Eine einzige Lüge

by Jihong   jihong.lin@web.de

 

Paddy legte den Stift zur Seite und nahm den Stapel Notenpapier in die Hand. Er schaute sie sich noch einmal an, bevor er alles in eine Schublade steckte. Er war zufrieden mit sich selbst. Endlich hatte er alle seine Aufgaben erledigt und endlich konnte er ins Bett.
Gerade als er herzlich gähnte, klingelte sein Handy. "Mist", dachte er und meldete sich mit "Patrick Kelly". "Paddy? Ich bin´s, Angelo.", ertönte es vom anderen Ende, "Du, könntest du Michelle und mich an unserer Stammdisco abholen? Bitte!" "Mensch, Angelo, denkst du, ich habe Lust um halb drei morgens noch durch ganz Köln zu fahren? Ich bin sau müde und will endlich in mein Bett!" "Paddy, bitte!" "Angelo, ich bin nicht dein Chauffeur! Und wer ist überhaupt Michelle?" "Das meine neue Freundin. Hol uns doch jetzt bitte mal ab! In einem halben Jahr werde ich 18. Dann brauchst du mich auch nicht mehr so herum zu kutschieren!" "Bin ich dein Diener, oder was?" "Nein, du bist mein lieber, großer Bruder, der mich jetzt gleich mit einem Lächeln abholen wird." "Abholen muss ich dich ja wohl, aber bestimmt nicht mit einem Lächeln!" "Danke, Paddy!" "Ja, tschüss!", genervt legte Patrick auf.
"Man hat keine einzige Minute Ruhe", dachte er und seufzte tief. Er schaute auf sein Bett. Wie gerne würde er jetzt dort liegen und einfach nur schlummern! Aber sein Bruder wartet ja darauf, abgeholt zu werden! Wozu waren Brüder eigentlich gut? Sind sie nur da, um einem auf den Geist zu gehen? Er nahm seine Jacke und verließ sein Zimmer.

Im Auto schaltete er das Radio an und summte während der Fahrt leise mit. Nach 20 Minuten stand er vor der Disco, aber Angelo war nirgends zu sehen. Er wartete ein paar Minuten, aber sein Bruder ließ sich immer noch nicht blicken. "Scheiße!", fluchte Paddy und zog sein Handy aus der Tasche.
Gerade, als er Angelo´s Nummer wählen wollte, kam dieser aus der Disco heraus. Neben ihm ging ein hübsches Mädchen. Das musste also Michelle sein. Paddy schätzte sie ungefähr auf 16. Sie war bisschen kleiner als Angelo. Mit ihren langen, dunkel blonden Haaren und dem hübschen Gesicht gefiel sie Paddy auf Anhieb. Außerdem hätte sie eine super Figur und sah sehr sympathisch aus. Da er von ihr so fasziniert war, meckerte er auch nicht, dass Angelo ihn warten lassen hatte. "Sorry, Paddy, dass du warten musstest. Aber drinnen war so eine gute Stimmung!", Angelo lächelte entschuldigend, "Das ist Michelle, meine Freundin. Du hast die Ehre, der erste Familienmitglied zu sein, der sie kennenlernt!" "Es freut mich", Patrick zeigte ihr sein schönstes Lächeln und gab ihr die Hand. Sie erwiderte sein Lächeln. Paddy öffnete die Autotür und machte eine einladende Bewegung. Sie stieg ein und Angelo folgte ihr. Paddy setzte sich vorne hin und fuhr los.
"So, Angelo, wohin soll Michelle jetzt gefahren werden?", Paddy drehte sich kurz nach hinten. "Meinst du, es ist okay, wenn sie heute Nacht bei uns bleibt?" "Ich hab nichts dagegen!", meinte Paddy und grinste schief, "Aber sie muss dann bei mir im Bett schlafen! Du bist doch noch viel zu jung, um ein Mädchen im Bett zu haben!" "Nein, wenn dann wird sie entweder bei mir schlafen oder ein Gästezimmer gekommen!", Paddy merkte, dass sein Bruder sauer war. "Ist schon gut!", meinte er und fuhr schweigend weiter.

Michelle entschied sich ein Gästezimmer zu nehmen. Nachdem sie im Bad verschwunden war, zog Angelo seinen großen Bruder zu sich ins Zimmer. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, stürzte er sich auf Paddy und packte ihn am Kragen: "Was fällt dir eigentlich ein, dich so an meine Freundin ran zu machen? Sie gehört mir, verstanden? Such dir gefälligst deine eigene Freundin! Aber lass Michelle in Ruhe!" Paddy befreite sich aus dem Griff und schrie zurück: "Jetzt mach mal halb lang! Was hab ich denn gemacht? Sei doch froh, dass ich dich überhaupt abgeholt habe! Und außerdem darf ich ja wohl noch machen was ich will! Du hast mir überhaupt nichts zu sagen!" Patrick verließ das Zimmer und knallte die Tür laut zu.
Er zog sich um und legte sich in sein Bett. Inzwischen war es schon viertel vor vier, aber er war überhaupt nicht mehr müde. Also schnappte er sich seine Gitarre und spielte ein paar Melodien. Nach kurzer Zeit ging die Tür auf und Michelle stand an der Türschwelle. "Hey, wenn du Angelo suchst, der ist im Zimmer nebenan.", Paddy schaute sie an. Sie hatte ein langes T-Shirt an und sah wirklich unglaublich attraktiv aus. "Nein", meinte sie, "Ich werde doch wohl nicht so dumm sein und in das falsche Zimmer gehen. Ich wollte ja zu dir. Ich kann nicht einschlafen. Da habe ich gedacht, ich könnte mal bei dir vorbeischauen." "Komm doch rein!", Patrick setze sich hin und Michelle setze sich neben ihn. Sie redeten ein bisschen miteinander, aber dann schwiegen beide. Nach einer Weile drehte sich Paddy zu ihr und sie schaute ihn ebenfalls an. "Du bist so hübsch!", flüsterte er, während er seine Hand ausstreckte und ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Sie lächelte ihn an und nahm dann seine Hand in ihre. Er rückte etwas dichter an sie heran und legte einen Arm um sie. Sie lehnte sich an ihn und streichelte ihm durchs Haar. Sie blieben noch eine Weile so sitzen, bevor sie sich verabschiedete: "Ich gehe lieber, bevor Angelo kommt!" "Ja, mach das", sagte er und zog sie noch einmal an sich, um sie zu küssen. Es wurde ein langer Kuss. Patrick spürte es überall kribbeln. Er hatte lange nicht mehr so leidenschaftlich geküsst. Er konnte sie nicht mehr loslassen und er spürte, dass sie genau das Gleiche für ihn empfand, wie er für sie. Aber dann ließen sie sich doch los, da Michelle wieder in ihrem Zimmer verschwinden musste. Schließlich wäre Angelo nicht so sehr begeistert, wenn er seine Freundin küssend mit seinem großen Bruder finden würde.
Paddy lag noch lange wach. Er starrte ins Dunkeln. Natürlich wusste er, dass die Sache mit Michelle nicht gut gehen konnte. Aber was sollte er machen, wenn er sich in dieses Mädchen verknallt hatte? Da konnte sie auch die Freundin von seinem Bruder sein. Da war alles egal. Alles, was zählte, war seine Liebe. Aber trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Angelo war ja etwas besonderes. Angelo war nicht nur sein Bruder. Angelo war sein Freund, der einzige, dem er wirklich vertrauen konnte. Paddy wusste nicht, was er tun sollte. Da waren zwei Personen, die er liebte und er konnte keine von den beiden loslassen.

Als Patrick am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne schon hoch am Himmel. Total verschlafen ging er aus seinem Zimmer, hinunter in die Küche. "Guten Morgen, Paddy!", Michelle saß am Küchentisch und lächelte ihn süß an. "Morgen!", murmelte er und setzte sich hin, "Wo ist Angelo?" "Er musste zu einem Termin. Willst du einen Kaffee, mein Süßer?" "Ja, bitte! Hat Angelo dich ganz alleine gelassen?" "Sieht wohl so aus, oder?", Michelle schob Paddy eine Tasse Kaffee hin, die er dankend annahm, "Er hat zu mir gesagt, dass du mich nach Hause fahren sollst! Aber das musst du nicht machen." Paddy trank einen Schluck Kaffe und meinte: "Wir könnten vielleicht ein bisschen in die Stadt. Ich werde dich niemals alleine lassen, mein Schätzchen." Er sah ihr tief in die Augen. Ja, sie war wirklich wunderhübsch. So glasklare, blaue Augen hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Tagsüber war sie noch viel süßer als in der Nacht.
Später verließen die beide das Schloss und fuhren mit Paddy´s Wagen in die Stadt. Es wurde wirklich ein schöner Tag mit vielen Küsschen und Händchenhalten. Patrick wurde zum Glück kein einziges Mal erkannt. Dann fuhr er sie wieder nach Hause. Vor ihrer Haustür fragte sie ihn: "Willst du nicht noch mal mit reinkommen?" "Okay", Paddy lächelte und schloss seinen Wagen ab. Sie setzten sich auf ihr Bett. Erst redeten sie eine Weile, dann zog sie ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: "Ich liebe dich so, Paddy. Ich will nur noch dich!". Sie küssten sich wieder. Patrick spürte, dass dieser Kuss noch intensiver war, als der am Tag zuvor. Noch nie hatte er ein Mädchen so geliebt. Er konnte ihre Küsse richtig genießen. Sie konnten sich auch diesmal nicht mehr loslassen. Da keiner da war, der sie stören konnte, schliefen sie schließlich miteinander.

Am Abend, als Paddy im Schloss ankam, saß die ganze Familie gerade am Esstisch. Paddy gesellte sich zu ihnen. "Wo warst du denn den ganzen Tag?", fragte Patricia neugierig. "Ich war zuerst in der Stadt. Dort habe ich einen Freund von mir getroffen. Wir waren dann noch ein bisschen bei ihm." "Hast du Michelle nach Hause gefahren?", fragte Angelo "Na klar! Ist doch Ehrensache!", Paddy lächelte seinen kleinen Bruder an. "Dann ist ja gut", Angelo lächelte zurück. "Wenn er wüsste, was wir heute gemacht haben", dachte Paddy und fühlte sich etwas auf einmal nichts mehr so gut. "Ich gehe jetzt nach oben.", Patrick stand auf und verließ die anderen.

In der nächsten Zeit sahen Paddy und Michelle sich sehr oft. Sie verstanden sich wirklich sehr gut, obwohl Paddy 5 Jahre älter als Michelle war. Sie hatten gemeinsam ihren Spaß und Angelo bekam von der ganzen Sachen nichts mit.
Eines Tages kam er zu Paddy ins Zimmer. Er sah nicht gerade sehr glücklich aus. "Was ist, mein Kleiner", fragte Paddy vorsichtig. "Ach, Paddy, ich weiß nicht, was Michelle hat. Aber irgendwie freut sie sich nicht mehr, wenn sie mich sieht. Sie hat auch kaum Zeit für mich und immer wenn ich sie küssen will, blockt sie gleich ab. Meinst du, sie liebst mich nicht mehr?" Angelo schaute seinen Bruder hilfesuchend an und eine Tränen kullerten aus seinen Augen. Patrick spürte einen Stich im Herzen Er war schuld, dass es seinem Bruder nicht gut ging und jetzt weinte. Was hatte er da gemacht? "Ich weiß es nicht.", brachte er leise heraus, "Ich weiß es wirklich nicht!" Angelo schluchzte auf und rannte aus dem Zimmer. Patrick blieb sitzen und wusste nicht mehr, was er sagen sollte.

Es verging wieder eine Zeit. Paddy führte immer noch ein Verhältnis mit Michelle. Angelo war völlig verzweifelt, weil er nicht wusste, warum Michelle ihn nicht mehr so liebte. Er hatte zwar mit ihr darüber gesprochen, aber sie hatte ihm versichert, dass sie nichts mit jemand anderem hatte.
Paddy traf sich eigentlich viel öfter mit Michelle als Angelo. Dann beschloss Patrick, dass er Angelo gestehen musste, was er mit Michelle hatte. Er konnte seinen kleinen Bruder nicht mehr anlügen. Dafür hatte er ein zu schlechtes Gewissen. Also kam er eines Abends zu Angelo. Er stand vor seiner Tür und klopfte an. "Herein!", ertönte es von innen. Paddy trat vorsichtig hinein. "Kann ich mal mit dir sprechen, Angelo?" "Immer doch! Komm rein!" Paddy kam rein und schloss die Tür hinter sich. Er setzte sich auf Angelo´s Bett. "Was gibt´s?", fragte sein kleiner Bruder. "Ich muss dir was gestehen", sagte Paddy schüchtern und fast lautlos fügte er hinzu: "Ich habe ein Verhältnis mit Michelle!" "Was?", schrie Angelo und starrte seinen Bruder an, "Du hast eine Beziehung mit meiner Freundin?" "Ja...", Paddy sah seinen Bruder ängstlich an. Er wusste, dass der Kleine richtig ausflippen konnte, wenn er wütend war. "Wie lange verheimlichst du mir das schon?", Angelo´s Stimme klang giftig. "Seit dem Tag, an dem ich euch an der Disco abgeholt habe.", Paddy versuchte Angelo´s Blick auszuweichen. "Du Schwein!!!".
Angelo sprang auf und stürzte sich auf Paddy. Er drückte seinen großen Bruder auf sein Bett und schnürte ihm fast die Luft zu. "Hast du sie geküsst?", schrie er und packte Patrick fester an. "Ja... schon am ersten Abend.", während er das sagte, schossen ihm die Tränen aus den Augen. Er fühlte sich so verzweifelt. Er hatte seinen Bruder die ganze Zeit so verletzt. "Hast du mit ihr geschlafen?", bohrte Angelo weiter. "Ja, habe ich auch", schluchzte Paddy. "Wie oft?", Angelo´s Stimme zitterte richtig und ihm stiegen ebenfalls Tränen aus den Augen. "Sieben Mal...?" "Du Mistkerl! Du Schleimbeutel! Du Arschloch!", Angelo schrie so laut er konnte und schlug ununterbrochen auf Paddy ein. Dabei heulte er aus Schmerz, weil er nicht ertragen konnte, dass ihn sein geliebter Bruder und seine Freundin so hintergangen haben. Patrick schrie ebenfalls aus Schmerz, da er Angelo´s Schläge nicht mehr aushielt. Aber er wusste, dass er das verdiente, nachdem, was er seinem Bruder angetan hatte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Barby und Maite, die die Schreie ihrer Brüder gehört hatten, standen an der Tür. Was die beiden sahen, erschreckte sie unheimlich. Paddy lag mit dem Rücken auf dem Bett. Angelo saß auf ihm und schlug ihm ins Gesicht und auf seinen Körper. Die zwei Schwestern rannten sofort zu ihren Brüder. Maite packte Angelo und zog ihn weg und Barby stürzte zu Patrick. Er lag heulend da und war zu schwach um sich zu bewegen. Aus seinem Mund floss Blut, das sich in seinem ganzen Gesicht, Kleidung und Bettdecke verschmiert hatte. Barby nahm ihm schützend in den Arm. Maite hatte Mühe Angelo ruhig zu bekommen. Er schrie weiter und wollte sich wieder auf Paddy stürzen. Aber sie schaffte es doch den Kleinsten aus seinem Zimmer zu bekommen. Barby versorgte Patrick liebevoll und brachte ihn in sein Zimmer.

Patrick lag die ganze Zeit wach. Ihm tat alles weh und er fühlte sich so schlecht, wie lange nicht mehr. Einerseits tat es ihm gut, dass er Angelo endlich die Wahrheit gesagt hatte. Aber andererseits wünschte er sich, dass er doch lieber nicht die Wahrheit gesagt hätte. Dann müsste er jetzt wenigstens nicht die körperlichen Schmerzen ertragen.

Es vergingen 3 Tage. Paddy und Angelo sprachen kein einziges Wort miteinander. Die anderen wunderten sich. Aber keiner der Brüder verriet, warum sie sich gestritten haben. Die Familie wussten nur, dass Angelo Paddy geschlagen hatte, aber mehr nicht. Auch Michelle meldete sich nicht mehr, als hätte sie geahnt, dass es Probleme wegen ihr gab.
Dann kam Angelo eines Anbends in das Esszimmer, wo seine Familie am Tisch saß. Er schloss die Tür hinter sich zu und setzte sich auf seinen Platz gegenüber von Paddy. Es war das erste Mal, dass sie wieder zusammen in einem Zimmer waren. Die beiden schauten sich tief in die Augen. Dann meinte Angelo: "Paddy, es tut mir alles so Leid! Kannst du mir verzeihen?" "Angelo! Du musst mir verzeihen! Mir tut alles so schrecklich Leid!" Die zwei Brüder standen wie auf Kommando auf und umarmten sich. Beide finden an zu schluchzen und hielten sich gegenseitig fest. "Ich schwöre, dass ich dir nie wieder deine Freundin ausspannen werde!", flüsterte Paddy so leise, dass es außer Angelo niemand mitbekam. Ebenso leise flüsterte Angelo: "Ich werde dich nie wieder schlagen."

Als die zwei am nächsten Tag durch die Stadt gingen, sahen sie wie Michelle einen fremden, jungen Mann heftig küsste. Paddy und Angelo schauten sich gegenseitig verwundert an und Angelo meinte: "Wer weiß, wen sie noch alles außer uns zwei zur gleichen Zeit hatte!" Paddy stimmte ihm zu und sie gingen weiter, ohne auch je wieder einen Gedanken an Michelle zu verschwenden.


© Jihong