Die Leiden des jungen Joseph M. Kelly

by Melli   kelly.welt@berlin.de

 

Es war einmal ein junger Mann, dessen Lebensinhalt vor allem seine Musik und sein Sport waren. Joey, wie er von allen nur genannt wurde, war bei seinen Freunden und Mitmenschen gleichermaßen beliebt und angesehen, weil er sich immer viel Zeit für sein Gegenüber nahm.
Joey hatte sein Leben ganz dem Laufen, vor allen Dingen dem Triathlon, verschrieben. Nun war er dabei, sein erstes Buch über das Laufen herauszubringen. Er nahm sich vor, mit seinem rollenden Gefährten - neudeutsch nannte man das wohl Auto, so hatte Joey gehört - durch die Lande zu ziehen, um auf dem Marktplatz jeden Ortes, sein Buch unter die Menschen zu bringen. Schließlich waren die Weiber nicht dazu geboren, nur in ihren Stübchen zu kochen, die Knechte sollten nicht im Stall versauern und die Geschäftsleute sollten nicht nur im Geiste arbeiten. Und wenn Joey einen kleinen Teil dazu beitragen konnte, dieses eingefahren System vom "Nicht-Bewegen" zu durchbrechen, dann wollte er es mit diesem Buch tun.
So kam es, dass Joey eines Morgens aus dem Badesalon kam und sich für die große Stadt fein machte...
"Weib, wo ist mein Anzug?", rief er, während er seine Sonntagsschuhe putzte. Doch sein Weib reagierte nicht.
"Weib, wo ist mein Anzug?", forderte Joey wieder eine Antwort.
Beschämt betrat sein Weib die schlichte Küche. "Es tut mir leid, aber dein Anzug ist in der Waschtruhe, lieber Mann!"
Daraufhin wurde Joey traurig. Sein einziger Lieblingsanzug war nicht da... Aber er wollte doch schön aussehen! Was sollte er nur tun? "Aber Tanja, liebes Weib, du weißt doch, ich brauche meinen Anzug!", jammerte er voller Verzweiflung.
"Lieber Mann, du brauchst keinen Anzug. Die Stadtbewohner werden dich auch so lieben, wie du bist!", versuchte ihn das Weib zu beruhigen. Also beschloss unser Joey, eine saubere Hose und ein neues Hemd anzuziehen. Für weitere Überlegungen blieb ja keine Zeit mehr, wenn er vor Anbruch der Dunkelheit wieder daheim bei seiner Familie sein wollte.
Joey nahm vorsorglich ein paar Stifte aus der Schachtel hinter dem Kamin und brachte sie zu seinem rollenden Gefährten. Er hatte es bisher noch nicht geschafft, in all seine Bücher, die er heute verkaufen wollte, seinen Namen zu schreiben... Nur so würden sie erst richtig wertvoll werden und die Leute würden wissen, dass das Buch auch wirklich von ihm - Joey Kelly - ist.
Da seine Zeit knapp bemessen war, nahm er sich vor, während des Verkaufes seine Bücher für alle Freunde zu signieren.

Nachdem unser Joey nun schon einige Zeit unterwegs war, musste er feststellen, dass er zwischen den vielen unbekannten Stadtbäumen den richtigen Weg zum Marktplatz aus den Augen verloren hatte. Also beschloss Joey, am Hügel hinter der 25.sten Eiche zu halten und nach einer Karte von der großen Stadt zu suchen. Schnell wurde er fündig und breitete die Karte auf der Motorhaube aus. Im Lindenbaumweg befand er sich... Wenn das stimmte, musste der nächste Feldweg die Blumengasse sein, so entnahm er der Karte. Joey kniff die Augen zusammen, um das Straßenschild an der nächsten Ecke entziffern zu können. Jagdallee stand drauf! Hier konnte irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Aber da unser Joey noch etwas Zeit hatte und nicht gewillt war, sofort weiterzuziehen, ging er noch eine Runde durch den Wald joggen. Dazu kam er in letzter Zeit sowieso so selten.
Plötzlich, kurz bevor er wieder bei seinem rollenden Gefährten ankam, traf er auf einen vollkommen in grün gekleideten Burschen. Das musste wohl der Jäger aus der Jagdallee sein...
"Hallo, Sie!?" Joey drehte sich um. Meinte der Edelmann etwa ihn? "Ja, genau Sie!" Der Bursche kam tatsächlich auf ihn zu. Unser Joey schüttelte verständnislos den Kopf. Was konnte der "Grüne" nur von ihm wollen? Er hatte doch überhaupt keine Ahnung von der Jagd! Er war Läufer. Da war er vielleicht höchstenfalls der Gejagte!?
"Entschuldigen Sie, Herr... Wie war noch gleich Ihr Name?" "Joey Kelly, ehrenwerter Mann. Aber ich glaube, ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie", erwiderte Joey voller Überzeugung. "Nein, nein. Sie sind genau der, den ich gesucht habe!", versicherte ihm der "Grüne". "Ihr Auto... da vorne. Es steht im Halteverbot", brüllte der Bursche. "Ich habe Sie vorhin dort halten gesehen. Und wenn Sie den Wagen nicht augenblicklich wegfahren, dann muss ich Sie leider mit aufs Polizeirevier nehmen!"
Alles nur das nicht, schoss es Joey durch den Kopf. Dafür hatte er nun wirklich keine Zeit. Er musste schließlich den Marktplatz finden. Und das so schnell wie möglich. Joey rannte um seine Leben zu seinem rollenden Gefährten. Doch als er hinter dem Steuer saß, fiel ihm schlagartig wieder ein, dass er ja immer noch nicht wusste, wo er sich gerade befand. Er kurbelte die Scheibe herunter und wartete bis der "Grüne" auf seiner Höhe war. Im Notfall konnte er ja immer noch einen Blitzstart hinlegen.
"Herr Kelly, Sie sollten doch..." "Ja, ja, schon gut. Ich bin sofort weg. Aber sagen Sie, wo bin ich hier eigentlich? Ich muss nämlich zum Marktplatz."
Der vermeintliche Jäger sah ihn erstaunt an, bevor er in einem hysterischen Lachanfall ausbrach. "Zum Marktplatz?", brüllte er vor Lachen. "Zum Marktplatz??? Hier gibt es keinen Marktplatz! Hier gibt es nur Wald und Wiese, Herr Kelly!"

Nach einer Weile fuhr Joey auf eine große, eine sehr große Straße. So etwas nannte man wohl Autobahn. Und nachdem schon einige Stunden ins Land gezogen waren, kam er an einem Ort an, der sich Potsdam nannte. Hier musste doch irgendwo der Marktplatz sein!? Und tatsächlich... Nachdem Joey an der 3.ten Kreuzung links, an der 4.ten Fichte rechts eingebogen und später einmal um die große, alte Eiche vor dem Dorfhaus gefahren war, blieb er am Marktplatz stehen.
Irgendwie wunderte es ihn schon, dass er an diesem Mittwoch, dem Markttag schlechthin, auf keine einzige Seele traf. Aber er beschloss, einfach eine Weile auszuharren.
Doch als auch nach weiteren drei Stunden niemand, noch nicht mal ein alter, knauseriger Händler, seinen Weg kreuzte, kam unser Joey auf die Idee, seinen Tourplan etwas genauer zu studieren. Eventuell hatte er ja irgendeine Kleinigkeit übersehen!? Der Kalender schreibt den 31.sten Tag des 10.ten Monats, überlegte Joey. Sein Plan sagte, dass er heute in einem etwas größeren Dorf sein sollte, was sich wohl Berlin schimpfte. "Berlin!", entfuhr es ihm. Auch das noch! Warum konnte er sich auch nie merken, in welchen Dorf er gerade war, geschweige denn in welches er wollte? Sonst konnte er ja immer irgendeine freundliche Seele fragen, wenn er es mal wieder vergessen hatte. Aber heute und hier, wo er ganz allein unterwegs war...
Er begann zu grübeln... Was hatte der "Grüne" gesagt? Richtig, der erklärte, es würde keinen Marktplatz geben. Und irgendetwas von Wald und Wiesen war auch noch dabei. Dann war er weitergefahren, dachte Joey angestrengt nach. Nachdem einige Stunden verstrichen waren, kam er im Dorf Potsdam an. "Potsdam, da war er!", freute sich Joey, dass es ihm doch wieder eingefallen war.
Glücklicherweise hatte sein Weib ihm noch eine Landkarte mitgegeben. Ein ganz edles Stück, welches sie von ihren Vater als Mitgift in die Ehe gebracht hatte. Joey hatte nie begriffen, was an diesem Stück so wertvoll sein sollte. Es sah eher so aus, als wäre schon Napoleon mit dem Papier durch die Lande gezogen. Hätte er denn im deutschen Lande residiert. Wahrscheinlich waren auch Tausenden von Pferden während eines Feldzuges drüber getrampelt. Jedenfalls war unser Joey nun doch froh, dass sein Weib ihm die Karte aufgeschwatzt hatte.
Zufrieden stellte er fest, dass sein Weg nach Berlin nicht weit sein musste. Und so kam Joey einige Zeit später am Marktplatz an. Es herrschte ein buntes Treiben. Alte, Junge, Dicke, Dünne... Waren die etwa alle hier, um sein Buch zu erwerben? Wo sollte er sein Buch verkaufen? Auf dem Marktplatz war ja gar kein Platz mehr. So viel schien sicher. Sollte er den ganzen Weg umsonst gemacht haben? Und nun war er auch noch viel zu spät dran. Es würde sicher eine weitere Stunde ins Land ziehen, bis er endlich einen freien Platz für seine Bücher gefunden hätte.
Völlig resigniert schleppte unser armer Joey seine Bücher an den Rand des Marktplatzes und ließ sich auf ihnen nieder. So würde das nie was werden...

Als er da so vor sich hin trauerte, kam ein ihm bekanntes Gesicht auf ihn zu. "Der Grüne", entfuhr es Joey und Angst machte sich in ihm breit. Er wollte schon seine Beine in die Hände nehmen und rennen.
"Halt, halt! Hier geblieben, Jungchen!" So ein Pech. Da war der "Grüne" schneller gewesen und hatte ihn auch schon an den Schultern gepackt. Aber was sollte es? Joey war mittlerweile sowieso schon bereit, kampflos aufzugeben. Aber was machte der "Grüne" denn nun? Er stapelte seine Bücher und trug sie weg! Joey war außer sich. Jetzt wurden ihm auch noch seine schönen Bücher... "Was ist denn nun, Jungchen? Willst du hier Wurzeln schlagen oder kommst du mit? Oder meinst du, deine Bücher verkaufen sich besser, wenn du hier auf dem Boden sitzt und schmollst?"
Joey verstand gar nichts mehr. Was um Himmels Willen wollte der "Grüne" von ihm?
"Ach übrigens, tut mir leid wegen vorhin... Wenn ich gewusst hätte, dass du der Joey Kelly bist... Sooo sehr stand dein Wagen auch wieder nicht im Weg... Ich bin übrigens der Edelbert und ich laufe auch! Vielleicht können wir ja mal zusammen... natürlich nur, wenn du Zeit hast."
Unserem Joey blieb der Mund weit offen stehen. Der Halunke war unglaublich. Erst wollte der "Grüne" ihn in den Kerker werfen, dann klaute er ihm die Bücher und jetzt auch noch das! Was sollte da bloß als Nächstes folgen? Eigentlich wollte Joey das lieber nicht wissen...
"Ey, Joey, da drüben in das Karstadt-Geschäft gehen wir rein! Da wirst du deine Bücher sicher los! Und deine Freunde hier", von denen der ganze Marktplatz verstopft wurde, "die können auch alle reinkommen!"
Das hatte der "Grüne" ja gut geregelt. Vielleicht hatte Joeys Leiden nun ein Ende und die Missgeschicke über den ganzen Tag verteilt waren doch nicht umsonst gewesen!?
Bei Karstadt angekommen, machte sich unser Joey sofort an die Arbeit und schrieb fleißig Autogramme...

"Joey!?" Mann, war hier eine Lautstärke. Joey hatte das Gefühl, alle Geräusche vermischten sich langsam zu einem einzigen, ohrenbetäubenden Dröhnen. "Jooooey!?" Das Dröhnen wurde immer schlimmer. Warum ließen sie ihn nicht einfach alle in Ruhe?
"JOOOOOEY!!! Jetzt aber raus aus dem Bett. Du bist spät dran! Und du musst dich beeilen, wenn du heute noch nach Berlin willst!" Joey rieb sich verschlafen die Augen und erkannte nach einiger Zeit seine Frau Tanja, die wie wild vor seinem Gesicht hin und her fuchtelte.
"Tanja! Du hier?" "Wo soll ich denn sonst sein, wenn nicht hier?" Verständnislosigkeit blitzte aus ihren Augen hervor.

"Tanja?? Wo ist mein Anzug?", wollte Joey wissen, nachdem er aus dem Bad gekommen war und seine guten, schwarzen Lederschuhe geputzt hatte.
"Tut mir leid, der ist in der Wäsche, Joey!"
Joey wurde nachdenklich. Der Tag fing ja schon mal gut an.
Kurz darauf sprang Joey in seinen Wagen, startete und sah, wie Tanja aus dem Haus geschossen kam. Joey war genervt. Was gab es denn jetzt noch so wichtiges?
"Joey, hier, nimm' lieber eine Deutschlandkarte mit. Man weiß ja nie, ob man sich nicht doch mal verfährt..."
Widerwillig nahm unser Joey die Karte entgegen. Bitte, wenn es Tanja glücklich machte... Er und verfahren?? Niemals!

Und wenn sie nicht gestorben sind, oder Joey die Autobahnabfahrt nach Berlin verpasst hat, dann leben sie noch heute und Joey sitzt mit seinen Büchern in Berlin und schreibt Autogramme...


© Melli