FROM RUSSIA WITH LOVE
Aleksandr Nikolajewitsch RADISTSCHEW:
Puteschestwie iz Peterburga w Moskwú*
*Reise von Peterburg nach Moskau

"Auf der Welt dreht sich alles wie ein Rad.
Heute ist klug Mode, morgen dumm....
Ändere nur den Namen - und die
Geschichte berichtet von dir."

[Aleksandr Radistschew]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
LÄSTERMAUL  AUF  REISEN
Große Satiren der Weltliteratur

Gebt es ruhig zu, liebe deutsche Leser, daß Ihr weder von dem Autor noch von dem Buch je etwas gehört habt und nur versehentlich auf diese Webseite gestoßen seid, weil Ihr dahinter etwas über den gleichnamigen James-Bond-Film vermutet habt. Besonders für Euch, liebe Ossis, ist das eine Schande - habt Ihr im Russisch-Unterricht wieder mal nicht aufgepaßt?! Denn obwohl (oder gerade weil :-) das Buch eine beißende Satire auf die Zustände im alten Rußland war (vielleicht angeregt von Montesquieus "Lettres Persanes"; Radistschew war von der deutschen Zarin Katharina II ["der Großen"] zum Jura-Studium nach Leipzig geschickt worden, wo er sicher nicht nur "L'Esprit des Lois", sondern auch die anderen Werke des damals von Juristen - und solchen, die es werden wollten - viel gelesenen Franzosen kennen gelernt hatte), war das Buch zu Sowjet-Zeiten von Staats wegen wohl gelitten und stand auf den Lehrplänen für russische Literatur, denn es kritisierte ja nicht die ruhmreiche Sowjet-Union, sondern ihren Todfeind, das Zarenreich, trug also zu ihrer Lebenslüge bei, das russische Volk von alledem "befreit" zu haben. Radistschew - der das Buch im Samizdát heraus brachte, weil sich kein Verleger traute, es zu drucken - wurde dafür von Katharina II nach Sibirien verbannt, wie ein Jahrhundert nach ihm Lenin und andere Kommunisten; er konnte also von den Sowjets als "erster Vorläufer der Revolution" in Anspruch genommen werden. [Bei alledem wird meist geflissentlich verschwiegen, daß es in Sibirien damals nicht annähernd so schlimm zuging wie später zu Sowjet-Zeiten (es war wirklich "nur" eine Verbannung, kein Straflager mit Zwangsarbeit), daß Radistschew schon von Katharinas Nachfolger, Pawel I, begnadigt wurde und daß auch das Verbot seines Buches noch zu Zarenzeiten, nämlich 1905 unter Zar Nikolaj II, aufgehoben wurde; im Westen hatte es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts der russische Exilant Aleksandr Herzen veröffentlicht. In der DDR kam die erste Übersetzung im Juli 1961 heraus - wenige Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer. Eine schöne Ausgabe, auf leidlich gutem Papier (was in der DDR immer der Erwähnung bedarf), ordentlich gebunden in einen schönen Buchrücken, mit korrekter Transkription der russischen Namen (der selben, die auch Dikigoros verwendet :-) und brauchbaren Anmerkungen (auch wenn man ihnen natürlich bisweilen ihre Herkunft aus dem "Arbeiter- und Bauernstaat" anmerkt). In der BRD ist bis heute keine einzige Ausgabe erschienen.]

Dikigoros kann sich freilich noch ziemlich genau an seine erste eigene Reise in umgekehrter Richtung von Moskau nach Peterburg (nein, es heißt nicht "Petersburg", das Genitiv-s ist ein Germanismus!) erinnern, das damals "Leningrad" hieß, und er kann Euch versichern, daß sich die Verhältnisse seit Radistschew um keinen Deut verbessert hatten. [Nicht, daß sie sich inzwischen, d.h. seit dem Ende der Sowjet-Union, verbessert hätten; dem Vernehmen nach kann man es heutzutage nur noch unter Lebensgefahr wagen, zumal als Ausländer, in Rußland einen Nachtzug zu besteigen. Dikigoros selber könnte es vielleicht noch, aber damals hatte er seine Frau dabei, und die würde sich schön bedanken.] Die Sowjets hatten ganz richtig erkannt, daß man als der Landessprache kundiger Ausländer auf einer Bahnfahrt unheimlich viel über ein Land erfahren kann, indem man einfach nur aus dem Fenster schaut und sich mit den Einheimischen über das, was man dabei sieht, unterhält. Ja, unheimlich war das den Machthabern, und das durfte nicht sein, deshalb wurden die Ausländer in streng vom übrigen Zug isolierte, verblombte und von schwer bewaffnetem Militär begleitete Waggons gesperrt, die sie nicht verlassen durften - es gab nicht einmal Toiletten, man hätte allenfalls auf den Gang machen können (und das nannte sich "1. Klasse", wurde jedenfalls als solche in Rechnung gestellt!); und mit der Abfahrt wurde gewartet, bis es draußen stockdunkel war, damit nur ja niemand eine strategisch wichtige Brücke oder Waffenfabrik zu Gesicht bekäme. Und natürlich auch sonst nichts. Hand aufs Hirn, liebe Leser, wer von Euch könnte, ohne in den Atlas zu schauen, auf Anhieb sagen, was zwischen der alten und der neuen Hauptstadt Rußlands an Sehenswertem liegt? Die alten Hansestädte Twer (das von 1931 bis 1991 "Kalinin" hieß, nach Stalins Marionetten-Präsident - nach dem auch das preußische Königsberg 1945 in "Kaliningrad" umbenannt wurde) und Nowgorod (heute Zentrum nicht ganz ernst zu nehmender Unabhängigkeits-Bestrebungen von "Ingermanland") - beide im 16. Jahrhundert von den Moskowitern zerstört, aber im 18. Jahrhundert wieder aufgebaut; dazwischen die Waldai-Höhen, wo im Zweiten Weltkrieg die furchtbare Kesselschlacht tobte, in der auch Dikigoros' Schwiegervater beinahe drauf gegangen wäre. Und viel zerstörte Umwelt - das deutsche Wort "Waldsterben" und das, was man damit verbindet, hat seinen Siegeszug um die Welt angetreten.

Heutzutage, im "demokratischen" Rußland, sind die Methoden subtiler geworden: Man lädt die - mehr denn je geschröpften - Valuta-Touristen auf Vergnügungsdampfer und schippert sie weiter östlich den Moskau-Wolga-Kanal, die Wolga und den Wolchow hinauf, über den Ladoga-See bis zur Newa. Halt gemacht wird nur an ausgewählten, pittoresken Orten, wo ihnen etwas künstliche "Folklore" vorgeklampft wird; wo es dagegen etwas Unerwünschtes zu sehen geben könnte, werden sie mit Freßbüffets und Alkoholika abgelenkt. Die Reiseführer erzählen dann vielleicht, daß die alten Fürstentümer "Tver" und "Novgorod" einst unter Iwan dem Großen mit Rußland "wiedervereinigt" und die Bevölkerung "ausgesiedelt" worden sei - so kann man es auch sehen, wenn man mal außer Acht läßt, daß die Moskowiter nicht die Rus waren - deren alte Hauptstadt Nowgorod war, vor Kiew -, und daß "aussiedeln" (ein Wort, das übrigens auch der deutsche Brockhaus für diesen Vorgang verwendet) eine etwas ungenaue Umschreibung für "in kleine Stücke hacken und an Iwans Fische verfüttern" ist. Aber das interessiert die meisten Reisenden ja sowieso nicht.

Doch Radistschew interessierte es brennend, und was er z.B. über die Zerstörung Nowgorods (und anderer Städte) durch Iwan (und andere Herrscher) schreibt, ist eine bis heute aktuelle Anklage nicht nur gegen den Barbarismus der Moskowiter in der Vergangenheit; denn er fragt nicht nur nach dem "Recht", mit dem das alles geschah (er schließt messerscharf, daß es wohl das Recht des Stärkeren war), sondern auch nach dem "Recht", es in der Gegenwart zu verschweigen oder schön zu reden. Aber was hat diese offene Anklage mit Satire zu tun?

(...)

Fortsetzungen folgen

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