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PISA erfasst drei Bereiche, die Lesekompetenz, die mathematische und die naturwissenschaftliche Grundbildung. Die Ergebnisse des ersten Hauptbereichs, zur Lesekompetenz liegen seit dem 4. Dezember vor: Bei 180000 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus 32 Staaten ist die Lesefähigkeit getestet worden, darunter 5073 Schülerinnen und Schülern an 219 Schulen in Deutschland. Durchschnittlich waren dies 23 15-Jährige pro Schule.
Bei der getesteten Lesekompetenz geht es darum, „geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen , ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen". Weiter ist die Lesekompetenz ,ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele", sie ist „eine Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten - also jeder Art selbst ständigen Leinens und als eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" zu sehen.
PISA unterscheidet bei der Lesekompetenz drei Aspekte, deren Ergebnisse getrennt ausgewiesen werden: Informationen ermitteln, textbezogenes Interpretieren sowie Reflektieren und Bewerten. Die Ergebnisse werden in Kompetenzstufen eingeordnet, von V (Expertenstufe) bis I (Elementarstufe).
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Deutschland als Weltmeister sozialer Selektion
Die ersten Ergebnisse der von der OECD durchgeführten PISA - Studie (siehe Kasten) haben eine breite Diskussion zur Situation der Schulbildung in Deutschland hervorgerufen. Unsere Autorin, selbst Grundschul-Lehrerin in Köln, hat die Ergebnisse unter die Lupe genommen und entwickelt Konturen einer anderen Schulpolitik.
Streuung auf niedrigem Niveau
Für Deutschland ist das Ergebnis ein niederschmetterndes
Resultat! Die Leistungen deutscher Schüler sind im unteren Bereich angesiedelt
und streuen beträchtlich. Es verwundert natürlich nicht, dass in den unteren
Sozialschichten der Anteil der Kompetenzstufe I besonders groß ist. Deutschland
und die Schweiz gehören zu den Ländern, in denen die Korrelation zwischen
sozialer Lage und Kompetenz ungewöhnlich hoch ist. Hinzu kommt, das die Kinder
von Zuwanderern deutlich schlechter abschneiden als die Einheimischen.
Gleichzeitig ist
festzustellen, dass es nirgendwo einen früheren Selektionszeitpunkt gibt als in
Deutschland. Dabei ist Deutschland das einzige Land mit einer so tiefgreifenden
Selektion, vergleichbar nur noch mit Osterreich, wo es ein zwei gliedriges Schulsystem
gibt.
Jede Grundschullehrerin
kennt die Qual der Entscheidung, wenn ihre Schüler nach der vierten Klasse
(also in der Regel zehnjährig für das dreigliedrige Schulwesen „eingeordnet"
werden müssen. Wir alle wissen, dass es flicht nur viel zu früh für eine
Entscheidung solcher Tragweite ist. Gleichzeitig wissen wir auch, wie wenig
durchlässig unser Schulsystem ist. Um so schwerwiegender ist die Entscheidung,
denn eine, Durchlässigkeit nach oben" gibt es praktisch nicht. Bei diesem
unfairen Wettbewerb geht es um Gewinner und Verlierer, die willkürlich
produziert werden.
Die PISA -Studie
hat aber auch aufgezeigt, dass diese Dreiteilung der Schülerschaft nicht etwa
im oberen Drittel Höchstleistungen zur Folge hat, keineswegs. Obwohl die
deutschen Gymnasien eine scharf ausgelesene Schülerschaft unterrichten (die ,,falsch"
zugeordneten Schüler sind in dieser Altersgruppe zu einem großen Teil schon
abgeschoben), erbringen diese Schüler keine herausragenden Leistungen, vielmehr
bleiben sie nur Mittelmaß.
Andererseits gelingt es im Gegensatz zu anderen Ländern bei uns nicht , die schwachen Schüler so zu fördern, dass sie höhere Kompetenzstufen erreichen. Der Anteil der Jugendlichen ,die unterhalb der Kompetenzstufe I liegen, ist mit fast 100% vergleichsweise groß. Nur Brasilien, Mexiko, Lettland und Luxemburg haben höhere Anteile. Damit ist auch die Mär von der begabungsgerechten Förderung eindeutig wiederlegt. Das anregungs- ärmere Entwicklungsmilieu in den Hauptschulen bremst und das anregungsreichere Milieu in mittleren und höheren Schulen bringt nicht die erwarteten Leistungen.
Abgefragt wurden auch Lesehäufigkeit und Einstellungen zum
Lesen. Der Vergleich zeigt, dass von den 15-J'âhrigen in der BRD etwa 42 %
überhaupt nicht zum Vergnügen lesen - dieses katastrophale Ergebnis wird von
keinem anderen Land übertroffen. In der mathematischen und
naturwissenschaftlichen Grundbildung geht es nach PISA um die ,anforderjungen
des gegenwärtigen und künftigen Lebens einer Person als konstruktiver,
engagierter und reflektierender Bürger" mit der Fähigkeit, ,die Rolle, die
Mathematik in der Welt spielt, zu erkennen und zu verstehen und begründete
mathematische Urteile abgeben zu können«. Hier gehört Deutschland neben den
USA, Spanien und den osteuropäischen Ländern nur ins untere Mittelfeld, die
Leistungsspitze bilden Japan und Korea. Wirklich erschreckend ist aber, dass in
Deutschland der Anteil der Schüler, die mit ihren Fähigkeiten unter Stufe I
liegen, auf Fällig hoch ist. Und wenn man bedenkt, dass Stufe I
Grundschulniveau ist, dann ist das Ergebnis für immerhin 15-Fáhrige um so
schwerwiegender.
In Prozenten ausgedrückt: 9,9% schaffen nicht einmal die
Stufe I, d.h. sie können zwar lesen, schaffen es aber nicht, die notwendigen Schlussfolgerung,
gen aus den Texten zu ziehen.. Weitere 27,7 % erreichen mal gerade die unterste
Niveaustufe I,
haben also als 15-j'áhrige Grundschulniveau. Diese deutsche
Problemgruppe hat die Bildungsforscher vor allem alarmiert. Kinder aus bildungsfernen
Schichten haben bei uns wenig Chancen bei der Teilhabe an Bildung und
Kompetenzerwerb, welche sie befähigt, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu
einem adäquaten Schulerfolg zu kommen.
Was aber die Bildungspolitiker
auf den Plan rufen muss, ist
die Tatsache, dass die höchste Kompetenz stufe V nur 9% der
deutschen Schülerinnen und Schüler erreichen, also ebenfalls unter
OECD-Mittelmaß (10%} liegen.
Dieses Ergebnis
bedeutet, dass das hochgelobte deutsche Schulsystem mit seiner frühen Selektion
und annähernd homogenen Lerngruppen in getrennten, nur nach unten
durchlässigen, Systemen eben nicht die lernschwächeren Schüler durch
Aussonderung besser fördert, und auf der anderen Seite die leisttagsstärkeren
Jugendlichen in ihrer Leistungsgruppe eben nicht zu den angestrebten Höchstleistungen
kommen.
In meinem Studium
in den 70ern war der Begriff der ,kompensatorischen Erziehung" hoch im Kurs. Er sollte deutlich machen, dass
durch eine die sozialen Nachteile ausgleichende Erziehung mehr Kinder zu einer
weiter führenden Bildung gelangen würden - durch Intensive
Sprachförderung und durch Unterrichtsinhalte, die mehr Bezug
nehmen auf die Lebenswelt und die Daseinsbedingungen aller Kinder. Nicht nur
von konservativen Bildungspolitikern wurden diese Ansichten als lebensferne,
nicht realisierbare Illusionen abgetan.
Es kam dann die
Zeit der Gesamtschulgründungen, wo die Idee' der gemeinsamen Erziehung aller
Kinder wieder aufgegriffen wurde. Nur leider wurde sie halbherzig in Angriff
genommen, denn neben den Gesamtschulen sollte das dreigliedrig Schulsystem
weiter bestehen. Das führte und 'führt dazu, das die Eltern potenzieller Gymnasiumskinder
diese in der Rege am Gymnasium anmelden. Und so diese Schülergruppe der Gesamtschule ,verloren" geht.
Die Folge unseres frühindustriellen Schulsystems in einen hochindustrialisierten Land wie, der BRD spiegelt den Klassen Charakter unserer Gesellschal wider, die mit ihrer Selektion au einem alten und längst überholten Begabungsbegriff zurück greift, für den es keine wissenschaftliche Grundlage gibt. So kommt es, dass viele. Jugendliche an der Schule scheitern und ( von einer weiterführenden Bildung von vornherein ausgeschlossen werden.
Gleichzeitig gibt es zu wenige, die die Schule mit Abitur
verlassen, was zu einem Mangel an Hochschulabsolventen führt.
Finnland zum Vergleich
Im Gegensatz zu Deutschland ( mit seinem hochselektiven Schulsystem praktiziert Finnland ein langes, gemeinsame Lernen in integrierten Systemen.
Mit ihrer Gesamtschule schnitten die finnischen Schulkinder
in den Lesefertigkeiten am besten ab und das ohne Noten und 'Prüfungsstress.
Mit sieben Jahren beginnt für das finnische Kind die Schule. Vorher kann es auf freiwilliger Basis eine Vorschule besuchen 75 % der Kinder nehmen dies in Anspruch. Die Pflichtschule ist eine neunjährige Ganztagsschule, die gemeinsame Mahlzeit ist kostenlos.
Diese Pflichtschule kennt keine Notenzeugnissen Allen Behauptungen
zum Trotz, das,, Kinder ohne Noten nicht lernen würden, beweisen die hervorragenden
Ergebnisse der finnischen Jugendlichen nicht nur in, der Lesekompetenz, sondern
auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften das Gegenteil.
Ich selber arbeite an einer Grundschule, die seinerzeit im
Rahmen eines Schulversuchs in NRW vier Jahre ohne Noten arbeiten durfte. Kein
Kind in meiner Klasse war deshalb weniger motiviert. Im Gegenteil, wir konnten
uns auf die Inhalte konzentrieren. Dann lief der Versuch aus, die noten freie
Zeit beschränkt sich nur noch auf die erste und zweite Klasse und auf Beschluss
der Schulkonferenz zusätzlich auf die dritte Klasse, wovon aber die wenigsten
Schulen Gebrauch machen.
Das Beispiel Finnland zeigt uns jetzt, wie Recht wir hatten,
als wir von einem entspannten Lernklima sprachen, in dem Ängste um
Leistungsvergleiche und Versagen gar nicht erst aufkommen und der unselige Wettbewerb
um gute Noten nicht stattfindet.
In Finnland lernen alle Schüler bis zum 16. Lebensjahr
gemeinsam, erst dann teilt sich die Schülerschaft, eine Hälfte besucht das
Gymnasium, die andere Hälfte geht auf .eine berufsbildende Schule. Erst jetzt
gibt es 'Prüfungen und Noten. Das Gymnasium schließt mit dem Abitur, also der
Hochschulreife, ab. Die Schule ist , generell kostenfrei, das gilt nicht nur für
Bücher, sondern für alle Medien einschließlich der Schreib- und
Zeichenmaterialien.
Vorschläge zur Diskussion
Perspektiven der Schulpolitik
Schon gibt es erste Stimmen, die die Ergebnisse anzweifeln,
relativieren und in Details kritisieren. Es lohnt nicht! Die Ergebnisse sind
wissenschaftlich fundiert und selbst, wenn sich Mängel zeigen sollten, sie
beträfen dann auch die anderen Länder.
Auch der Hinweis auf die Migranten-Kinder in deutschen
Schule zieht nicht. In vielen anderen Länder gibt es ähnliche oder gleiche
Probleme, aber bei uns sind neben Kindern aus sozial - schwachem Milieu die
Migranten-Kinder die Verlierer im deutschen Schulsystem. Außerdem verkürzt die
frühe Selektion das Zeitfenster für Interventionen und eine Änderung der
Schullaufbahn ist praktisch nicht mehr möglich. Was also muss anders werden?
Zweifellos ist das deutsche Drei-Klassen-Schulsystem verantwortlich für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler ist. Dieses Bildungssystem ebnet nur etwa einem Viertel aller Schuler den Weg in die Hochschule. Deshalb kann es nur eine sinnvolle und logische Forderung geben: Abschaffung des drei-(5) gliedrigen Schulsystem und Einführung wohnortnaher integrierter Gesamtschulsysteme für alle Schülerinnen und Schüler.
Auf dem Wege dorthin ist weiter zu fordern: - Ein flächendeckendes
Angebot an Ganztagseinrichtungen, in denen Lernprozesse alters gerecht
rhythmisiert werden (kein 45~Minuten-Takt!), Stütz- und Fördermaßnahmen, eingeschlossen
sind, und wo Projektlernen fachübergreifend stattfindet und der Freizeitbereich
lukrative Angebote bereit hält.
Alle Schulen brauchen niedrige Klassenfrequenzen und eine an
den örtlichen Erfordermissen ausgerichtete Versorgung mit Lehrkräften und, wo
nötig, besondere finanzielle und pädagogische Unterstützung.
- Für alle Lehrerinnen und Lehrer ist eine an der Praxis orientierte wissenschaftliche Ausbildung für alle Schulstufen in der ersten Phase unabdingbar, mit einem größeren Anteil Didaktik und Pädagogik für die Sekundarstufen I und II.
In der zweiten Phase ist eine zeitlich angemessene Referendarausbildung zu fordern, die nicht durch planstellensparenden Pflichtunterricht auf Kosten der Ausbildung verkürzt wird.
Regelmäßige Fort- und Welterbildung als Verpflichtung für
alle Lehrer bei gleichzeitig angemessener Stundenentlastung.
- Wir brauchen mehr Einsatz für die frühkindliche Förderung
durch gebührenfreie Kindergärten, wo mindestens das letzte Kindergartenjahr für
alle Kinder verpflichtend ist und der Aufbau eines Sprachf6rderprogramms in
Angriff genommen wird~ ·
Dem Versuch der Vernebelung durch ,die amtierenden Kultusminister zum Trotz und entgegen, den halbherzigen Aussagen so mancher Bildungsfachleute zu' den PISA - Ergebnissen, muss die Frage nach der Schulstruktur in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden.
Es geht um ein grundsätzliches Umdenken in der Bildungspolitik und wir müssen der GEW-Vorsitzenden Eva-Maria Stange Recht geben, die meint: ,Natürlich müssen wir die Schulformdebatte neu aufrollen.
Das ist ein Schlachtfeld, für das jetzt Daten vorliegen.
Mein Tipp:
Alle Parteien raus aus den
Schützengräben. Schluss mit dem Grabenkrieg
Die Front ist ganz wo anders.
Wir brauchen kein Schlachtfeld,
sondern die „Kuh“ vom Eis!!!