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Allgemeine Überlegungen
für die Zeitschrift »Mutant«

[Mutant, 1962]

Ein interner Bericht der S.I. (dreiseitiges, maschinengeschriebenes Manuskript in französisch,
unsigniert, gefunden im Archiv de Jong, Amsterdam)

Übersetzt von Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde
Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst
Edition Nautilus, Hamburg, 1990
[Considérations générales pour la revue « Mutant »]

 

 

I.

WIR GEHEN von der grundlegenden Tatsache aus, daß die Utopie in unserer Zeit unmöglich geworden ist, weil die praktischen Mittel ihrer Realisierung auf allen Gebieten schon existieren; auch wenn sie überall ohne Anwendung und ohne Sinn bleiben (allein die Verwirklichung der Totalität des unmittelbar Möglichen, die in der existierenden Gesellschaft enthalten ist und erkämpft wurde, eröffnet ein neues Feld im utopischen Denken, das den Verlauf der momentan blockierten Geschichte tatsächlich voraus ist). Insofern kann Mutant nur für die Zeitschrift der ganzen Utopie gehalten werden, wenn man bedenkt, daß sie auch die radikalste Negation repräsentiert, mit der Aufforderung, sofort zu Handlungen überzugehen. Es ist selbst bei größten Anstrengungen und allerbestem Willen zu spät, um Utopist zu sein. Die Art der Utopie, die bei Pseudo-Denkern in der Politik und in der Soziologie zaghaft anfängt, hat im Gegenteil keinen anderen Sinn als den der Rückzugs zu dem, was sie für das Unmögliche halten, weil eine gewisse entfremdete Praxis — die sie gegen die durchsichtige und wirksame Gewißheit haben sehen können — schließlich diejenigen zu enttäuschen beginnt, die die vollständig Betrogenen und die Komplizen dieser Praxis gewesen sind. So wird also einer Generation von »progressistischen« Ideologen, die um die Gelegenheit ebenso gebracht ist wie um Mut und Kreativität, unsere Epoche immer verborgen bleiben, in dem, was sie tatsächlich ist, und in dem, was man aus ihr machen könnte.

*

Der herrschende Geist des Science-fiction ist der Geist der beherrschenden Kräfte unserer Epoche, und es ist ihm also verwehrt, die Dimensionen und die Nähe der »zukünftigen« Epoche (einer qualitativen Veränderung) zu verstehen, die bereits wirklich in das gegenwärtige Leben eingetreten ist. Sie ist nach dem Tod der alten Literatur kein Gegenstand für neue literarische Entwicklungen: Sie ist realer als die Vergangenheit, die noch an der Macht ist. Und wir sind die Botschafter dieser neuen Welt. Man sollte also, im Interesse aller, besser unverzüglich die Schuldscheine einlösen.

* * *

Die Perspektiven eines nächsten atomaren Konflikts auf Weltebene reichen, um den ganzen falschen Ernst der alten Welt endgültig zu begraben. Es gibt heutzutage einen Humor der Atomisierung, in dem unsere Gesellschaft sich vorzüglich vor sich selbst offenbart, in einer Inflation von Megatonnen und Familienbunker.

Es ist klar, daß der gegenwärtige Weg in den Atomkrieg — für die Dirigenten beider Blöcke — keinen anderen Sinn hat, als ein Mittel zu sein, ihre eigenen Untertanen (das heißt die gesamte Weltbevölkerung) besser gefügig zu halten. Das einzige Risiko dieser Parade, das man nicht vernachlässigen darf, entsteht aus einem zufälligen Schlagabtausch. Wir schlagen vor, die Atomschutzbunker in allen ihren Formen zu verachten, nicht nur in jener Periode der Erpressung zum Konflikt, sondern auch für den Moment, in dem die atomare Zerstörung tatsächlich ausgelöst wird. Gegen die Aspiranten eines kleinen unterirdischen Überlebens, das letztlich das ideale Modell einer heruntergekommenen und mechanisierten Existenz darstellen wird, die der moderne Kapitalismus schon in die Massen eingeleitet hat, sollte man die ehrenhafte Idee eines atomaren Selbstmords propagieren (man könnte ins Auge fassen, auf dieser Basis einen Club zu gründen). Wir versichern, daß wir draußen sterben werden, mit der gesamten Kultur der Menschheit auf unserem Scheiterhaufen (ein schönes Ende für Barbaren).

(Fortsetzung folgt)


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