Schweiz im zweiten Weltkrieg
Als junger Leutnant hat Georges-André
Chevallaz, der spätere Vorsteher des Eidg. Militärdepartementes,
den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Im Gespräch erinnert er
sich an seine frühe Militärkarriere und nimmt die damalige
Ausländerpolitik in Schutz.
Jacqueline Forster-Zigerli
Georges-André Chevallaz war kein jovialer, leutseliger Magistrat. Auch als 84-Jähriger strahlt er eine natürliche Autorität aus; er beherrscht den Raum, obwohl er kein Riese ist. Seine scharfe, klare Stimme verrät Wachheit. Ohne Umschweife kommt er zur Sache. Das Militär hat sein Leben geprägt. Kurz nach der RS ist er 1939, als 24-jähriger Leutnant, in den Aktivdienst eingerückt. Den Zweiten Weltkrieg erlebte der studierte Historiker als Offizier mit. Nach dem Krieg schlug er eine politische Laufbahn ein. "Ich hätte ebenso gut eine militärische Karriere machen können." Als Chevallaz 1983 aus dem Bundesrat zurücktrat, leitete er das Militärdepartement.
Den Sinn eingesehen
Die Weltgeschichte machte ihm vorerst einen Strich durch die
Rechnung. Chevallaz weilte Ende der 30er-Jahre zu Studienzwecken
in Paris, als sich die politische Lage in Europa zuspitzte. "Ich
musste fluchtartig nach Hause, obwohl ich gerne länger im
Ausland geblieben wäre", sagt er. Bedauert hat er dies
nie, denn in der Heimat wartete auf den jungen Leutnant eine Aufgabe,
die er mit Freude annahm. "Ich führte eine junge Truppe,
die als eine der ersten die neuen Minenwerfer benutzte. Wir waren
durchschnittlich Anfang 20, furchtlos, nazifeindlich, nicht im
geringsten antimilitärisch und rückten erwartungsfroh
in den Dienst ein, denn darin sahen wir eine Notwendigkeit und
einen Sinn."
Zuerst erfolgte auf diese Euphorie eine Ernüchterung: Der Dienst erwies sich am Anfang als langweilig. "Wir schoben endlos Wache, standen herum, zogen Freitage ein", erinnert sich Chevallaz. "So hatten wir uns den Aktivdienst nicht vorgestellt."
Einschnitt Rütlirapport
Alles änderte sich schlagartig mit dem berühmten
Rütlirapport von General Guisan im Juli 1940, in dem er den
Grundgedanken des Réduitsystems erläuterte: den Rückzug
der Armee in den schwer zugänglichen Alpenraum mit seinen
wichtigen Nord-Süd-Verbindungen. "Als uns der Bataillonskommandant
über diese Pläne unterrichtete und unsere Truppe sich
am nächsten Morgen zu Fuss aus dem Raum Lausanne ins Greyerzerland
begab, änderte sich die Moral der Soldaten komplett",
erinnert sich Chevallaz. "Nach der Kapitulation von Frankreich,
Belgien und Holland wussten wir, dass es Ernst galt. Als wir nun
in der Gegend des Moléson unsere Gräben buddelten,
fühlten wir uns endlich nützlich." Später,
als Vorsteher des Militärdepartemtes, wird Chevallaz immer
wieder darauf pochen, die Soldatenausbildung in die Berge zu verlegen.
Am eigenen Leib hatte er erfahren, dass dies der Effizienz, dem
Zusammengehörigkeitsgefühl und der Truppenmoral nur
zuträglich war.
Umstrittener Pilet-Golaz
Noch ein anderes Ereignis beschäftigte den jungen Waadtländer
im Frühsommer 1940. Der damalige freisinnige Aussenminister
Marcel Pilet-Golaz stiess mit seiner als nazifreundlich eingestuften
Haltung in der Schweiz auf Unverständnis. Chevallaz, der
sich auch nach dem Krieg eingehend mit Pilet-Golaz beschäftigt
hat, relativiert 50 Jahre später: "Er wusste, dass die
Deutschen mit einem Angriffsbefehl an der Schweizer Grenze standen.
Deshalb brauchte es in jenem Moment diplomatische Worte."
Pilet-Golaz habe den Deutschen mit viel Fingerspitzengefühl
zu verstehen gegeben, dass sie zwar eine ernst zu nehmende Macht
waren, den Krieg aber noch nicht gewonnen hatten. "Heute
ist es einfach, den Bundesrat zu verurteilen", sagt Chevallaz
"doch in jener Zeit hätte ein falsches Wort das Schicksal
der Schweiz besiegeln können." Verständnis hat
Chevallaz aber auch für all jene, die mit dem unnahbaren
Magistraten ihre Mühe hatten. "Er war zwar hochintelligent,
aber sehr anmassend und eitel. Sein Auftritt mit Gamaschen und
Handschuhen trug nicht viel zu seiner Sympathie bei."
Nach dem Krieg lernte Chevallaz Pilet-Golaz, damals bereits nicht mehr Bundesrat, an einem Schützenabend kennen. "Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, fragte ich ihn, ob jemals wieder ein Waadtländer in die Landesregierung gewählt würde. Dabei dachte ich überhaupt nicht an mich, ich war ja kaum 30 Jahre alt!" Der Politiker habe seinen Blick in der Runde schweifen lassen und nach längerer Pause knapp geantwortet: "Nein, jedenfalls keiner der hier Anwesenden." Ausser Chevallaz sassen weitere künftige Bundesräte und Bundesratskandidaten im Saal.
Überforderte Schweiz
Doch im Jahre 1942 stand es den Menschen nicht nach Anekdoten.
Das Schweizer Boot schien sich zu füllen, die Grenze wurde
für sämtliche Flüchtlinge gesperrt, Hilfesuchende
wurden ausgeschafft. "Aus heutiger Sicht erscheint dies willkürlich
und brutal", sagt Chevallaz. Damals sei die Schweiz mit Schweden
das einzige Land Europas gewesen, das nicht in den Krieg verwickelt
gewesen sei. "Nicht nur einige zehntausend, sondern mehr
als eine Million insbesondere jüdischer Flüchtlinge
baten um Aufnahme." Eine Aufgabe, welche die Schweiz allein
überfordert hätte, davon ist der ehemalige Bundesrat
heute noch überzeugt. "Wir hätten sie nicht ernähren
können, und die seit längerem zurückhaltende Stimmung
im Land gegen die Juden wäre wohl gekippt." Viele seien
damals trotz allem der Ansicht gewesen, die Schweizer Regierung
handle zu liberal. Er war zu jener Zeit an der Genfer Grenze im
Dienst und hatte die Order, keine Flüchtlinge ins Land zu
lassen. "Während meines dreiwöchigen Aufenthaltes
musste ich niemanden zurückweisen."
Ruhige Zeiten verbrachte er auch im Tessin, wo er internierte Polen zu "überwachen" hatte. "Die hatten überhaupt keine Lust zu fliehen, denn sie waren in der Schweiz in Sicherheit." Während die Internierten in Tessiner Wäldern als billige Arbeitskräfte angestellt waren, unternahm Leutnant Chevallaz ausgedehnte Wanderungen in der Sonnenstube . . .
Wichtiges 1945
Das Kriegsende erlebte er nüchtern und mit "philosophischer
Gelassenheit". Freudentänze vollführte er keine;
er sass im Lausanner Stadtarchiv über seiner Dissertation,
als er von draussen Jubel hörte. Für den debattierfreudigen
Chevallaz war dies der Zeitpunkt, sich mit seinen Studienfreunden
zu treffen, die ihm stets wichtige Diskussionspartner waren: einer
war Deutscher, der andere Jude, befreundet blieben sie ein Leben
lang.
1945 trat Georges-André Chevallaz der FDP bei. Dies war kein Zufall, sondern vielmehr eine Reaktion auf die grossen Stimmengewinne, welche Kommunisten in Lausanne auf kommunaler Ebene erreicht hatten. Nach dem Krieg erlebte die Schweiz einen noch nie dagewesenen Aufschwung. Auch Chevallaz' Karriere war nicht mehr zu bremsen.
Georges-André Chevallaz Der Waadtländer Georges-André Chevallaz wurde 1915 geboren und vertrat von 1974 bis 1983 die FreisinnigDemokratische Partei (FDP) im Bundesrat. Bis 1979 leitete er das Finanz-, danach das Militärdepartement. 1980 war er Bundespräsident.