Schweiz und der zweite Weltkrieg

Schweizer waren um nichts schlimmer als wir

Ein US-Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nimmt unser Land in Schutz

VON WALTER J. ROEKLER

Washington. - Die gegenwärtige Woge von Beschimpfungen der Schweiz ist übertrieben und von Grund auf verzerrt. In der Öffentlichkeit wird ein Bild von den Schweizern gezeichnet, als seien sie praktisch Kollaborateure der Nazis gewesen. Das stimmt nicht.

Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Ankläger unmittelbar für die Prozesse gegen deutsche Bankiers verantwortlich war, und diese Arbeit habe ich zwei Jahre lang gemacht. In meinen Fällen gab es keine Schweizer Bestandteile oder Aspekte. (. . .)

Wenig Waffen geliefert

Haben einige Schweizer mit den Nazis sympathisiert? Wahrscheinlich. Aber schliesslich hatten auch die USA ihren deutsch-amerikanischen Bund, in Grossbritannien gab es die Clique um Cliveden und die Mosley-Anhänger, und Frankreich hatte die Vichy-Regierung.

Man hat vorgebracht, die Schweizer hätten sich während des Krieges schuldig gemacht 1. durch Unterstützung der deutschen Kriegsbemühungen, 2. weil ihre Banken schmutziges Geld und Gold der Nazis akzeptierten und weil sie 3. nicht viel für die jüdischen Flüchtlinge getan hätten. Darüber hinaus hätten Schweizer Bankiers nach dem Krieg alle Versuche behindert, die Bankeinlagen von Juden freizugeben, die von den Nazis ermordet wurden. Zweifellos sind einige dieser Vorwürfe berechtigt. Aber nach welchen Normen soll die Schuld beurteilt werden?

Die Schweizer haben während des Krieges den Deutschen nicht in nennenswertem Ausmass Waffen geliefert. Das taten die Deutschen selbst. Deutsche Fabriken produzierten Messerschmitts und Heinkel-Bomber; Krupp und Daimler-Benz stellten Panzer und Geschütze her; die IG Farben produzierten das Giftgas für Auschwitz und Treblinka. Durch Zwangsarbeit verschafften sich die Deutschen ihre Arbeitskräfte aus ganz Europa; aufgrund ihrer Eroberungen verfügten sie über fast alle Fabriken und Rohstoffe Europas (plus Qualitätsstahl aus Schweden). (. . .)

Der Vorwurf, Schweizer Banken hätten von den Nazis geraubtes Geld akzeptiert, ist vermutlich berechtigt. Das haben auch französische, italienische, schwedische Banken getan, und auch jede andere Bank einschliesslich amerikanischer und britischer Banken hätte sich so verhalten, wären diese Länder nicht im Krieg mit den Nazis gewesen. Ein wesentlicher Aspekt des profitorientierten Bankgeschäfts ist es, Einzahlungen ungeachtet der Herkunft des eingezahlten Geldes zu akzeptieren. Schweizer Bankiers bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

Es wird manchmal behauptet, die Schweizer Banken hätten Nazi-Gold akzeptiert, das durch das Einschmelzen der Goldzähne ermordeter Juden oder aus jüdischen Eheringen, Schmuck und dergleichen gewonnen worden war. Tatsächlich wurde solches Gold bei der Deutschen Reichsbank gesammelt; ich selbst vertrat die Anklage gegen einen Vizepräsidenten der Reichsbank, der für diese grausige Operation verantwortlich war.

Höchstwahrscheinlich wurde ein wesentlicher Teil dieses Goldes eingeschmolzen und in Goldbarren verwandelt. Aus den Barren konnte jedoch niemand etwas über die Herkunft des Goldes erfahren, und ich glaube nicht, dass man Schweizer Bankiers vorwerfen könnte, sie hätten mit der deutschen SS konspiriert, um sich dieses Gold zu verschaffen, oder dass die Bankiers viel über die Einzelheiten der Nazi-Konzentrationslager in Polen gewusst hätten.

Wie Bankiers benommen

Hinsichtlich der Ansprüche Überlebender auf Einlagen der Ermordeten in Schweizer Banken scheinen sich die Schweizer Bankiers nicht gerade gut benommen zu haben - aber wie Bankiers. Sie wollten das Geld nur bei Vorlage präziser Beweise herausgeben. (Details über unbeanspruchte Konten aus der Zeit vor 1945 sollen jetzt freigegeben werden.) Für viele dieser Konten gab und gibt es niemanden, der Anspruch auf sie erhöbe, und das hat den Bankiers zweifellos nicht missfallen. Haben sie sich gefühllos über diesen Profit gefreut? Natürlich. Warum sollte man etwas anderes erwarten?

Abgesehen von mitleidigem Geraune - wer hat sich denn während und unmittelbar nach dem Krieg um das Schicksal der Juden gekümmert? Und welches Land hat sich besonders bemüht, den Überlebenden Hilfe und Wiedergutmachung zu gewähren? Nicht lange vor dem Krieg trafen sich die Westmächte im französischen Evian, um über das Problem der jüdischen Flüchtlinge zu beraten. Das Problem blieb ungelöst. Die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Frankreich erklärten, sie könnten keine grösseren Mengen jüdischer Flüchtlinge aufnehmen. Die Schweiz hat vor dem Krieg einige jüdische Flüchtlinge aufgenommen (aber nur, wie ich glaube, wenn sie über grössere Mittel verfügten). (. . .)

Alles in allem war das Schweizer Verhalten während des Krieges nicht gerade glorreich, aber offensichtlich befand sich die Schweiz auch in einer schwierigen Lage. Keinesfalls haben sich die Schweizer kriminell verhalten. (. . .) Lassen wir die Geschichte intakt, und verzichten wir auf die neueste Revision hinsichtlich der Schweizer. Die Deutschen haben ihren Krieg und den Holocaust ohne die Kollaboration der Schweiz durchgeführt.

Der Autor war einer der Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen (1947 bis 1949). Sein Beitrag über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, den wir leicht gekürzt wiedergeben, erschien gestern Mittwoch in der "Herald Tribune". (Die Übersetzung besorgte Meinhard Büning.)

Back to German Texts page