Jugendgewalt

Gewalttätig, weil die Perspektiven fehlen

"Und dann passierts halt"
Eine 15-jährige Schülerin schlägt zu, wenn ihr jemand frech kommt. Wer Gewalt anwendet, ist nicht mutig, sondern schwach, sagt sie. » weiter

"Sonst war man ein Weichei"
Heute ist er ein fürsorglicher Familienvater und verabscheut Gewalt. Als Jugend- licher hat er dreingeschlagen, um sich Respekt zu verschaffen. » weiter

Gewalttätig, weil die Perspektiven fehlen
Jugendliche, die keine Zukunft sehen, greifen in ihrer Not auch zu Gewalt. Ausländer werden besonders oft handgreiflich. Die Ausgrenzung, unter der sie leiden, sei auch eine Art von Gewalt, sagen Fachleute.

Von Monika Zech

Jugendliche mit schlechter Schulbildung neigen eher zu Gewalt als solche mit guter Ausbildung. Was als These schon länger existiert, hat eine Soziologin der Universität Zürich kürzlich in einer Studie mit Zahlen aus dem Kanton Zürich untermauert. Mehr als zwei Drittel der Gewaltdelikte werden von Real- und Oberschülern verübt. Dagegen sind nur wenig mehr als ein Prozent der Gymnasiasten gewalttätig. Besonders häufig sind ausländische Jugendliche an Schlägereien beteiligt. Nur ein kleiner Teil von ihnen kommt in den Genuss der höheren Schulbildung, zu gross sind in der Regel die Hürden, die es für Kinder fremdsprachiger Eltern zu überwinden gilt.

Integration heisst das Lösungswort, das Politikerinnen und Politiker aller Lager gerne in den Mund nehmen. Doch bei der Frage, wer und wie integriert werden soll, gehen die Vorstellungen wie gewohnt diametral auseinander. So verhinderte die Zürcher SVP 1998 erfolgreich einen städtischen Beitrag von 50 000 Franken an das Kosovo-Kontaktnetz der Caritas. In diesem Integrationsprojekt pflegen Schweizer Familien einen regelmässigen Kontakt zu solchen aus Kosovo, um sich gegenseitig verstehen zu lernen. Profitieren sollen laut Caritas vor allem auch die albanischen Frauen, die meist völlig isoliert lebten und kaum Gelegenheit hätten, die deutsche Sprache zu lernen.

Wichtige Rolle der Mütter

Bei den Müttern müsse man ansetzen, sagt Pfarrer Markus Giger, der im Zürcher Kreis 4 in einem sozialdiakonischen Projekt der Methodistenkirche den Jugendbereich leitet. "Ich staune immer wieder, dass in Analysen zur Jugendgewalt die Mütter kaum vorkommen", so Giger. Dabei seien gerade sie diejenigen, welche in der Familie die zentrale Rolle spielten und einen wichtigen Einfluss auf ihre Kinder ausüben könnten.

Aber diese Frauen, die zuvor in ihrer Heimat vielleicht einen 15-köpfigen Haushalt im Griff gehabt hätten, lebten bei uns unversehens in völliger Isolation, ohne Kenntnisse hiesiger Sprache oder Schulsysteme. "Sie werden blind, taub und stumm - weil sie nichts mehr zu sagen haben." Will man nicht erst intervenieren, wenn der Jugendliche bereits gewalttätig geworden ist, führt gemäss Giger langfristig kein Weg an den Müttern vorbei. "Sie sind der Schlüssel zur Integration."

Der Pfarrer, der in einem Zürcher Quartier mit einem hohen Anteil an Ausländern arbeitet, hat häufig mit Jugendlichen zu tun, die bereits straffällig geworden sind. Gewalt nimmt er in den verschiedensten Formen wahr. Körperliche Gewalt sei zwar die auffälligste, aber nur eine davon. Giger erlebt den Täter dabei immer auch als Opfer: als Opfer von familiärer Gewalt, aber auch als Opfer des Systems.

Die starren Voraussetzungen für eine Berufsbildung zum Beispiel empfinde ein Jugendlicher, der nicht genügen kann, als eine Art Gewalt. "Er ist unterlegen", erklärt Markus Giger, "und nun fehlen ihm die Perspektiven für die Zukunft." Befinde sich ein Jugendlicher bereits in der Gewaltspirale, gebe es für ihn zwei Möglichkeiten, wieder herauszukommen. Die eine bezeichnet der Pfarrer als "kleines Wunder". Dann nämlich, wenn der junge Mensch neue Inhalte und Werte kennen lerne, mit denen er sich identifizieren könne. "Wenn er den Lebensanker auswerfen und sich dorthin ziehen lassen kann." Zum andern könne aber auch das Erwischtwerden eine Chance sein, "durch das klare und stark signalisierende Eingreifen des Staates".

Im Jugendstrafrecht steht der erzieherische Aspekt zu Recht vor demjenigen der Bestrafung. Mit der geplanten Revision soll dieser Gedanke noch stärker verankert werden - Mediation heisst die Lösung. Der jugendliche Täter müsste demnach nicht mehr vor dem Richter erscheinen - falls er geständig ist -, sondern sich mit seinem Opfer zusammensetzen, unter Aufsicht eines Mediators. Als eine Art Wiedergutmachung soll dann eine Leistung ausgehandelt werden, die der Täter zu erbringen hat.

Repression bringt wenig

Repressive Massnahmen bringen bei perspektivlosen Jugendlichen nicht viel, sagt Hansuli Gürber, Pressesprecher der Jugendstaatsanwaltschaft im Kanton Zürich. Und: "Die Schwierigkeiten dieser jungen Menschen dürfen nicht noch grösser gemacht werden." Schon seit über zwei Jahren biete der Kanton Zürich solchen Tätern Kurse an, in denen Konfliktbewältigung ohne Gewalt trainiert werde. Gürber spricht von erstaunlich guten Erfahrungen, die man damit gemacht hat. Bisher habe kein Einziger dieser Kursteilnehmer wieder delinquiert.

"Es geht eben nicht nur darum, über die Tat nachzudenken, sondern auch darum, herauszufinden, weshalb die Täter sich derart unter Druck gefühlt haben", erläutert Gürber. Man dürfe den schwarzen Peter nicht einfach dem Jugendlichen in die Hand drücken. "Der Mangel an Perspektiven zieht sich zum Beispiel wie ein roter Faden durch die Jugendkriminalität." Eine unbefriedigende Situation drücke sich oft in Gewaltakten aus. Während diese heutzutage vermehrt gegen andere gerichtet würden, sei früher die häufigste Form von Gewalt diejenige gegen sich selber gewesen - etwa mit harten Drogen.




"Und dann passierts halt"
Eine 15-jährige Schülerin schlägt zu, wenn ihr jemand frech kommt. Wer Gewalt anwendet, ist nicht mutig, sondern schwach, sagt sie.

 

Sara* sieht nicht aus wie eine, die zuschlägt. Sie ist gross, aber feingliedrig. Ihre Hände sind schmal, ihre Gesichtszüge zart. "Ich bin keine Schlägerin", sagt sie. Und doch hat sie erst am Vortag einem anderen Mädchen in der Schule "eis gschmiert". Und sie getreten.

Nachher tut es ihr Leid

Sie hasst es, wenn jemand hinter ihrem Rücken über sie tratscht. Nicht wegen ihrer dunklen Hautfarbe. Damit hat sie, die aus Somalia stammt, keine grossen Probleme. Ihr Outfit unterscheidet sich einzig durch das Kopftuch von dem der westeuropäischen Jugendlichen - dazu trägt sie Jeans, T-Shirt, Turnschuhe. "Es gibt schon welche, die blöde Sprüche machen", räumt sie ein, "das sind meist selber Ausländer." Denen geht sie aber aus dem Weg. Wirklich in Rage bringen sie in letzter Zeit eher die Mädchen. Wenn sie Lügen über sie verbreiten. Sie schlecht machen. Und dann nicht mal dazu stehen.

"Reden, reden - das hab ich schon x-mal gehört", sagt sie. Aber wenn eine, die ihr "megafrech kommt, nicht zuhört, mich nicht versteht, muss ich irgendwann dreinhauen". Einmal, bis die andere aus der Nase blutete - und Sara an der Lippe. Nachher tut es ihr Leid - schliesslich schlägt sie nicht diejenigen, welche ihr egal sind. Die können ihre Gefühle nicht verletzen. "Aber rückgängig machen kann ich es nicht."

Sie möchte nicht mehr prügeln. Sie mag nicht, wenn die anderen Angst vor ihr haben, wenn die neuen Schüler zu ihr sagen: "Du bist doch die Megastarke." Gross und stark ist Sara zwar, dennoch gefällt ihr die Bezeichnung nicht. Wer zuschlägt, sei nicht mutig, sondern schwach. Das weiss sie. Und sie schämt sich. Es sei nur so, dass sie selten weglaufen könne, wenn sie provoziert werde. "Ich werde megahässig und nervös - und dann passierts."

Bei ihrer "allerbesten Freundin" hat sie allerdings nicht zugeschlagen. Damals, als sie Streit hatten. Sara hat stattdessen geweint. Sie haben sich gegenseitig getröstet, und alles war gut. "Meine Freundin würde ich nie verhauen, sie ist wie eine Schwester für mich." Sara hat ein paar Schwestern, Brüder auch. Mit sechs Geschwistern und ihren Eltern wohnt die 15-Jährige in Zürich.

Nein, zu Hause werde nicht geschlagen, betont sie. Sicher würde der Vater manchmal "Lämpen machen". Er zieht vielleicht mal an den Ohren oder so. "In unserer Kultur hat man jedoch Respekt vor den Eltern", sagt Sara. "Nicht wie die Schweizer Kinder, die ihr Zimmer nicht aufräumen, obwohl es die Mutter befohlen hat."

Sara war fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Familie ihr Heimatland in Richtung Europa verliess. Es herrschte Krieg in Somalia. Sara erinnert sich nicht daran. "Meine Mutter hat mir erzählt, wie es in Somalia war." Auch wie das mit der Liebe dort sei. Die Mutter habe mit 16 geheiratet. Sara möchte das nicht, nicht so jung. "Ich bin auch Somalierin, aber ich lebe jetzt hier." Eine 19-jährige Schwester von ihr ist zwar auch verheiratet und schon Mutter eines Kindes. Doch Sara will zuerst einen Beruf erlernen. Sie weiss auch welchen: "Krankenschwester."

Erwachsen vorgekommen

Geschnuppert im Spital hat sie schon. Nein, sie ist dort nie ausgeflippt. Es hat ihr gefallen. Vor allem, wie die Angestellten miteinander umgingen, redeten. Auch mit ihr. Sie hätten ganz andere Gesprächsthemen gehabt als die Jugendlichen: "Wir reden über die neuste CD oder das Poster von dem und dem." Ob man dies oder das schon gekauft hat. Im Spital dagegen habe man während der Kaffeepause etwa die Visite besprochen, über Patienten geredet und sich erzählt, wie es zu Hause so lief. Das habe ihr sehr gut gefallen. "Ich bin mir so erwachsen vorgekommen." (mz)



"Sonst war man ein Weichei"
Heute ist er ein fürsorglicher Familien vater und verabscheut Gewalt. Als Jugendlicher hat er dreinge- schlagen, um sich Respekt zu verschaffen.

 

Mitten in seiner Erzählung stockt Max Siegentaler*. "Heute meine Taten zu beschreiben, schockiert mich richtiggehend", erklärt er. Lange Zeit habe er mit niemandem so ausführlich darüber geredet - siebzehn Jahre sind seither vergangen. Inzwischen ist der 32-jährige Schweizer verheiratet, Vater von zwei kleinen Töchtern und hat Freude an seiner Arbeit als Fitnesstrainer. Unvorstellbar, dass er heutzutage einen Konflikt mit den Fäusten lösen würde.

Cliquen-Schlägereien

In seiner Jugend war das ganz anders. Schlägereien unter den Cliquen der verschiedenen Gemeinschaftszentren der Stadt Zürich waren normal. "Wenn einer aus dem Bachwiesen von einer Gruppe aus dem Loogarten verhauen worden war, versammelten sich die vom Bachwiesen und verprügelten die aus dem Loogarten." - "Wir sind aber nie mit Waffen aufeinander losgegangen", betont Siegentaler. Ebenso wenig sei je einer auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten.

Bis zu dem Tag, als Max zusammen mit einem Kollegen "aus lauter Langeweile" einen Jugendlichen, der als Aussenseiter galt, regelrecht malträtierte. "Wir packten ihn, quälten ihn, indem wir Zigaretten auf seinen Händen ausdrückten, und warfen ihn anschliessend ins Gebüsch." Am gleichen Abend wurde Max von Polizisten abgeholt. Sie kannten ihn bereits - als Ladendieb und weil er bei einem Kiosk einen Automaten geknackt hatte.

Nach der obligatorischen - nicht sehr erfolgreichen - Schulzeit hing er monatelang herum und kümmerte sich nicht um eine Lehrstelle. Die Mutter, IV-Rentnerin, sei mit ihm hoffnungslos überfordert gewesen, seinen Vater hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Bestätigung holte er sich bei Gleichaltrigen mit ähnlichen Biografien. Er sei nicht der typische Schläger gewesen. "Aber vor allem mit den Fäusten konnte ich mir Respekt verschaffen." Und Mitleid mit dem Opfer? Ja, manchmal habe er sich schon Gedanken gemacht. "Aber gegen aussen musste ich den Coolen spielen - sonst hätte man mich als Weichei bezeichnet."

Max schloss sich als rund 15-Jähriger einer Clique an, die von einem 20-Jährigen angeführt wurde. Reto* sei ein harter Typ gewesen und galt als Respektsperson. "Man wollte von ihm geachtet werden." Deshalb hat Max mitgemacht, als die Bande Schwule an deren Treffpunkten heimsuchte und verprügelte. Kopfschüttelnd meint Siegentaler: "Ich weiss nicht, weshalb wir ausgerechnet auf sie losgingen." Wenn ihr Opfer am Boden lag, wurde es von den Jugendlichen ausgeraubt.

Vom Anführer verraten

Später wurde abgemacht, künftig die Homosexuellen nicht mehr niederzuschlagen, sondern mit Messern zu bedrohen, um sie auszurauben. Einmal verlor Reto dabei völlig die Beherrschung: "Er rammte einem flüchtenden Mann das Messer in den Rücken." Reto wurde verhaftet, er verriet die Namen der anderen, und Max landete im Heim.

Die Regeln unter den Insassen waren die, die Max schon kannte: "Als Neuling durftest du dir nichts gefallen lassen." Wiederum ging es darum, sich Respekt zu verschaffen. Er integrierte sich gut im Heim, wollte dort schliesslich eine Malerlehre machen. "Aber die Jugendanwälte hörten nie richtig zu." Er wurde versetzt, trotzte, was die nächste Versetzung zur Folge hatte, und so weiter, bis er nach gut zwei Jahren ins erste Heim zurückkehrte, "wo ich von Anfang an bleiben wollte".

Die gute Wendung hatte er hauptsächlich seiner Mutter zu verdanken, die ihren Sohn nie aufgab. Max schloss im Heim seine Malerlehre ab und wurde als knapp 20-Jähriger entlassen. Er fasste Fuss in einer Umgebung, wo man sich anders als mit den Fäusten Respekt verschafft. "Ich habe wahrscheinlich Glück gehabt", glaubt er. "Im Gegensatz zu den meisten meiner ehemaligen Kumpels." (mz)

* Alle Namen geändert

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