Der Zauberspiegel

by Doro   doro-violet@gmx.de

 

Winter 1990

Es regnete in Strömen und alles war grau.
Er saß auf dem Trittbrett des Busses und hatte keine Lust, ins Trockene zu gehen. Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und dachte nach, während die Regentropfen langsam durch seine hellen Haare glitten. Ihm war kalt und doch wollte er seinen Platz nicht aufgeben. Er hatte keine Lust.
Vor einer Stunde hatte Kathy den Bus verlassen und ihn angeherrscht, er solle sofort in den Bus gehen, er hole sich ja noch den Tod. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt und Kathy war zum Einkaufen gegangen. Eine Stunde später war sie wiedergekommen und hatte geschrien, er wäre ja immer noch da. Doch sie hatte sehr schnell festgestellt, dass mit ihm nicht zu reden war, und sie war in den Bus gegangen.
Er saß immer noch da und betrachtete das Benzin, das bunte Streifen durch die Pfützen zog. Die Farben waren so schön... doch es war Gift, es war tödliches Gift.
Paddy stand auf und ging in den Bus. Das Telefon stand auf dem kleinen Tisch mit der Spitzendecke. Er hob den Hörer von der Gabel, klemmte ihn hinters Ohr und wählte eine Nummer, die er auswendig wusste. Nach einiger Zeit meldete sich eine Männerstimme, und Paddy sprudelte drauflos.
"Hola, Carlos, kann ich die nächste Woche bei euch verbringen? John will doch sowieso runter nach Spanien fahren, er könnte mich einfach mitnehmen. Darf ich bei euch bleiben? Ich will weg von hier."
Carlos Itoiz lachte.
"Paddy, das finde ich ja lustig. Du solltest jede Menge Freunde haben, mit denen du in deiner Freizeit spielen kannst. Aber du willst zu deinem alten Gitarrenlehrer?"
"Ja, wirklich. Bitte, Carlos, darf ich kommen?"
"Sicher darfst du kommen."
"Danke."
Nachdem Paddy aufgelegt hatte, machte er einen Luftsprung. Noch während er in der Luft hing, blickte er durchs Fenster auf die Straßen. Der Regen hatte aufgehört.
Auch die Pfützen konnte er sehen. Die Farben schillerten so schön. Ob es wirklich Gift
war?

Wie versprochen hatte John ihn eine Woche später zu Carlos Itoiz nach Spanien gebracht, und Paddy war nun schon fast eine Woche da.
Kein Gegensatz zu Deutschland! Die Sonne knallte vom Himmel, es war endlos heiß und es hatte noch an keinem Tag geregnet. Familie Itoiz stöhnte, weil sie die ganze Zeit auf dem Feld arbeiten mussten.
Aber Paddy liebte es. Oft saß er mit seiner Gitarre im Schatten eines alten Baumes und komponierte seine Lieder. So entstand Sunday Morning. So entstanden noch eine Menge andere Lieder, die erst viele Jahre später auf Platte kamen. Paddy liebte es. Er saß immer da, wenn er nicht gerade Maite, die Tochter von Carlos, ärgerte oder mit seinem Freund Pedro um die Häuser zog.
Pedro war ein Jahr älter als Paddy. Er war ein richtiger Spanier mit schwarzen Haaren und Glutaugen. "Patricio" nannte er Paddy immer, und wenn ihm etwas nicht passte, tobte er und spuckte auf den Boden. Trotzdem mochte Paddy ihn sehr, und sie konnten sehr gut zusammen raufen.

Eines Tages wanderten Pedro und Paddy zusammen die Hauptstraße entlang und stießen plötzlich auf ein dunkelblaues Zelt, auf dem goldene Sterne prangten.
Paddy war fasziniert von der schönen Farbe. "Was ist das? Lass' uns doch reingehen!"
"Patricio, nein!" Pedro wollte ihn zurückhalten. "Das ist das Zelt von der alten Ursula. Sie hat einen Spiegel und sagt, er ist ein Zauberspiegel und sie kann damit in die Zukunft sehen."
"Und dann stehen wir noch hier?" Paddy riss sich los und rannte auf das Zelt zu. "Warte doch..." rief Pedro ihm hinterher.
Atemlos bog Paddy die Vorhänge zum Eingang auseinander. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er eine alte Frau mit dunklen Haaren und großen geheimnisvollen Augen auf einem Stuhl sitzen. Vor ihr auf dem Tisch stand ein großer blauer Spiegel. Der Zauberspiegel!
Die Frau lächelte ihn gütig an. "Komm' nur herein, kleiner Paddy. Willst du etwas über deine Zukunft erfahren?"
Sie kannte seinen Namen! "Ich, äh, ja," stotterte Paddy.
Keuchend kam Pedro ins Zelt gerannt und nahm Paddys Hand. "Komm, das ist nichts für dich."
Draußen erklärte er ihm: "Sie sagt, sie kann in die Zukunft sehen. Aber das kann sie nicht. Niemand kann das. Es ist alles Lüge."
Die schönen Farben in der Pfütze waren Gift - und jetzt sollte dieses schöne Zelt eine Lüge sein? Paddy sah Pedro wütend an. "Geh' weg!" schrie er. "Mach' mir doch nicht alles kaputt!" Pedro war so überrascht, dass er gehorchte.

Paddy lag im Gebüsch auf der Lauer. Endlich sah er Carlos und seine Familie das Haus verlassen. Sie machten sich auf den Weg zum Feld. Pedro war bei ihnen und versuchte, Maite am Rock zu ziehen.
Endlich waren sie hinter einer Ecke verschwunden. Paddy sprang so heftig auf, dass Staub aufwirbelte, und rannte zum Zelt.
Ein zweites Mal bog er die Vorhänge auseinander. "Ursula?" Es war wieder ganz dunkel im Zelt, nur der blaue Spiegel leuchtete geheimnisvoll. "Ursula?"
Sie schien nicht da zu sein. Paddy war enttäuscht. Jetzt konnte er ja gleich wieder gehen.
Doch dieser Spiegel... er übte eine magische Faszination auf Paddy aus. Und schließlich setzte er sich vor ihn auf einen Stuhl. Das Blau schimmerte freundlich.
"Okay, Zauberspiegel." Paddy räusperte sich. "Ich hab' keine Ahnung, wie man das macht, aber kannst du mir nicht meine Zukunft zeigen? Und die meiner Geschwister, natürlich," fügte er hinzu.
Minutenlang geschah gar nichts, und es war Paddy schon sehr peinlich. Doch plötzlich begann das Blau zu schimmern, und dann sah Paddy im Spiegel undeutlich Gestalten auf einer riesigen Bühne stehen und singen. Mit kreischenden Gitarren und alle in Samt und Seide. Es musste seine Familie sein.
"Aber Moment mal," murmelte Paddy. "Wo ist unser Bus? Und warum ist das alles überdacht? Und überhaupt... da fehlt doch einer!"
Ja, Jimmy fehlte. Wo war er?
Das Bild im Spiegel veränderte sich und gab die Antwort. Jemand rief "Action!" und dann prügelte Jimmy wie ein Boxer auf einen anderen Typen ein. War das ein Film? Paddy verstand gar nichts. "Kann ich mal Maite sehen?" fragte er schüchtern.
Ein anderes Bild erschien, das Bild einer Frau, die wohl seine Schwester Maite sein sollte. Aber so ganz konnte Paddy es nicht glauben, denn diese Frau war viel dünner, in bunten Kleidern und geschminkt wie ein Model.
Wieder drehte sich das Bild, und ein verschrecktes Gesicht erschien. Es war das Gesicht seiner Schwester Barby, und er sah Tränen auf ihren Wangen. Barby! Nein, das konnte nicht sein. Barby war für ihn doch der Inbegriff von Freude und Glück. "Das ist ja schrecklich!" sagte er laut.
Doch in den nächsten Minuten sah Paddy auch schöne Bilder. Er sah Joey als Marathonläufer als Erster über die Ziellinie laufen, er sah Patricia ein Baby im Arm halten und Angelo am Schlagzeug und alle jubelten ihm zu. Paddy kicherte. Das war ja wie im Kino. Er sah sogar seinen Vater wieder herumlaufen.
Er sah Kathy in einem eleganten Hosenanzug und John an der Hand einer jungen Frau. Aber das war ja Maite Itioiz! Paddy riss die Augen auf.
Das Bild von John und Maite wurde undeutlich. Paddy räusperte sich. "Mich habe ich noch nicht gesehen," sagte er.
Zuerst schien der Spiegel zu zögern, aber dann produzierte er doch ein Bild von einem größeren Paddy, ohne Babyspeck. Er stand auf der Bühne, Menschenmassen vor ihm. Fans jubelten ihm zu. "Paaaaaddiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeee!" Alle kreischten, wollten ihn berühren. Paddy grinste.
Doch dann wurden die Menschenmassen immer größer. Er sah sein Gesicht von Panik verzerrt. Die Fans stürzten sich auf ihn, er wurde unter ihnen begraben, und dann war der Spiegel wieder blau.
Mit wackligen Beinen stand Paddy auf und verließ das Zelt. Erst draußen in der Sonne konnte er wieder richtig durchatmen. Was hatte das zu bedeuten? Aufstieg und Fall? War es überhaupt wahr?
Die Sonne knallte noch immer vom Himmel. Hier gab es keine Pfützen und auch kein Benzin. Paddy lächelte, und ohne sich noch einmal nach dem Zelt umzudrehen, machte er sich auf den Weg zu seiner Gitarre, um noch etwas zu komponieren.


 


© Doro