Schweiz
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Zwei Tage im Mai werden mir bis ans Lebensende im Gedächtnis bleiben: Der 10. Mai 1940, als der Krieg im Westen begann und der 8. Mai 1945, als wir das Kriegsende feierten. Es will mir scheinen, dass jungen Historikern die Vorstellungskraft fehlt, um zu begreifen, wie es uns damals zumute war. Wie schwer fällt es doch den Generationen, sich gegenseitig zu verstehen!
Ende November 1939 bin ich aus der Rekrutenschule zur Grenzschutzkompanie I/266 gekommen. Die Wehrmänner stammten aus dem Klettgau, aus den beiden Hallau, Wilchingen, Trasadingen, Osterfingen, Neunkirch und Gächlingen. Wir wurden die Schulmeis-terkompanie genannt. Wichtigste Chargen waren von Lehrern besetzt: Hauptmann Hans Neukomm, Reallehrer aus Hallau, Feldweibel Paul Rahm, Lehrer in Schleitheim, Fourier Paul Rüger, Lehrer in Wilchingen. Unser viel kritisierter Häuptling hielt die Pedanterie für seine Pflicht. Er vergass, dass die Soldaten nicht aufhören zu denken, wenn sie in die Uniform schlüpfen. Die Wilchinger behaupteten, dass er bei den Beurlaubungen die Hallauer bevorzugte.
Wir Soldaten waren keine besonders eifrigen Patrioten und neigten als Klettgauer zur Rebellion. Wir drückten uns vor gewissen Verrichtungen, wie es Soldaten seit eh und je getan haben. Wir fluchten über das übermässig betriebene Exerzieren, über den Gewehrgriff und den Taktschritt. Unsere Garnison war Schlatt, an der klassischen Einfallsachse feindlicher Armeen. Vom Schaarenwald bis nach Zürich ins Herz der Schweiz gibt es keine bedeutenden Geländehindernisse.
Wir neigten als Klettgauer zur Rebellion.
Der Auftrag an unsere Kompanie lautete: Sie hält den Talkessel von Schlatt! Davon konnte keine Rede sein. Keiner von uns gab sich dieser Illusion hin. Wir wussten alle, dass wir einen deutschen Angriff höchstens bremsen konnten und dass wir uns im Verzögerungsraum befanden, der bis an die Limmat ging. Wenn die Kompanie zerschlagen war, sollten sich die Überlebenden als Partisanen in die Wälder des Kohlfirsts zurückziehen, wo es nur den Offizieren bekannte Munitionsdepots gab. Man muss sagen, dass die Schweizer die Lehren aus dem Polenfeldzug im September 1939 gezogen hatten. Die raschen Erfolge der Deutschen beruhten auf einer neuen Kampfmethode, auf dem Vorstoss der Panzerdivisionen im Zusammenwirken mit der Luftwaffe. So lagen wir in der Phase des Drole de guerre, als sich die Armeen untätig gegenüberlagen, im Gegensatz zu den Franzosen nicht auf der faulen Haut. Die lineare Verteidigung am Rhein wurde aufgegeben und die Abwehrfront in die Tiefe gestaffelt. In harter Tag- und Nachtarbeit wurden an Orten, die für Panzer nicht zugänglich waren, den Einfallsachsen entlang so genannte Igelstellungen errichtet.
Wenn die Kompanie zerschlagen war, sollten sich die Überlebenden als Partisanen in die Wälder des Kohlfirsts zurückziehen.
Unsere Kompanie hatte ein solches Bollwerk auf dem Galgenbuck am abschüssigen Abhang des Kohlfirsts hinter der Bahnstation Schlatt zu bauen. Diese Arbeit schien uns sinnvoll, so dass wir uns mit ungewöhnlichem Eifer einsetzten. Wir hatten das Glück, in unserer Einheit ausser Schulmeistern auch einen Baumeister zu haben: den Oberleutnant Erwin Leu. Er übernahm das Kommando, behandelte uns als willige Mitarbeiter und hatte sich hervorragend bewährt. Wir hoben kreisförmig Schützengräben aus mit Kanzeln für die uns zugeteilten Maschinengewehre und in der Mitte tief unter der Erde einen Mannschaftsraum. Darin wollten wir den ersten Angriff mit Bordfeuer aus Messerschmitt Flugzeugen und Artilleriebeschuss überstehen. In Richtung Schaarenwald fällten wir, ohne den Förster zu fragen, Bäume für Schussschneisen. Als einziger Student in einer Kompanie von Bauern, Handwerkern und "Fabrikbüezern" wurde ich vom Schaufeln und Pickeln dispensiert. Ich erhielt den Auftrag, mit einer Garette Kistenbier aus der Wirtschaft beim Bahnhof heraufzufugen. "Lass Dich nicht erwischen!", sagte mir Oberleutnant Leu. Als Bierfuhrmann erwarb ich den Respekt und Beifall der Kameraden, wurde aber in der Erwartung, für meine Leistungen zum Gefreiten befördert zu werden, enttäuscht.
Mitte März 1940 wurde ich zum Nachrichtendienst auf den Beobachtungsposten Flüeli ob der Wutachbrücke bei Oberwiesen abkommandiert. Dort sah ich mit eigenen Augen den Aufmarsch einer deutschen Armee im Schwarzwald. Erst nach Kriegsende erfuhren wir, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelte, um französische Divisionen im Elsass zu binden.
Wir glaubten an den Mythos der Maginotlinie und an die Absicht der Deutschen, den unbesiegbaren Festungswall durch den Durchmarsch durch unser Land zu umgehen. Am 8. April erfolgte der deutsche Überfall auf Dänemark und Norwegen. Wir waren davon überzeugt, dass jetzt die Schweiz an der Reihe sei. Warum sollten wir verschont bleiben?
Ende April zu meiner Kompanie in Schlatt zurückgekehrt
fand ich meine Kameraden in tiefer Sorge. Die Gerüchtemacherei
hatte einen Höhepunkt erreicht, man rechnete mit dem deutschen
Einmarsch in den nächsten Tagen.
Am Nachmittag des 9. April gruben wir im flachen Gelände
zwischen dem Kundelfingerhof und der Strasse nach Schlatt etwa
40 Panzerminen ein, dilettantisch, denn keiner von uns hatte jemals
eine Ausbildung an dieser Waffe. Um 10 Uhr waren wir eben daran,
uns in einem Raum des Schulhauses Schlatt ins Stroh zu betten,
als Feldweibel Rahm ins Kantonnement stürzte: "Kriegsalarm!
Si chömed!" Von Panik und Angstausbrüchen keine
Rede! Still und stumm nahmen wir unsere Tornister, den Karabiner
und fassten im Magazin die Munition.
Wir neigten als Klettgauer zur Rebellion.
Nur einem Korporal sah ich Tränen über die Backen rinnen; er hatte sich am letzten Sonntag verlobt und bangte um sein junges Glück. So trotteten wir in unsere vorbereiteten Posten, das Gros der Kompanie auf den Galgenbuck und ein Zug zum Kundelfingerhof, um die eindringenden Feinde von der Flanke her zu packen. Ich war mit einem leichten Maschinengewehr (LMG) zum Schutz einer Infanteriekanone (IK) befohlen, die in einem Schuppen an der Strasse von der Station Schlatt ins Dorf in Deckung lag. Es war eine milde Maiennacht. Silberwölklein flogen. Der Verdunkelung wegen hatte es auf der Erde keine Lichter, umso heller leuchteten die Sterne. Vor uns die schwarze Wand des Schaarenwalds, dahinter der langgestreckte Rücken des Gailingerbergs. Welch stille und friedliche Welt ringsum! Und doch lag etwas Unheimliches in der Luft.
Jene Nacht auf den 10. Mai 1940 ist mir vor allem unvergesslich geblieben, weil sie mir Schwächen vor Augen führte. Weit und breit kein Fliegerabwehrgeschütz. Wir hatten zu wenig Munition! Für die IK mögen etwa zehn Granaten vorhanden gewesen sein. Für mein LMG hatte ich 15 Magazine zu 30 Schuss. Der Widerstandswille war intakt. In unserer Kompanie ging wie eine Obsession das unchristliche Motto: "Wänns mi butzt, mönd wenigstens füüf Schwoobe mit!" Aber die Widerstandskraft war ungenügend.
Die unglückliche Rede des Bundespräsidenten Pilet-Golaz haben wir Soldaten kaum zur Kenntnis genommen.
Mit ungeheurer Spannung erwarteten wir die Morgendämmerung, das Büchsenlicht, wie es in der Militär- und Jägersprache hiess. Zeitpunkt des deutschen Angriffs! Ich sehe noch deutlich vor mir wie sich der Himmel im Osten rötete. Im Schaaren drüben blieb alles ruhig. Im Kundelfingerhof bellte der Hund, wir sahen wie sich der Bauer Spiess in den Stall begab, um die Kühe zu melken. Freudig begrüssten wir den Sonnenaufgang, noch freudiger nach der durchwachten Nacht den heissen Kaffee, den uns der gute Fourier Paul Rüger schicken liess. In einem Winkel des Dorfes Schlatt hielt er die fahrbare Feldküche unter Feuer und sorgte für die Verpflegung, ein wichtiger Faktor für die Moral der Truppe.
Der Tag verlief undramatisch. Wir bauten unsere Stellung aus. Die Offiziere waren freundlicher als sonst. Vor unseren Augen fuhren Autos mit Schaffhausern vorbei, die ins Toggenburg flüchteten, nur wenige, denn der Hauptstrom der Evakuation ging über Uhwiesen in die Innerschweiz. Wir haben über die Flüchtlinge nicht gespottet. Der Vorwurf der Feigheit kam erst später auf. Für die Schaffhauser war ja die Gefahr so nahe, hinter dem Randen, hinter der Wutach. Am Nachmittag erschien Feldweibel Rahm auf unserem Posten. Er hatte einen Radioapparat in seinem Korpsmaterial und orientierte uns über die deutsche Invasion in Belgien und Holland. Soldaten fielen nicht bei Schaffhausen am Hochrhein, sondern am Nieder-rhein und an der Maas. Am 10. Mai begann die neue Phase des Zweiten Weltkriegs mit gewaltigen Erfolgen der deutschen Wehrmacht. Wir haben uns in manchem getäuscht. Wir überschätzten die Franzosen und vom italienischen Diktator Mussolini und seinem faschistischen Anhang dachten wir, dass sie eher bellten als bissen. Die unglückliche Rede des Bundes-präsidenten Pilet-Golaz, der die Historiker später so grosse Bedeutung beimassen, haben wir Soldaten kaum zur Kenntnis genommen. Aber der schnelle Zusammenbruch Frankreichs löste auch in unserer Kompanie eine defätis-tische Stimmung aus. Da gibt es nichts zu beschönigen. Erst der Ausbau des Alpenreduits gab uns wieder Vertrauen.
Wenn alte Leute gefragt werden, welches der schönste Tag ihres Lebens gewesen sei, muss ich mich nicht lange besinnen. Ich nenne den 8. Mai 1945, den Tag, der in der Schweiz als Friedensfest, im Ausland als victory day gefeiert wurde.
Es gibt in der deutschen Sprache kein Wort, das auszudrücken vermag, was wir empfanden.
Welch ein Wandel seit den düsteren Maitagen 1940! Das
Dritte Reich Adolf Hitlers, das vor fünf Jahren triumphiert
hatte, lag zerschmettert am Boden, genau 2075 Tage seit dem Kriegsbeginn.
Es gibt in der deutschen Sprache kein Wort, das auszudrücken
vermag, was wir empfanden.
Eine ungeheure Erleichterung! Obwohl vom Krieg verschont, waren
auch wir kriegsmüde, hatten übergenug von Blut und Tränen,
von der Mangelwirtschaft, den Fliegeralarmen, von den ständigen
Aufgeboten zum Aktivdienst. Nur langsam drang in unser Bewusstsein
die Tatsache, dass eine neue Zeit angebrochen war. Am Vortag verkündete
Bundespräsident von Steiger am Radio: "Die unsäglichen
Leiden der vom Krieg heimgesuchten Völker gehen nun zu Ende.
Voll Dankbarkeit vereinigen sich unsere Herzen mit allen, die
von Druck und Not befreit werden und denen das Licht der Freiheit
wieder leuchtet."
Wir Schaffhauser Studenten fanden uns am Morgen des 8. Mais 1945 spontan in der Mensa des Zürcher Studentenheims zusammen. Dort waren die Portionen schmal geworden. Wir betäubten das Hungergefühl nachts in der Bude mit nie rationiertem Kartoffelschnaps. Am Speisebuffet waltete die Schleitheimerin Esther Gehring, die ihren Landsleuten mehr Kartoffelstock in den Teller schöpfte als anderen. Ihr sei ein spätes Kränzlein gewunden!
Wir beschlossen, den Tag mit einer Schifffahrt auf dem Zürichsee zu feiern. Unterwegs begannen alle Kirchenglocken zu läuten. Schöner haben sie uns nie in den Ohren geklungen. Glückliche Gesichter überall! Am Mythenquai begegnete ich dem Major Merz, der mich 1943 in der Offiziersschule schändlich schikaniert und dem ich Rache geschworen hatte. Wir begrüss-ten uns wie alte Freunde. Unter der strahlenden Frühlingssonne war der See voll weisser Segel.
Im Kanton Schaffhausen wurde der Tag der Waffenruhe mit Gottesdiensten in allen Gemeinden begangen. Der Kirchenrat wandte sich an das Volk mit einer Botschaft, den Tag nicht mit lärmenden Lustbarkeiten zu feiern. Die Schaffhauser hatten den Krieg mehr als andere Eidgenossen zu spüren bekommen: Vor einem Jahr die Bombardierung der Stadt mit 40 Todesopfern, 544 Fliegeralarme, am Schluss der Anblick des Flüchtlingselends. Am Dankgottesdienst in der St. Johannskirche schallte das "Grosser Gott wir loben dich" von über 2500 Stimmen getragen durch die Halle. Pfarrer Peter Vogelsanger, als Feldprediger ein wackerer Militarist und Nazigegner, wählte als Text für seine Predigt Jesajas "Triumphlied über den Sturz des Babelkönigs". Mit dem Gemeindegesang "Nun danket alle Gott" nahm die Friedensfeier ihren Abschluss.
Ja, das Schaffhauservolk war an jenem Tag erfüllt vom Gefühl der Freude und der Dankbarkeit und dachte noch nicht an die begangenen Fehler. Verstärkt wurde die wunderbare Hochstimmung durch die gleichzeitigen Pressemeldungen, dass die Fleischration um 200 Gramm erhöht werde, dass die wegen den Kriegshandlungen lang unterbrochene Schifffahrt auf dem Rhein und Untersee und die eingestellte Bahnverbindung zwischen Neuhausen und Rafz wieder aufgenommen wurde, dass die Frostgefahr für die Reben vorüber sei und dass auf dem Sägiturm in Neunkirch zwei junge Störchlein zur Welt gekommen seien.