Vicky

by Mara   pfaou@hotmail.com

 

Teil 1

Langsam stapfte sie durch den Schnee. Er knirschte unter ihren Stiefeln. Eigentlich wusste sie nicht, wohin sie ging, denn obwohl sie hier aufgewachsen awr, kannte sie diese Umgenung nicht mehr. Etwa ein Jahr zuvor war sie mit ihrer Familie unterwegs gewesen. Sie hatten Verwandte besucht und waren spät Abends auf dem Rückweg verunglückt. Außer ihr, sie hieß Victoria, hatte nur noch ihre kleine Schwester, die dreijährige Chiara, überlebt. Victoria konnte sich auch an sie nicht erinnern, doch sie wollte das kleine Mädchen nicht in fremde Hände geben und nahm sie bei sich auf. Das Victoria überhaupt wusste wer sie war, verdankte sie ihrem Ausweis, den sie immer bei sich hatte. Mittlerweile hatte man eine Wohnung nahe Köln für die Schwestern organisiert und psychiatrische Betreuung für Victoria, damit irgendwann mal ihr Gedächtnis wiederkehren würde. Bisher war dergleichen noch nichts geschehen...

Victoria hatte die Kindertagesstätte erreicht, wo sie Chiara abholte. Die Kleine lief Hand in Hand mit einem Jungen über den Spielplatz, als sie Victoria entdeckte.

"Hallo Vicky!!! Kuck mal!!! Ich habe einen neuen Freund gefunden!!! Der ist aber schon viel älter als ich! Nämlich sechs Jahre alt! Darf er heute nachmittag mit zu uns kommen?"
"Da musst du aber erst mal seine Eltern fragen", meint die große Schwester vernünftig und kam kurz darauf mit einer dunkelhaarigen Frau, die Mutter des Jungen, ins Gespräch. Sie hatte nichts dagegen, das ihr Sohn zum Spielen mal woanders war und meinte, das ihr Bruder dann den Kleinen abholen würde.

Den ganzen Nachmittag hingen die beiden Kinder im Wohnzimmer und spielten mit Lego und Duplosteinen. Vicky saß über einer Unmenge von Ordnern, in denen ihr Leben war. Es waren Schulzeugnisse und ärztliche Dinge ihres ganzen 20-jährigen Lebens drin. Und noch viele andere Dinge, mit denen sie nicht viel anfangen konnte. Denn ganz private Dinge waren dort nicht zu finden. Es kamen Fragen auf wie:
Was für Musik hörte ich?
Hatte ich viele Freunde?
War ich verliebt?
Was waren meine Hobbies?

Zerknirscht kullerte ihr ein Tränchen über die Wange.
Unwirsch wischte sie die Träne weg, denn die beiden Kinder kamen an und wollten etwas trinken.
Sie machte ihnen warmen Kakao und ging dann wieder in ihr Arbeitszimmer.
Seit einem halben Jahr arbeitete sie für eine Zeitung als Korrektorin und Übersetzerin, denn ihre Fähigkeiten, was Sprache und Fremdsprachen anging, schien nicht verloren gegangen zu sein.

Zwei Stunden später klingelte es an der Tür. Vicky öffnete und dort stand der Onkel des kleinen Jungen, wie sich dann herausstellte.
Patrick, so hieß er, sollte seinen Neffen Sean abholen und hatte Schwierigkeiten normal mit der jungen Frau zu sprechen, die da vor ihm stand. Er war sich sicher sie schon mal gesehen zu haben, aber eher mit negativer Erinnerung. Doch die junge Frau, die da vor ihm stand und die er für die Mutter des Mädchens hielt, war so ganz anders, als er sie in Erinnerung zu haben glaubte...

Er nahm seinen Neffen an die Hand, verabschiedete sich und ging auf den silbernen VW-Golf zu.
Vicky konnte mit dem jungen Mann gar nichts anfangen und wunderte sich nur über sein abweisendes Verhalten.


Teil 2

In den nächsten Wochen war Sean sehr oft bei Chiara zu Besuch. Doch er wurde mittlerweile nur noch von seinem anderen Onkel Joey abgeholt. Patrick kam gar nicht mehr. Vicky war etwas verwundert, denn sie hatte das Gefühl, das sie ihm etwas getan hatte, wusste aber nicht was.

Ende Dezember des Jahres, Vicky holte Chiara das letzte Mal vor den Weihnachtsferien in der Kindertagesstätte ab, begegnete sie ihm dann doch noch einmal. Er holte seinen Neffen ab und drängte ihn zur Eile, als er sie sah.
Vicky fasste Mut und ging auf ihn zu.
"Entschuldige meine Aufdringlichkeit, aber was habe ich dir getan, das du mich so abwertend ansiehst?"
"Als wenn du das nicht wüsstest!!!"
Er stieg in den Wagen und brauste davon.
Vicky sah irritiert hinterher und ging mit Chiara nach Hause.

Heiligabend gingen die Schwestern über den Weihnachtsmarkt, der bis Mittag offen hatte. Chiara hatte sich einen schönen Wintermantel gewünscht und Vicky wollte ihr diesen Wunsch erfüllen. Als sie an einem Stand waren blitzte es vor Vickys Augen und sie hatte eine Erinnerung im Kopf.
Dort sah sie sich als kreischendes Mädchen, das einem Jungen an den Haaren riss und ihn anschrie, dass sie ihn liebte. Dieser Junge war Patrick!
Nun war ihr klar, was er meinte. Und sie schämte sich irrsinnig.
Doch sie wusste nicht, wie sie ihm das klarmachen sollte. Denn er würde sicherlich nicht mit ihr reden wollen. Und das sie an Gedächtnisschwund litt, würde er ihr auch nicht glauben. Also nahm sie sich vor, das sie ihm das alles in einem Brief schreiben wollte.
Doch erst trödelte sie mit Chiara über den Markt und leistete sich einen mittelalterlichen Poncho.
Vicky hatte den Brief geschrieben, doch sie traute sich nicht ihn ihm zu geben.
Deswegen versteckte sie ihn in ihrem Mantel. Was sie nicht wusste: Chiara hatte ihn entdeckt und mitgenommen. Über Sean gelangte er dann doch noch zu Patrick. Das alles hatte sie nicht mitbekommen, wunderte sich jedoch, das der Brief weg war. Sie dachte, das sie ihn wohl doch weggeworfen hatte und ließ es auf sich beruhen.

Nach den Ferien brachte sie ihre Schwester wieder zur Tagesstätte. Dort stand auch Patrick, doch Vicky würdigte ihn keines Blickes, denn sie wusste ja nicht, das Chiara Bote gespielt hatte, und ihr war seine Anwesenheit sehr unangenehm.
Schnell verließ sie mit Chiara das Gelände, sah nicht, das Patrick auf sie zugehen wollte. Nun stand er ziemlich bedröppelt da und wusste nicht, was er tun sollte.
Er beschloss dann, ihr auf den Brief zu antworten.
Sean spielte dieses Mal den Boten. Er gab den Brief an Chiara weiter, die ihn in die Manteltasche von Vicky steckte. Und dort fand diese ihn dann auch, dachte, das es ihr geschriebener Brief sei. Doch sie war sehr verwundert, als den Umschlag öffnete.

"Liebe Vicky,
ich habe durch Sean Deinen Brief bekommen und finde es absolut nicht unglaubwürdig, dass Du nach dem schweren Unfall an Gedächtnisschwund leidest, Dich dadurch an Deine ´bösen´ Taten nicht erinnern kannst. Es ist total lieb von Dir, dass Du mir erzählst, was Du in einer Blitzerinnerung erlebt hast und das Dir das leid tut. Ich nehme Deine Entschuldigung gerne an. Sollen wir uns mal auf einen Kakao treffen, am besten mit meinem Neffen und Deiner Tochter (ist sie doch, oder?). Melde Dich unter dieser Nummer ..... bei mir, wenn Du möchtest.
Bis dann.
Patrick"

Erstaunt ließ sie den Brief sinken und sah dann auf die unschuldig dreinschauende Chiara. Sie zog die Kleine an sich und knuddelte sie.


Teil 3

Vicky ging zum Telefon und wählte die angegebene Nummer. unruhig wartete sie das Freizeichen ab. Dann endlich nahm er ab.
" Hallo. Patrick hier."
"Hallo, hier ist Vicky. Du hast geschrieben, das ich mich bei dir melden kann."
"Ja, das habe ich. Und? Gehen wir gleich mit den Kleinen einen Kakao trinken?"
"Gleich? Äh...Ja, gerne. Ich sage nur meiner kleinen Schwester Bescheid. Sie freut sich bestimmt."
"Sie ist also deine Schwester. Gut. Das wusste ich halt nicht. Sorry."
"Das macht nichts. Wo treffen wir uns?"
"Ich werde euch gleich abholen. Ist das okay?"
"Ja, dann bis gleich!"

Vicky sagte Chiara Bescheid und sie zogen sich warme Jacken an. Dann warteten sie vor der Haustür. Doch das dauerte Chiara zu lange, deswegen fing sie an Schneebälle zu formen und auf Vicky zu schmeißen. Vicky machte sofort mit. Chiara holte gerade aus, um Vicky zu treffen, da kam Patrick mit Sean an und bekam den schneeball genau gegen die Schulter. Er reagierte sofort und bewarf Chiara mit einem Mini-Schneeball. So entstand eine Riesen-Schneeball-Schlacht.
Irgendwann gingen sie dann fröstelnd in ein Restaurant, wo sie dann Kakao tranken.
Während Chiara und Sean quatschten, schwiegen sich die beiden "Großen" erst mal an. Bis Patrick das Wort ergriff.
" Also ich finde es gut, das du den Brief geschrieben hast."
"Ich habe ihn aber nicht Chiara gegeben, das hat sie wohl von sich aus gemacht"
"Das war gut so."
Er lächelte sie an und sie wurde knallrot.
" So schüchtern warst du vor eineinhalb Jahren aber nicht. Da warst du eher rotzfrech und wie die anderen Kreischweiber."
"Welche Kreischweiber? Entschuldige, aber ich kann mich nur an das erinnern, was ich dir angetan habe. Warum ich das getan habe, weiß ich nicht. Was war da? Warum reißen dir Mädchen an den Haaren? Wer bist du eigentlich?"
Patrick schluckte. Das hatte er vergessen. Sie wusste ja so gut wie nichts mehr.
" Tja, du hast zu einer Horde Kelly Family-Fans gehört, die uns dauernd hinterherreisten und uns belagerten. Ich bin Patrick, aber die ganzen Girlies sagen halt Paddy zu mir. Ist ja auch egal, solange sie friedlich sind. Du hast jedenfalls nicht zu den friedlichen gehört."
Vicky wurde rot und schämte sich noch mehr. Plötzlich durchfuhr sie wieder eine Blitzerinnerung. Sie sah sich wieder in einer solchen Situation. Mit sieben oder acht anderen Mädchen. Patrick stand alleine und hilflos der Meute Girlies gegenüber und zitterte. Die Mädchen stürzten sich auf ihn, rissen an seinen Klamottem und versuchten ihn diese wegzunehmen. Er schrie um Hilfe und wollte sich wehren. Doch die Horde Mädchen waren stärker.
Vicky musste ewig vor sich hin gestarrt haben, als wenn sie einen Gesit gesehen hätte. Patrick drückte leicht ihren Arm.
" Es tut mir leid!!! Bittte verzeih mir!!! Ich wollte das nicht!!!"
Patrick erschrak über den Ausruf und noch mehr, als Vicky aufschluchzte.
Doch sie fing sich wieder. Dann sah sie ihn mit ihren blauen, großen Augen an und wirkte total fertig.
Patrick bezahlte die Getränke und brachte die Schwestern nach Hause. Er legte ihr einen Zettel hin, worauf Adresse und auch Festnetznummer stand, nachdem er dafür gesorgt hatte, das Vicky sich hingelegt hatte.
Dann verließ er mit Sean die Wohnung. Er wusste nicht mehr ein noch aus und wollte noch nach Rat bei seinen Geschwistern suchen.
Selbst Sean konnte ihn an diesem Tag nicht mehr aufheitern.


Teil 4

Patrick ließ Vicky und Chiara an einem Wochenende von Joey abholen. Sie wurden übers Wochenende auf Schloß Gymnich eingeladen. Vicky war etwas irritiert, da sie einige Zeit nichts von ihm gehört hatte. Aber sie freute sich auch darauf.
Freitag abend saß sie also mit Schwesterchen Chiara in Joeys Wagen auf dem Weg zum Kelly-Schloß.
Patrick begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung und Küssen auf die Wangen.
Er zeigte ihr das Zimmer, das sie für die nächsten zwei Tage bewohnen sollte.
Es war direkt neben seinem.
Am Abend saßen sie bei ihm und er wollte sich ihr etwas annähern, doch sie wollte nicht. Leicht gekränkt sah er sie an.
Vicky erklärte, das sie sich erst über ihre Vergangenheit im Klaren sein wollte, bevor sie eine Beziehung mit ihm eingehen würde. Vielleicht könnte sie es nicht verantworten, was sie ihm angetan hatte.
Am Samstag wurde nachts ein großes Lagerfeuer im Park gemacht. Patrick und Vicky tranken genüßlich Alkohol in rauhen Mengen, was dann kurze Zeit später dazu führte, das sie sich weiter in den Park verzogen und miteinander schliefen. Vicky bereute es gleich darauf wieder, obwohl sie sehr viel für Patrick empfand. Doch sie hatte wieder Blitzerinnerungen, auch währenddessen, die sie zurückscheuen ließen.
Sie bat Patrick um Zeit. Er hatte Verständnis dafür und ließ sie am Sonntag ohne Aufdringlichkeiten gehen.

Vicky begab sich in psychologische Hände, die sie weiter zu einem Hypnotiseur vermittelten. Dort kam dann auch Licht ins Dunkel.

Etwa ein Jahr vor dem Unfall begann es: Vicky schloß sich einer Gruppe Mädchen an, die die Kellys hörten. Von einem Mädchen der Bruder war scharf auf sie, doch sie fand ihn widerlich und ließ ihn immer abblitzen. Das ließ er sich nicht lange gefallen und nahm sich irgendwann, was er wollte. Er vergewaltigte Vicky.
Sie wurde schwanger von ihm und ließ das Kind abtreiben. Doch kurz darauf hatte sie dem umgebrachten Ungeborenen gegenüber Schuldgefühle.
Diese Wut ließ sie dann mit diesen Mädchen, die schon immer gerne die Kellys belästigt hatten, an Paddy, ihrem Kelly-Schwarm, raus, indem sie sich einfach an ihm vergriff. Denn als normaler Teenie würde sie ihm nie bekommen, also dann eben mit Gewalt. Sie machte den armen Kerl dafür verantwortlich, was passiert war. Der Hypnotiseur schrieb alles nieder, was Vicky erzählte und gab ihr die Unterlagen mit.

Einige Tage später hatte sie noch einen Termin bei einem Arzt. Seit geraumer Zeit war ihre Regel ausgeblieben und nun bewahrheitete sich ihre Befürchtung:
Sie war schwanger! Sollte sie es Patrick sagen? Sollte sie das Baby behalten?
Sie wollte nicht, das er falsch von ihr dachte, aber auch nicht noch mal denselben Fehler machen...


Teil 5

Es vergingen Monate, bis Patrick sich aufraffte, dann doch mal bei Vicky anzurufen. Es war mittlerweile wieder Dezember und Vicky war hochschwanger.
Doch das sagte sie ihm noch nicht. Denn sie hatte Angst vor seiner Reaktion.
Sie erzählte ihm, das sie noch in Behandlung sei und das sie ihm demnächst Berichte daraus zuschicken würde, Er sollte sich dann ein Bild davon machen und entscheiden, was zu tun wäre.
Mehr erzählte sie ihm nicht. Sie sagte nur am Schluß des Gespräches, das sie ihn vermissen würde. Das ging auch Patrick so.

Ende Dezember kam dann die kleine Sophie zur Welt. Eine Woche später sendete Vicky dann den Bericht des Hypnotiseurs zu und ein Foto von Sophie.
Kurze Zeit später stand Patrick völlig aufgelöst vor Vickys Wohnung.
Beschämt ließ Vicky ihn herein und führte ihn zu seiner Tochter.
" Warum hast du mir nichts gesagt???"
"Ich weiß es nicht. Ich hatte Angst vor deiner Reaktion."
"Die hättest du nicht zu haben brauchen. Ich wäre gerne bei der Geburt dabei gewesen."
"Sie sieht dir sehr ähnlich, Patrick."
"Ja, das ist wahr. Verleugnen kann ich sie nicht. Meine kleine Prinzessin."
Er nahm den Säugling aus der Wiege und wiegte ihn ihm Arm. Dabei weinte er.
Erst spät am Abend verließ er die Wohnung und ließ Vicky im Ungewissen.

Als er nach zwei Wochen dann wieder auftauchte, verband er Vicky die Augen und bugsierte alle, auch Chiara und Sophie, ins Auto.
Etwa eine Stunde waren sie unterwegs, als er endlich anhielt.
Er führte sie einen kiesigen Weg entlang und nahm ihr dann endlich die Augenbinde ab.
Dann kniete er sich vor sie und sah sie voller Liebe an.
" Ich weiß, das in deiner Vergangenheit viel passiert ist. Ich weiß auch, das du denkst, ich könnte dir dies nicht vergeben und du müsstest damit leben. Aber ich liebe dich über alles, Vicky, und will mit dir, unserem Kind und auch Chiara zusammenleben. Vicky, möchtest du meine Frau werden???"
Vicky schluckte, begann zu weinen und nickte leicht.
" Ja, ich will deine Frau werden!!! Ich möchte dich heiraten!!!"
"Dann laß uns jetzt sofort heiraten!"
"Wie bitte!!!"
"Na, jetzt gleich, hinten im Wintergarten unseres Hauses, Vicky, mein Engel!!!"

Keine zwei Stunden später war Vicky, in ein traumhaftes Hochzeitskleid gekleidet, die Frau von Patrick Michael Kelly. Baby Sophie wurde an diesem Tag noch getauft.
Strahlend küsste Vicky dann ihren Traummann, den, den sie als Teenager gerne als Mann gehabt hätte, aber nie bekam. Ja, den, der sie überzeugen musste, das Liebe alle Hürden überwinden kann!!!

Ende


© Mara