizyn, seinen zahlreichen
Kritikern zu antworten. In einem langem Brief vom 8.Oktober 2003 an die
"Literaturnaja Gaseta", bezeichnet er erstmalig den fraglichen Text als
eigenen "Entwurf", der ihm vor Jahren gestohlen worden sei.
Wie schon der erste Band, wurde auch der zweite von vielen Rezensenten
stark kritisiert. Der Autor benutzt fast ausschließlich Sekundärquellen,
darunter mehrere jüdische Nachschlagewerke, wie die obsolete
jüdisch-russische Enzyklopädie von 1906. Wie im ersten Band fehlen auch
hier Materialien aus den nun zugänglichen russischen Archiven. Die
vielfältigen Forschungen westlicher Historiker über Russland und die
Juden, wie die von Pipes, Haberer, Löwe, Lustiger und Redlich, scheint er
nicht zu kennen. Die Fleißarbeit enthält über 1500 Zitate. Unter den über
Tausend erwähnten Personen fehlen Namen von unzähligen Juden, die nicht in
sein Konzept als Täter passen.
Solschenizyns Leitfigur, die oft zitiert wird, ist Wassili Schulgin,
einer der bekanntesten Antisemiten Russlands. Er war bis 1917 Herausgeber
der Pogromisten-Zeitung "Kiewlanin" und verfasste im Exil das Buch "Was
uns an ihnen (den Juden,A. L.) nicht gefällt. Über den Antisemitismus
in Russland", das 1929 in Paris erschien. Solschenizyn zitiert zum
Beispiel Schulgins Rechtfertigung der Judenpogrome durch die Weißen so:
"Aber erstens gaben die "Jidden' wirklich Anlass zum Ärger, und zweitens
hatten die "Helden' nichts zu essen". Als "liberale Hetze" brandmarkt
Solschenizyn die Kritik an den Autoren der "Dorfprosa" Astafjew, Below und
Rasputin, die in Offenen Briefen die Juden als Schuldige an allem Unglück
Russlands bezeichnen.
Solschenizyn gibt zu, dass es hauptsächlich Russen waren, die die
Revolution entfesselten. Aber schuld an der Konsoliderung der Sowjetmacht
seien die jüdischen Bolschewiki. Diese stellten aber in Wirklichkeit eine
Minderheit innerhalb der Minderheit dar; weniger als Tausend Juden
gehörten der bolschewistischen Partei vor dem Revolutionsjahr 1917 an. Es
waren atheistische Renegaten jüdischer Abstammung, die sich für Russen
hielten und sich nie als Juden betrachteten.
Dagegen kämpften Tausende von Juden als Mitglieder der russischen und
jüdischen Parteien, als Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Kadetten, als
sozialdemokratische Bundisten und Zionisten gegen die totalitären
Bolschewiki, für ein demokratisches Rußland.
Außerdem zählten die Juden schon in in den 20er Jahren zu den ersten
Dissidenten. Tausende der jüdischen "Opposizionery" wurden, in die
Straflager von Workuta, Kolyma und Magadan verbracht, wo sie
Hungerstreiks, die eigentlich Häftlingsmeutereien waren, organisierten.
Fast alle wurden erschossen. Die russische Menschenrechts-Organisation
"Memorial" schätzt den Anteil der Juden an den Gefangenen dort auf 30
Prozent, die der Russen auf nur 40 Prozent.
Solschenizyn beansprucht die Rolle eines objektiven Schiedsrichters in
einem ewig andauernden Streit über die Frage, wer an Rußlands Unglück die
Hauptschuld trage; die allgemeine Tendenz seines Buches deutet auf die
Juden als Schuldige hin. Damit wird eine Kollektivschuld-These nicht nur
begründet, sondern auch für ewige Zeiten zementiert. Solschenizyn
verurteilt zwar den Antisemitismus unter Chruschtschow und Breschnew, aber
er beklagt sich darüber, dass die Juden keine Reue für die Verbrechen der
jüdischstämmigen Bolschewiki zeigten. Dient es der von ihm postulierten
Aussöhnung, wenn Solschenizyn die Meinung eines frommen Juden wiedergibt:
"Die Shoa ist in bedeutendem Maße eine Strafe für die Sünden, unter
anderem für die Sünde der Leitung der kommunistischen Bewegung. Das hat
etwas für sich"?
Solschenyzin teilt auch die Meinung einer Publizistin, die er
veröffentlicht: "Heute ist das moralische Kapital von Auschwitz bereits
verausgabt"? Wodurch ist das Kapital des Auschwitzhäftlings Nr. A-5592
Arno Lustiger erschöpft, Gospodin Solschenizyn? Knapp zwanzig Jahre lang
gab es zwar auch jüdischstämmige Schergen des Sowjetregimes, aber 70 lange
Jahre waren Millionen von Juden Opfer der jeweiligen Kremlherrscher.
Auswanderung beendet.
Alexander Solschenizyn: Zweihundert Jahre zusammen. Die Juden in der Sowjetunion. Aus dem Russischen von Andrea Wöhr und Peter Nordqist. Herbig Verlag, München 2003. 608 S., 39,90 Euro
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