Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie (von 1955)

von Guy Debord
Was uns an allen Geschehnissen an denen wir mit oder ohne Interesse teilnehmen, immer wieder zu Fesseln vermag, ist einzig die fragmentarische Suche nach einer neuen Lebensweise. Die größte Gleichgültigkeit gegenüber einigen Disziplinen ästhetischer oder anderer Art, deren dies bezügliche Unzulänglichkeit unmittelbar festzustellen ist ist selbstverständlich Man müßte also provisorische Beobachtungsgebiete bestimmen - unter ihnen die Beobachtung bestimmter Vorgänge auf den Straße aus dem Bereich des Zufalls und des Voraussehbaren.

Das von einem gebildeten Kabylen vor geschlagene Wort " Psychogeographie " zur Bezeichnung de gesamten Phänomene, mit denen wir uns gegen Sommer 1953 befaßten, ist nicht allzu schlecht gewählt. Es bleibt innerhalb der materialistische Perspektive einer Konditionierung des Lebens und des Denkens durch die objektive Natur. Zum Beispiel gibt die Geographie Aufschluß über die bestimmende Wirkung allgemeiner Naturkräfte - wie die Zusammersetzung des Bodens oder die Klimatischen Verhältnisse - auf die wirtschaftliche Struktur einer Gesellschaft und damit auch auf ihre Weltanschauung. Die Psychogeographie würde sich die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen der gegebenen oder bewußt eingerichteten, direkt auf das Gefühlsverhalten des Individuums einwirken den geographischen Umwelt zur Aufgabe machen. Das Adjektiv psychogeographisch, dessen Unbestimmtheit uns sehr willkommen ist, läßt sich also auf die durch diese Art von Forschungen festgestellten Angaben anwenden, auf die Resultate ihres Einflusses auf die menschlichen Gefühle und sogar noch allgemeiner auf jede Situation oder jedes Verhalten, die zum selben Entdeckungsgeist zu gehören scheinen.

Vor langer Zeit hat man bereits sagen können, die Wüste sei monotheistisch. Wird man nun die Feststellung, das sich zwischen dem Place de la Contrescarpe und der Rue de l' Arbalète erstreckende Pariser Viertel neige mehr zum Atheismus, zum Vergessen und zur Desorientierung der gewöhnlichen Reflexe, unlogisch oder uninteressant finden? Es ist gut, einen historisch relativen Begriff des Nützlichen zu haben. Der von Napoleon III. angenommene Plan zur Verschönerung der Stadt Paris diente ursprünglich der Sorge, über freie Räume zu verfügen, die schnelle Truppenbewegungen und den Einsatz von Artillerie gegen Aufstände ermöglichen sollten. Aber abgesehen von diesem einzigen polizeilichen Gesichtspunkt ist das Paris von Haussmann eine Stadt voll sinnlosem Lärm und Gedränge, die von einem Idioten erbaut wurde. Heute liegt das größte, vom Urbanismus zu lösende Problem in der Herstellung guter Verkehrsmöglichkeiten für eine schnell wachsende Anzahl von motorisierten Fahrzeugen. Man darf wohl annehmen, daß ein zukünftiger Urbanismus sich um gleichzeitig nützliche Konstruktionen bemühen wird, die den psychogeographischen Möglichkeiten weitgehend Rechnung tragen.

Im übrigen ist der aktuelle Überfluß an Personenwagen nichts anderes als das Ergebnis der ständigen Propaganda, mit der die kapitalistische Produktion die Masse überzeugt - und das ist einer ihrer verblüffendsten Erfolge -, daß der Besitz eines Autos gerade zu den Vorrechten zählt, die unsere Gesellschaft ihren privilegierten Mitgliedern reserviert. (Da der anarchische Fortschritt sich selbst verleugnet, kann man genießerisch zusehen, wie ein Polizeipräfekt die Pariser Autobesitzer durch Kino anzeigen zum Gebrauch der öffentlichen Verkehrsmittel ermuntert.)

Da man schon bei so geringfügigen Anlässen auf die Vorstellung des Privilegs stößt, und da man weiß, mit welch blinder Wut so viele - und doch so wenig privilegierte - Leute bereit sind, ihre dürftigen Vorteile zu verteidigen, muß man feststellen, daß all diese Einzelheiten zu einer Vorstellung vom Glück gehören, wie sie in der Bourgeoisie gültig ist, die durch ein Reklame System aufrechterhalten wird, das Malrauxs Ästhetik wie auch die Imperative von Coca Cola umfaßt und deren Krise es beijeder Gelegenheit und mit allen Mitteln zu provozieren gilt.

Die nächstliegenden Mittel sind ohne Zweifel die in der Absicht einer systematischen Provokation durch Geführte Verbreitung von zahlreichen Vorschlägen mit dem Ziel, aus der Leben ein globales, Leidenschaftlich aufregendes Spiel zu machen, sowie die ständige Entwertung aller gebräuchlichen Unterhaltungen, in der Maße natürlich, wie sie nicht dazu zweckentfremdet werden können, Konstruktionen interessanterer Stimmungen zu dienen. Allerdings liegt die größte Schwierigkeit eines solchen Unternehmens darin, in diese scheinbar schwärmerischen Vorschläge die ausreichende Menge ernsthafte Anreizes zu bringen. Eine geschickte Anwendung der gegenwärt beliebten Kommunikationsmittel läßt sich als Möglichkeit denken, zu diesem Resultat zu gelangen. Aber ebenso sorgen auch eine Art auffällger Enthaltung, oder auf die radikale Enttäuschung der Liebhaber eben dieser Kommunikationsmittel abzielende Manifestationen mit geringem Aufwand für eine Atmosphäre des Unbehagens, die für die Einführung einiger neuer Begriffe der Begierde sehr günstig ist. Der Gedanke, daß die Realisierung einer ausgewählten Gefühlssituation einzig von der genauen Kenntnis und der überlegten Anwendung einer bestimmten Anzahl konrkreter Mechanismen abhängt, lag diesem "Psychogeographischen

Spiel der Woche" zugrunde, das immerhin mit etwas dazugehörigem Humor in der ersten Nummer der Zeitschrift "Potlatch" veröffentlicht wurde:

"Je nach dem, was Sie suchen, wählen Sie eine Gegend, eine mehr oder weniger dicht bevölkerte Stadt, eine mehr oder weniger belebte Straße. Bauen Sie ein Haus. Richten Sie es ein. Holen Sie das Beste aus seiner Aufmachung und Umgebung heraus. Wählen Sie Jahreszeit und Stunde. Bringen Sie die geeignetesten Personen sowie die passenden Platten und alkoholischen Getränke mit. Beleuchtung und Konversation wie auch die äußere Atmosphäre oder Ihre Erinnerungen müssen selbstverständlich den Umständen entsprechen.

Wenn Sie keinen Fehler in Ihrer Rechnung gemacht haben, muß das Ergebnis Sie zufriedenstellen."

Wir müssen uns damit beschäftigen, massenweise Begierden auf den Markt zu werden - und sei es momentan auch nur auf den intellektuellen -, deren Fülle nicht die aktuellen Einwirkungskräfte des Menschen auf die materielle Umwelt, sondern die alte gesellschaftliche Organisation überschreiten wird. Folglich entbehrt es nicht des politischen Interesses, derartige Begierden den primären entgegenzusetzen, die begreiflicherweise in der Filmindustrie oder auch in den sogenannten psychologischen Romanen, wie etwa denen des alten Schind Luders Mauriac, endlos wiedergekäut werden. ("In einer auf die Armut gegründeten Gesellschaft haben die elendsten Produkte das fatale Vorrecht, der Mehrheit zum Gebrauch zu dienen", erklärte Marx dem armen Proudhon. )

Die revolutionäre Umgestaltung der Welt - aller Aspekte der Welt wird allen Ideen des Überflusses recht geben. Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen; die Richtung der stärksten Gefälle (ohne Bezug auf den Höhenunterschied), der alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen; der anziehende oder Abstossende Charakter bestimmter Orte all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann. Zwar weiß man, daß es trübsinnige und angenehme Stadtviertel gibt. Man bildet sich aber gewöhnlich fast ohne jede weitere Nuancierung ein, daß die eleganten Straßen ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln, während die ärmlichen deprimierend wirken. In Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der möglichen Stimmungskombinationen - analog der Auflösung der chemisch reinen Körper in die endlose Zahl von Gemischen ebenso differenzierte wie komplizierte Gefühle zufolge, wie diejenigen, die jede andere Art des Anblicks auslösen kann. Und die geringste entmystifizierte Forschung macht sichtbar, daß zwischen den Einflüssen der verschiedenen, in einer Stadt errichteten Szenerien keine Unterscheidung, sei sie qualitativ oder quantitativ, von einer Epoche oder einem Baustil aus formuliert werden kann und noch weniger von den Wohnbedingungen.

Die Forschungen, zu denen man hierdurch gebracht wird, sehen die Disposition der Bestandteile des urbanistischen Rahmens in enger Verbindung mit den von ihnen hervorgerufen en Empfindungen und setzen unvermeidlich kühne Hypothesen voraus, die ständig im Lichte der Erfahrung durch Kritik und Selbstkritik zu korrigieren sind.

Bestimmte, deutlich aus architektonischen Eindrücken hervorgegangene Bilder von Chirico vermögen eine Rückwirkung auf ihre objektive Basis auszuüben, die bis zu deren Verwandlung gehen kann: sie tendieren dazu, selbst Entwürfe zu werden. Unheimliche Arkadenviertel könnten eines Tages die Anziehungskraft dieses Werkes weiterführen und vollenden.

Ich kenne kaum etwas anderes, dessen Schönheit es den in Paris angeschlagenen Metroplänen gleichtun könnte, als die zwei im Louvre ausgestellten Häfen in der Abenddämmerung von Claude Lorrain, die die genaue Grenze zweier städtischer Stimmungen darstellen, die so verschieden sind, wie man es sich nur vorstellen kann. Man wird verstehen, daß ich hier keine plastische Schönheit meine - die neue Schönheit kann nur die einer Situation sein -, sondern lediglich die in beiden Fällen besonders ergreifende Darstellung einer Summe von Möglichkeiten. Unter verschiedenen schwierigeren Interventionsmitteln erscheint eine erneuerte Kartographie zur unmittelbaren Ausnützung geeignet.

Die Herstellung psychogeographischer Karten oder sogar die Anwendung verschiedener Fälschungen wie etwa eine - mehr oder weniger begründete oder vollkommen willkürliche - Gleichsetzung zweier topographischer Darstellungen können dazu beitragen, bestimmte Ortswechsel zu erklären, die den Charakter nicht gerade der Unmotiviertheit, aber der vollkommenen Nichtbefolgung der gewöhnlichen Anregungen haben. Anregungen dieser Art sind unter dem Begriff des Tourismus verzeichnet, als populäre Droge ebenso widerlich wie Sport oder Kaufkredit.

Ein Freund erzählte mir kürzlich, er habe anhand eines Londoner Stadtplans, dessen Anweisungen er blindlings gefolgt sei, den Harz in Deutschland durchquert. Diese Art Spiel ist natürlich nur ein mittelmäßiger Anfang im Hinblick auf eine vollständige Konstruktion der Architektur und des Urbanismus, einer Konstruktion, die eines Tages allen möglich sein wird. Inzwischen kann man zwischen verschiedenen, weniger schwierigen Stadien der teilweisen Verwirklichung unterscheiden, angefangen bei der einfachen örtlichen Verlagerung der Dekorationselemente, denen wir gewöhnlich an vorbereiteten Stellen begegnen.

So hat Marien in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift vorgeschlagen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Mittel der Welt nicht mehr an jene irrationalen Unternehmen verschwendet werden, zu denen man uns heutzutage zwingt, sämtliche Reiterstatuen aller Städte in einer einzigen öden Ebene ungeordnet zusammenzubringen. So böte sich den Passanten - denen die Zukunft gehört - das Schauspiel einer synthetischen Kavallerie Attacke, die man sogar dem Andenken der größten Massenmörder der Geschichte von Tamerlan bis zu Ridgway widmen könnte. Hier taucht eine der Hauptforderungen der heutigen Generation wieder auf, nämlich die des erzieherischen Wertes. Tatsächlich kann man sich nur vom Bewußtwerden der handelnden Massen von den Lebensbedingungen etwas versprechen, die ihnen in allen Bereichen auferlegt werden, sowie von den praktischen Mitteln, diese Bedingungen zu verändern.

"Das Imaginäre ist das, was eine Tendenz zur Verwirklichung in sich trägt", konnte ein Autor schreiben, dessen Namen ich aufgrund seiner allgemein bekannten Liederlichkeit auf geistigem Gebiet inzwischen vergessen habe. Dadurch, daß eine solche Behauptung etwas unabsichtlich Einschränkendes enthält, kann sie als Prüfstein dienen und ein Strafgericht über einige Parodien einer literarischen Revolution ergehen lassen: was die Tendenz in sich trägt, irreal zu bleiben, ist Geschwätz.

Das Leben, für das wir die Verantwortung tragen, begegnet neben großen Entmutigungsgründen auch einer Unzahl von Ablenkungen und mehr oder weniger vulgären Kompensationen Es vergeht kein Jahr, ohne daß von uns geliebte Menschen sich in irgendeine auffällige Kapitulation ergeben, weil sie die vorhandenen Möglichkeiten nicht klar verstanden haben. Sie verstärken aber nicht das feindliche Lager, das bereits Millionen von Schwachsinnigen zählte und in dem man objektiv dazu verurteilt ist, schwachsinnig zu sein.

Der erste moralische Mangel bleibt die Duldsamkeit in allen ihren Formen.

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