Schweiz und der zweite Weltkrieg

Freispruch für die Schweiz

von Faith Whittlesey, ehemaliger US-Botschafterin in der Schweiz

Den nachstehenden Artikel veröffentlichte Botschafterin Faith Whittlesey, Präsidentin der American Swiss Foundation, im November 1997 in der Zeitschrift Ambassadors Review. Damals erreichte die Verleumdung der Schweiz wegen ihrer angeblich verwerflichen Haltung im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Die wohltuende, differenzierte Stellungnahme der ehemaligen US-Botschafterin in der Schweiz hat auch nach dem Milliarden-Vergleich und der scheinbaren Ruhe in den Medien nichts an Aktualität eingebüsst. Sie stellt vieles richtig, was sich die Schweiz von Regierungsstellen der USA und anderen selbsternannten Geschichtsdeutern mit zweifelhaftem Interessenshintergrund seit 1995 anhören musste. Dank eines breiten Faktenwissens gelingt es Whittlesey, gerade die Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges angemessen zu würdigen. Besonders die immerwährende, bewaffnete Neutralität stellt sie als die zentrale aussenpolitische Maxime der Schweiz dar, an der unser Land auch während des Krieges unerbittlich und konsequent festhielt, wohlgemerkt zum Wohle ganz Europas. Die Schweiz war kein zynischer Profiteur des Krieges, sie hielt - im Gegenteil - selbst in schwierigen Zeiten an ihren humanitären Traditionen fest.

Auf dem Cover des Time Magazine sowie auf zahlreichen Titelseiten überall in den USA war die Schweiz die Angeklagte in einem in den amerikanischen Medien inszenierten Gerichtsverfahren. Die winzige Nation, die nicht an den Kämpfen im Zweiten Weltkrieg beteiligt war, wurde von Senator D'Amato und anderen beschuldigt, mit Nazideutschland kooperiert zu haben. Ein schneller Schuldspruch erging von seiten der Presse, und Reparationszahlungen wurden eingefordert. Als Reaktion auf die Presse und auf Druck des Kongresses beeilte sich das US-Aussenministerium, ebenfalls einen Bericht herauszugeben, zu dem es selbst eingestand, dass er «vorläufig und daher unvollständig» sei (wie es im Vorwort zum Bericht heisst), der aber in seinem krassen Urteil und in seiner Kritik an der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg den Medien nicht nachsteht und die Nachkriegsabkommen des Aussenministeriums mit der Schweiz neu zu bewerten sucht. Andere, die noch nie dagewesene Sammelklagen einreichen, fordern derart hohe Summen, dass das politische Gefüge von Europas dauerhaftester Demokratie auseinanderzubrechen droht.

Jeder aufrichtige Mensch sympathisiert mit den Leiden und den gerechten Ansprüchen (sowohl moralischer als auch finanzieller Art) bedürftiger überlebender Opfer totalitärer Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Diesen Forderungen muss man schnell und ehrlich begegnen - und die Schweiz versucht dies heute in der Tat auf sehr redliche Weise.

Obwohl man einzelne Beispiele unmoralischen Verhaltens finden wird, stellt die generalisierte Anklageerhebung auf Kollaboration der Schweizer Bevölkerung und auf eine Erbschuld - was zu reisserischen Schlagzeilen führte - eine verfälschende und platte Betrachtung der Schweizer Geschichte dieser Zeit dar.

Politisch neutral, aber nicht moralisch

Während des Zweiten Weltkriegs war die Schweiz, eine kleine Föderation von damals 5 Millionen Einwohnern (heute 7 Millionen) mit einer 700jährigen Geschichte, völlig von den Achsenmächten umgeben und während längster Zeit von einer Invasion bedroht. Die historische Schweizer Politik der bewaffneten Neutralität wurzelte in der verständlichen Aversion der Schweizer gegenüber den blinden, blutigen und sektiererischen Konflikten, die Europa jahrhundertelang gespalten hatten. Ganz im Gegensatz zu den grellen Schlagzeilen war die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges moralisch nicht neutral, sondern beschloss, beträchtliche nationale Ressourcen dafür aufzuwenden, sich bis zu den Zähnen zu bewaffnen, um sich davor zu schützen, geschluckt zu werden. Obwohl politische Neutralität moralisch immer problematisch ist, hatte die Schweiz nie eine kollaborierende Regierung, und auf Schweizer Boden fand kein Holocaust statt. Die Haltung der Schweiz blieb von Anfang bis Ende des Krieges unverändert.

Andere neutrale Staaten während des Krieges, Irland, Portugal, Spanien und Schweden, waren nicht umzingelt und konnten sich relativ bequem für eine passivere Neutralität entscheiden. Die Niederlande, Belgien, Dänemark, Norwegen und das benachbarte Frankreich brachen angesichts der Macht der Nazis schnell zusammen. Österreich machte den Anschluss im Viervierteltakt. Keines dieser Länder war umzingelt, sie alle hatten das Potential, eine starke territoriale Verteidigung aufzubauen. Sie taten es nicht. Die Schweiz schuf eine glaubwürdige Verteidigung gegenüber dem Ansturm der Nazis, die genau dem intendierten Zweck diente - eine Invasion der Achsenmächte zu erschweren und ihr zuvorzukommen. (Dennoch wird ausgerechnet die Schweiz, die jahrhundertelang zeigte, was es heisst, sein Territorium ernsthaft zu verteidigen, heute öffentlich über «moralische Neutralität» von einer Presse belehrt, die in den letzen Jahren moralische Gleichwertigkeit und moralischen Relativismus zum Fetisch erhoben hat.)

Um ihre demokratische Lebensweise zu schützen und Nahrungsmittel, Treibstoff und wichtige Rohstoffe für das Überleben durch das von den Achsenmächten kontrollierte Territorium importieren zu können, machte die Schweiz bedauerliche Zugeständnisse in den Bereichen Transport, Handel und Finanzen und, was am tragischsten war, in der Begrenzung der Zahl der Flüchtlinge. Diese Zugeständnisse wurden in der modernen Schweiz mit ihrer langen Tradition akademischer Freiheit und einer lebendigen freien Presse nicht ignoriert. Die meisten Schweizer haben keine Scheu vor einer schmerzhaften Aufarbeitung ihrer geschichtlichen Tatsachen. Soweit ich mich erinnern kann, beschäftigten sich Beamte des amerikanischen Aussenministeriums, die der amerikanischen Botschaft in der Schweiz zugeordnet waren, mit historischem Material aus den Kriegsjahren, welches die Anpassung der Schweiz an das Naziregime auf breiter Ebene diskutierte.

Mehrzahl der Schweizer lehnten Nazis ab

Wenn die Aufzeichnungen unvoreingenommen betrachtet würden, dann käme ein unabhängiger Beobachter zum Schluss, dass die grosse Mehrzahl der Schweizer die Nazis ablehnte. Viele Kriegsjahre hindurch lebten sie mit der drohenden Gefahr von Hitlers Plan, zu gegebener Zeit die Schweiz zu besetzen und sie dann mit Mussolini zu teilen (eine Absicht, die in der militärischen Planung der Nazis als «Operation Tannenbaum» bezeichnet wurde). Angesichts dieser Lage kämpften die Schweizer hart darum, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, und leiteten sogar strenge Massnahmen gegen die Nazis in der Schweiz ein, verboten die Partei der Nazis ebenso wie Schweizer Pro-Nazi-Organisationen. Hätten andere europäische Länder den gleichen Willen und die gleichen Mittel zur Verteidigung ihres Landes aufgebracht, wie viele Menschenleben und wieviel Zerstörung wäre dann Europa erspart geblieben!

Vor dem Krieg war Deutschland der wichtigste Handelspartner der Schweiz (und ist es bis heute, hauptsächlich aufgrund der geographischen Lage). Obwohl während des Krieges Druck auf die Schweiz ausgeübt wurde, den gesamten Handel mit den Alliierten zu unterbinden, belief sich der Handel der Schweiz mit den Alliierten auf einen Drittel des Handels mit den Achsenmächten. Darunter befanden sich bestimmte Materialien, die für die Kriegsführung der Alliierten sehr wichtig waren. Angesichts der ausserordentlich schwierigen Transportfrage, bedingt durch die völlige Einkreisung, erhält die Fortführung dieses Handels eine um so grössere Bedeutung. Betrachtet man die Rüstungsexporte nach Deutschland, dann stellten die Schweizer Verkäufe nur einen geringen Bruchteil des gesamten deutschen Kriegsmaterials dar und waren im Hinblick auf ihre militärische Bedeutung marginal. Trotz Zensur stellten sich die Medien während des Krieges klar auf die Seite der Alliierten. Die Regierung wies wiederholt deutsche Forderungen zurück, Chefredaktoren von Tageszeitungen und Radiokommentatoren, welche den Nazis nicht positiv gegenüberstanden, zu entlassen. Schweizer Radiosendungen in deutscher und französischer Sprache gaben dem besetzten Europa inneren Auftrieb in den dunkelsten Stunden.

Noch wichtiger war jedoch die Schweizer Genehmigung zu umfangreichen und entscheidenden Operationen des alliierten Geheimdienstes, die es den Alliierten erlaubte, den Krieg schneller und wirksamer zu führen, und möglicherweise dazu führte, den Krieg wesentlich zu verkürzen. Die Schweizer stellten für 1600 abgeschossene Flieger und Tausende geflohener Gefangener aus deutschen und italienischen Lagern eine Oase der Sicherheit dar, und dies trotz einer ernsthaften Versorgungsknappheit der eigenen Bürger. Das Internationale Rote Kreuz, eine Schweizer Institution, half Hunderttausenden von alliierten Gefangenen und Flüchtlingen auf den europäischen und pazifischen Kriegsschauplätzen.

Auch war die Schweizer Neutralität keine rein formelle und passive Neutralität aus dem Bestreben heraus, keinen Ärger heraufzubeschwören. Während der gesamten Kriegsdauer blieb die 600 000 bis 800 000 Mann starke Milizarmee mobilisiert, und das ganze Land war stark befestigt. In einem der Luftkämpfe aufgrund von Verletzungen des schweizerischen Luftraums durch die Deutschen verlor die Schweiz lediglich ein Flugzeug, die deutsche Luftwaffe aber mehrere. Im Falle einer Invasion der Achsenmächte plante die Schweiz die Sprengung der wichtigsten Strassen, Brücken, Tunnels und Eisenbahnstrecken und sah vor, heftigen Widerstand aus ihrer Alpenfestung heraus zu leisten. Das Schweizer Parlament übergab ausdrücklich einem den Deutschen verhassten General aus der französischen Schweiz den Oberbefehl über ihre Armee. Wegen Spitzeldiensten für die Nazis wurden 17 Soldaten, einschliesslich eines Majors, hingerichtet. Vergleichen Sie den Schweizer Widerstand beispielsweise mit der Besetzung von Paris durch die Nazis, während der nicht einmal ein Schuss fiel.

Mehr jüdische Flüchtlinge aufgenommen als die USA

Hätte aber die Schweiz ihre historische Neutralität inmitten des Krieges nicht aufgeben und die Waffen gegen die Achsenmächte erheben sollen? Wenn ja, wie? Die Schweizer Armee war als hervorragende Streitmacht zur Landesverteidigung vorgesehen und ausgebildet und daher bar jeder Möglichkeit zu Truppenbewegungen ausserhalb der Landesgrenzen. Die Vorstellung, dass die Armee inmitten des vom Krieg überzogenen und von den Achsenmächten dominierten Europa hätte umstrukturiert werden können, ist völlig unrealistisch. Und obwohl die Alliierten die Schweiz nie darum baten, neutral zu bleiben, nützte die Neutralität den Alliierten in vielfältiger Weise.

Hätte die Schweiz nicht mehr jüdische Flüchtlinge aufnehmen sollen? Die wirkliche Frage lautet: Hätten nicht alle Nicht-Achsen-Staaten, einschliesslich der USA, mehr Flüchtlinge aufnehmen sollen? Selbstverständlich. Die kleine Schweiz mit einer Fläche etwas grösser als Maryland und einer unter ernsthaftem Nahrungsmangel leidenden Bevölkerung (die Rationierung von Nahrungsmitteln, ausgenommen Kartoffeln, war umfassend) hat während des Krieges mehr jüdische Flüchtlinge aufgenommen als die USA. Und weil sie nicht in den Krieg eintrat, sicherte sie auch das Überleben der 20 000 Juden, die ihre Staatsangehörigen waren. Hätten die USA proportional zur Bevölkerung ähnlich viele Kriegsflüchtlinge wie die Schweiz aufgenommen, so hätten sie sieben Millionen Menschen Zuflucht bieten müssen! Mit anderen Worten, das Verhalten der Schweiz war nicht das eines zynischen Profiteurs, sondern entsprach mehr der seit langem bestehenden humanitären Tradition.

Einige Schweizer Bankiers waren allerdings hinsichtlich der Notlage der Holocaust-Familien nicht so sensibel, wie sie es als Zeugen des Krieges hätten sein sollen. Dies rührte zumindest teilweise von den Bestimmungen des Schweizer Bankgeheimnisses her, das übrigens deshalb eingeführt wurde, um die Identität von Personen wie die der jüdischen Kontoinhaber zu schützen, die später dem Holocaust zum Opfer fielen. Sie verhielten sich wahrscheinlich wie Bankiers überall auf der Welt, ein Typus, wie er in dem Film Mary Poppins karikiert wird. Einige Schweizer Treuhänder und andere Personen könnten es sich sogar zunutze gemacht haben, dass die rechtmässigen Eigentümer von Vermögen, das ihnen direkt oder über Schweizer Banken anvertraut worden war, später im Holocaust umkamen. Für die häufig in Presseberichten erhobene Behauptung systematischer strafbarer Handlungen sind aber bisher keine Beweise erbracht worden.

Wegen des Schweizer Bankgeheimnisses gibt es keine Möglichkeit zu erfahren, wie viele der privaten Einlagen nach 1945 an legale Erben ausbezahlt wurden. Geht man von den geschätzten Summen aus, so ist es genauso möglich, dass viele Holocaust-Opfer die Schweiz wegen ihrer Nähe zu Deutschland nicht für sicher genug hielten und deshalb ihr Geld nach den USA, England oder Lateinamerika transferierten. Um die Möglichkeit von Geldtransfers noch mehr zu reduzieren, liess Hitler Geldbewegungen ins Ausland als Kapitalverbrechen verfolgen.

40 Millionen statt Milliarden von Franken

1962 wies die Schweizer Regierung alle Finanzinstitute an, nach schlafenden Konten aus den Kriegsjahren zu suchen, die von Nichtschweizern, von denen man annahm, dass sie wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen Ansichten verfolgt wurden, angelegt worden waren. Nicht alle folgten dieser Anweisung. Ein Ergebnis dieser Massnahme war die Verteilung von 1,4 Millionen Schweizer Franken an Anspruchsberechtigte; weitere 3 Millionen Schweizer Franken (von Konten, denen keine Anspruchsberechtigten zugeordnet werden konnten) wurden jüdischen Wohlfahrtsverbänden (etwa zwei Drittel der Summe) und Flüchtlingsorganisationen (ein Drittel) zugeteilt.

Teilweise als Reaktion auf Presseberichte erging 1995 eine weit umfassendere Weisung als 1962, die alle schlafenden ausländischen Titel einschloss. Es stellte sich heraus, dass die Gesamtsumme aller nicht beanspruchten Kapitaltitel aus den Kriegsjahren 40 Millionen Schweizer Franken nach heutigem Wert nicht überschritt. Diese Summe umfasst alle Konten, die vor 1945 eröffnet wurden (vorstellbar von Australien, Irland, Venezuela oder irgendeinem anderen Land aus!), und nicht nur solche, welche möglicherweise Holocaust-Opfern und ihren Erben gehörten, wie das 1962 der Fall war. Diese 40 Millionen Schweizer Franken wurden durch wilde Übertreibungen in den Medien zu Milliarden.

Im Unterschied dazu beschrieb der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds die Anstrengungen der Schweizer Bankiers als die von «ehrlichen Partnern» und die fraglichen Restbeträge als «relativ bescheiden». Im letzten Jahr gründeten die Schweizer Banken eine internationale Kommission, die sich aus absolut integren Personen zusammensetzt und vom früheren Vorsitzenden der U.S. Federal Reserve (Amerikanische Bundesbank) Paul Volcker mit dem Ziel geführt wird, alle Gelder ausfindig zu machen, die immer noch Holocaust-Opfern oder ihren Erben gehören könnten. Im Gegensatz zu den USA gehen in der Schweiz unbeanspruchte Einlagen nicht an den Staat über. Die Bank bleibt dafür ewig verantwortlich.

Während diese gründlicheren Untersuchungen fortschreiten und ungeachtet der Tatsache, dass die Hinweise auf aktuelle Funde von Konten, die seit Ende des Krieges ruhen, vielleicht nur «relativ bescheiden» sind, richteten die Schweizer Banken und die Schweizer Industrie im Februar 1997 einen Fonds ein, welcher nun auf über 188 Millionen Dollar angewachsen ist und durch die Regierung der Schweiz verwaltet werden soll, um direkte Hilfe für Überlebende des Holocaust in persönlicher Notlage gewähren zu können.

Als Reaktion auf die unaufhörlich anklagende Berichterstattung kündigte der Bundespräsident der Schweiz im März 1997 auch die Einrichtung einer Solidaritätsstiftung von sieben Milliarden Schweizer Franken an, deren Zinsen als Hilfe für «Menschen, die in Not und Armut geraten sind, im Inland und im Ausland, É Opfer von Genoziden, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (z.B. auch Opfer des Holocaust oder deren bedürftige Nachkommen), Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen oder Katastrophen, É sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Schweiz eingesetzt werden sollten.»

Und die US-Banken?

Es würde sich um ein unzulässiges Vorgehen von seiten einer Bank gleich wo auf der Welt handeln, Mittel bereitzustellen auf der Grundlage substantiell unvollständiger oder nicht verifizierbarer Informationen. Es ist unzweifelhaft ein schwieriges Projekt, die Rechtmässigkeit von Ansprüchen festzustellen in der Folge einer Tragödie mit den Ausmassen des Holocaust, welche alle Systeme überfordert. Wenn ganze Familien möglicher Antragsteller ausgelöscht und Dokumentationen zerstört werden, wie können dann Banken die rechtmässigen Antragsteller identifizieren und Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Antragstellern schlichten? Verhielten sich britische oder amerikanische Bankiers anders oder änderten sie ihre Praxis nach dem Kriege? Die Pressestimmen über die Behandlung von Überlebenden des Holocaust sind anderswo merkwürdig leise. Das schweizerische Bankengesetz hat ein hohes Niveau bezüglich der Diskretion und Sicherheit. Wenn man mit dem Geld anderer zu tun hat, stellt das Einhalten von Regeln unter normalen Umständen einen Vorzug und kein Vergehen dar. Die Schweiz wegen der Plünderung des Vermögens Ermordeter im grossen Stil anzuklagen ist einfach falsch.

Der Gegenstand spezieller Ansprüche, welche von Einzelpersonen auf besondere ruhende Konten erhoben werden, wird in Medienberichten regelmässig in unverantwortlicher Weise mit dem gänzlich anderen Thema des Handels mit Goldreserven durch die Nationalbanken vermengt. Goldreserven waren das Hauptthema, das die US-Regierung im Umgang mit der Schweiz nach dem Krieg beschäftigte. Während des Krieges hatte die deutsche Bundesbank grosse Mengen an Gold (teilweise handelte es sich um Kriegsbeute aus den Zentralbanken der besetzten Staaten) an die schweizerische Nationalbank gegen Schweizer Franken verkauft, die seinerzeit am besten konvertierbare Währung der Welt. Die Deutschen verwendeten die Franken, um ihren Aussenhandel zu finanzieren und um das benötigte Kriegsmaterial einzukaufen. Der gerade kürzlich erschienene Bericht des amerikanischen Aussenministeriums bestätigt, dass es keinen Grund für die Behauptung gibt, die Schweizer hätten gewusst, dass die Goldlieferungen auch geraubtes Gold von Opfern der Konzentrationslager enthielten. In den Verhandlungen nach dem Krieg wurde dieses Thema nicht von den US-Diplomaten angesprochen, vielleicht deshalb nicht, weil es äusserst schwer, wenn nicht unmöglich ist, den Ursprung des Goldes innerhalb eines Barrens festzustellen.

Im nachhinein ist es natürlich einfach zu behaupten, die schweizerische Nationalbank hätte deutsche Goldbarren verweigern sollen. Jedoch war die Schweiz die längste Zeit eine Insel im Nazi-Meer, so dass ihre Handlungsfreiheit erheblich unter Druck geriet. Viele Schweizer Regierungsbeamte glaubten, ein Mangel an Kooperation im Goldhandel könne eine heftige Reaktion der Nationalsozialisten provozieren. Andere, welche sich an die galoppierende Inflation in der Folge des ersten Weltkrieges erinnerten, hielten wegen der steigenden Nachfrage nach Schweizer Franken im Verlauf des Krieges Goldkäufe für notwendig, um eine Inflation zu verhindern oder sie unter Kontrolle zu halten.

Vereinbarung von 1946 bleibt gültig

Kommerzieller Warenverkehr eines erklärtermassen neutralen Staates in Kriegszeiten hat eine anerkannte Stellung im Völkerrecht, und die Vereinigten Staaten respektierten diese Praxis in der Vergangenheit. Ist es dann angemessen, wenn ein hoher Vertreter der US-Regierung (wie in dem Bericht geschehen) in der Öffentlichkeit verächtlich die Position eines befreundeten souveränen Staates, dessen Haltung sich auf wohl etablierten Grundsätzen internationalen Rechts gründete, als «legalistisch» und dadurch moralisch defizitär charakterisiert!? Niemand scheint zu behaupten, dass die politische Neutralität der Schweiz während der gesamten Dauer des kalten Krieges gegen mörderische Sowjettyrannen mit der «Moral im Konflikt stand» (der Report jedoch beschreibt die schweizerische Neutralität im Zweiten Weltkrieg auf diese Weise) - zweifelsohne weil die meisten wissen, dass die schweizerischen Kanonen nach Osten gegen die reale Bedrohung gerichtet waren, genauso wie sie im Zweiten Weltkrieg nach Norden gerichtet waren. Diese Tatsache wird in der laufenden Auseinandersetzung ausgeblendet.

Nach dem Krieg bestätigten die Schweizer, dass sie 1,2 Milliarden Schweizer Franken in Gold (rund 280 Millionen Dollar zur Zeit des Krieges) von der deutschen Reichsbank gekauft hatten, mit denen sie einen Gewinn von 4 Millionen Dollar erzielten. Sie stellten jedoch fest, dass die Alliierten mehr Devisengeschäfte mit der Schweiz getätigt hatten als die Achsenmächte (allein der Kauf von US-Gold gegen Bezahlung in Schweizer Franken betrug 1,2 Milliarden Schweizer Franken, ungefähr die gleiche Menge, die den Deutschen abgekauft wurde).

Als Ergebnis umfassender Verhandlungen über das «Nazi-Gold» nach dem Krieg zahlte die Schweizer Regierung, dankbar dafür, dass die Schweiz von den Verwüstungen des Krieges verschont geblieben war (sie betrachteten die verhandelte Summe nicht als Strafe), 250 Millionen Schweizer Franken (derzeit ca. 60 Millionen Dollar) in Gold in einen Fonds für den europäischen Wiederaufbau - eine Vereinbarung, die die Zustimmung Präsident Trumans fand (und die später immer als die «Vereinbarung von 1946» bezeichnet wurde). Zu dieser Zeit waren 250 Millionen Schweizer Franken eine enorm hohe Summe, die etwa 8 % des Bundeshaushalts ausmachte. Sie war auch 15mal höher als der Gewinn aus den Transaktionen der Nationalbank mit den Nazis!

Die meisten der hervorstechenden Fakten, die heute die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, waren bereits zur Zeit der Unterzeichnung der Vereinbarung von 1946 zur Lösung der Probleme um das «Nazi-Gold» wohlbekannt. Die einzige wirklich neue Information ist die Behauptung, dass eine kleine, «aber signifikante» Menge des Opfergolds, d.h. Gold, welches direkt den Opfern des Holocaust abgenommen wurde, seinen Weg in die Goldreserven fand, die gehandelt wurden. Nirgends steht in dem Bericht des Aussenministeriums, dass die Schweizer davon wussten. Welche neuen Fakten könnten also heute vielleicht eine offizielle Überprüfung der 50 Jahre alten diplomatischen Vorgänge mit einem langjährigen Freund und verlässlichen Partner rechtfertigen?

«Wir sind dabei, unser Wort zu brechen»

Im Völkerrecht stellt der Versuch, auf eine Einigung zurückzukommen, die vor über 50 Jahren mit einem souveränen Staat und befreundeten Handelspartner erzielt und durch einen vom Aussenministerium bemächtigten Vertreter unterzeichnet wurde, diplomatisch einen Bruch des Grundsatzes «ne bis in idem» (dieser Grundsatz besagt, dass wegen einer Tat, die rechtskräftig abgeurteilt worden ist, nicht noch einmal ein Strafverfahren eingeleitet werden kann) und einen gefährlichen Präzedenzfall dar. Es ist äusserst beunruhigend, dass die US-Regierung, vertreten durch einen Staatssekretär für internationale Beziehungen, öffentlich und explizit (wieder gestützt auf einen «vorläufigen und dadurch unvollständigen» Bericht) die Handlungen einer kleinen, stabilen Demokratie anprangert, mit der die Vereinigten Staaten während der gesamten Nachkriegszeit ausgezeichnete Beziehungen pflegte. Dies ist besonders störend, weil das Vorgehen der Schweiz während des Krieges thematisiert und vermutlich in verbindlichen Dokumenten festgehalten wurde, welche amerikanische Diplomaten ausgehandelt hatten. Mit anderen Worten: Wir sind dabei, unser Wort zu brechen.

Was die Beschuldigung anbelangt, die in dem Bericht erhoben wird, die schweizerische Politik habe den Krieg verlängert und damit zusätzlich amerikanisches Blut und amerikanische Finanzen gekostet, könnten wir mit der gleichen grosszügigen Beweisführung genauso in aller Öffentlichkeit und offiziell die Engländer der Strafbarkeit wegen Chamberlains Vorgehen oder die Franzosen wegen der massiven, aktiven Kollaboration von Vichy bezichtigen. Vielleicht möchte sich das Aussenministerium jedoch auch nur die kleinen Nationen herausgreifen, die unerfahren sind im Umgang mit dem rücksichtslosen Vorgehen der amerikanischen Medien und die auch glauben, es sei unschicklich und stelle eine Verletzung des diplomatischen Protokolls dar, innerhalb der USA mit der gleichen unbeugsamen Wut zurückzuschlagen, der sie ausgesetzt sind.

Die Belange der gealterten und bedürftigen Überlebenden des Holocaust sollte uns allen ein zentrales Anliegen sein. Jedoch waren die Schweizer mit ihrer jahrhundertealten multi-kulturellen, multilingualen Modelldemokratie, gleich welches ihre Versäumnisse im Rückblick auch gewesen sein mögen, keine «Weisse-Kragen»-Kriegsverbrecher. Tatsächlich ist bisher kein anderes Land so weit gegangen wie die Schweiz und hat seine öffentlichen und im speziellen auch die privaten Daten für die Überprüfung durch unabhängige Experten zur Verfügung gestellt. Wer will die Schweiz, in der Vergangenheit ein solider und verlässlicher Partner der USA, dafür tadeln, dass sie fassungslos und verzweifelt ist angesichts des Medien-Beutezugs, dem sie in einem Land ausgesetzt ist, welches sie lange für ein Modell für ordentliche Gerichtsverfahren gehalten hat.

Churchill würdigte Schweizer Neutralität

Gemäss der amerikanischen Anschauungsweise galt bisher: zuerst einmal die Fakten, dann das Urteil. Für die Schweiz war in den letzten Monaten oft das Gegenteil der Fall. Ein Staatsmann, der vielleicht einer versöhnlicheren Generation angehörte, kam gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem milderen Urteil über die Schweiz:

«Unter allen Neutralen hat die Schweiz den grössten Anspruch auf Anerkennung. Sie war die einzige zwischenstaatliche Kraft, welche die grässlich zerstrittenen Nationen noch mit uns verband. Was bedeutet es schon, ob es ihr möglich war, uns die wirtschaftlichen Leistungen zu erbringen, die wir wünschten, oder ob sie den Deutschen zuviel gegeben hat, um sich selber am Leben zu erhalten? Sie war ein demokratischer Staat, ein Symbol für Freiheit in Selbstverteidigung inmitten ihrer Berge und im Geiste, trotz anderer Rasse, weitgehend auf unserer Seite.» (Winston Churchill, 3. Dezember 1944)

Die Geschichte, so denke ich, wird dieser Beurteilung mehr Glauben schenken als den unachtsamen, oberflächlichen Ergüssen heutiger Kommentatoren. Amerika lernte nach dem Zweiten Weltkrieg, warum es eine Dummheit war, vom Kriegsgegner Reparationen zu verlangen. Wir bauten Deutschland und Japan neu auf. Wir halten die heutigen Deutschen und Japaner nicht kollektiv verantwortlich für die Sünden ihrer Väter, auch wenn wir weiterhin Individuen für ihre begangenen schrecklichen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen. Die sorgfältige Aufarbeitung der Geschichte ist das Werk von Historikern, und sie erfüllt einen noblen Zweck. Das momentan höchst emotionale Interesse am schweizerischen Vorgehen, positiver oder negativer Art, das uns bereits seit vielen Jahren bekannt war, ist wissenschaftlich unsauber, weil es die wirklichen Leistungen der Schweiz während des Krieges verzerrt und schmälert. Es stellt ausserdem eine schlechte Aussenpolitik dar, da es unsere Verbündeten an unserer Verlässlichkeit und an unserm Wort zweifeln lässt. Vor allem ist es ein merkwürdiges und, so denke ich, unsinniges Abweichen von den tieferen Einsichten aus der Nachkriegszeit, einer Zeit, in der wir im Geiste der Versöhnung der Wut und den Gegenbeschuldigungen, die dem Ersten Weltkrieg folgten, abschworen, um Gesellschaften wiederaufzubauen, die nicht die Aggression der Achsenmächte fortsetzen und den Respekt vor menschlichem Leben anerkennen, auf dem unsere westlichen Demokratien, wie auch die der Schweiz, basieren.

Veröffentlicht in der Ambassadors Review, November 1997, der vierteljährlichen Zeitschrift des Council of American Ambassadors. © 1997 Council of American Ambassadors. Wiederabdruck nach Genehmigung. Übersetzung Zeit-Fragen, Zwischentitel durch die Redaktion.

 Artikel 1: Zeit-Fragen Nr. 67 vom 22.05.2000, Seite 1, letzte Änderung am 23.05.2000

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