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Antwort auf die Frage
»Erleuchtet uns und unsere Handlungen das Denken
mit derselben Gleichgültigkeit wie die Sonne,
oder was ist unsere Hoffnung und welchen Wert hat sie ?«

Internationale lettriste — Paris, 5. Mai 1954
La Carte d’après nature, Hrsg. René Magritte, Brüssel, Juni 1954

Übersetzt von Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde
Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst

Edition Nautilus, Hamburg, 1990
[Réponse à la question « Est-ce que la pensée nous illumine nous et nos actions
avec la même indifférence que le soleil, ou quel est notre espoir et quelle est sa valeur ? »
]

 

 

DIE GLEICHGÜLTIGKEIT hat diese Welt gemacht, aber sie kann in ihr nicht leben. Das Denken zählt nur, wenn es Forderungen aufzudecken weiß und zu deren Einlösung drängt.

Die revolutionären Studenten, die 1927 nackt in Kanton demonstrierten, starben im nächsten Jahr in den Heizkesseln von Lokomotiven. Da waren die Feste des Denkens zuende. Wenn wir mit einiger Genugtuung an der Intelligenz festhalten, die man uns im allgemeinen zugesteht, dann wegen der Möglichkeiten, mit denen sie einem Extremismus zu Diensten sein kann, für den wir uns entschieden haben und den wir nicht zur Diskussion stellen.

Es genügt, neue Lebensumstände für den Menschen zu diktieren. Die ökonomischen Verbote und ihre moralischen Folgerungen werden ohnehin bald im Einverständnis aller Menschen zerstört werden. Die Probleme, denen wir heute noch eine gewisse Dringlichkeit einräumen müssen, werden überwunden sein, zusammen mit den heutigen Widersprüchen, denn die alten Mythen beherrschen uns nur bis zu dem Tag, an dem wir sie umso gewalttätiger ausleben.

Eine umfassende Zivilisation muß errichtet werden, in der jede Art Aktivität fortwährend eine leidenschaftliche Umwälzung des Lebens vorantreibt.

Für das Freizeitproblem, von dem man schon zu reden beginnt, während die Massen noch kaum von ununterbrochener Arbeit befreit sind — und was morgen das einzige Problem sein wird — kennen wir bereits die ersten Lösungen.

Diese große kommende Zivilisation wird Situationen und Abenteuer konstruieren. Eine Wissenschaft des Lebens ist möglich. Der Abenteurer ist derjenige, der die Abenteuer geschehen läßt, weniger der, dem sie geschehen. Der bewußte Gebrauch des Dekors wird Verhaltensweisen hervorbringen, die sich beständig erneuern. Der Anteil jener kleinen Zufälle, die man das Schicksal nennt, wird sich verringern. Für dieses eine Ziel werden eine Architektur, ein Urbanismus und ein einflußreicher plastischer Ausdruck zusammenfinden, von denen wir die ersten Grundlagen besitzen.

Die Praxis des Sich-Verlierens und die Wahl der Begegnungen, der Sinn für das Unvollendete und Vergängliche, die Liebe zur Geschwindigkeit, übertragen auf das geistige Gebiet, das Auffinden und das Vergessen sind einige Bestandteile einer Ethik des Dérives, mit der wir schon begonnen haben, in der Armut unserer Städte und unserer Zeit Erfahrungen zu sammeln.

Eine Wissenschaft der Beziehungen und der Umgebungen [ambiances] wird erarbeitet, die wir Psychogeographie nennen. Sie wird dem Gesellschaftsspiel seinen wahren Sinn zurückgeben: eine auf das Spiel gegründete Gesellschaft. Nichts verlangt mehr Ernst. Die Zerstreuung ist das königliche Zeichen, das zu einem Gut aller werden muß.

Das Glück, sagte Saint-Just, ist eine neue Idee in Europa. Dieses Programm hat heute seine ersten konkreten Chancen.

Die souveräne Anziehung, die Charles Fourier im freien Spiel der Leidenschaften aufdeckte, muß beständig wiederentdeckt werden. Wir werden daran arbeiten, neue Begierden zu erfinden, und wir werden die größte Propaganda für diese Begierden machen.

Wir sind diejenigen, die in die sozialen Kämpfe den einzig wahren Zorn hineintragen werden. Man macht die Revolution nicht, indem man 25216 Francs im Monat fordert. Sofort muß man sein Leben gewinnen, sein vollständig irdisches Leben, in dem alles machbar ist:

Von der Kraft und der Stärke des Geistes kann man gar nicht genug erwarten.

Paris, 5. Mai 1954

Für die Internationale lettriste:
HENRY DE BÉARN, ANDRÉ CONORD, MOHAMMED DAHOU,
GUY-ERNEST DEBORD, JACQUES FILLON, PATRICK STRARAM, GIL J WOLMAN


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