Fang den Kelly

by Melli   kelly.welt@berlin.de

 

Joey Kelly hatte schon viel erlebt. Im Jahre 1996 entdeckte er seine große Leidenschaft für den Ausdauersport. Angefangen mit Halbmarathons steigerte er sich immer weiter, bis er es schließlich zum Ironman geschafft hatte. Sein Sport war für ihn der optimale Ausgleich zu seiner Arbeit, dem Management und dem Tourstress. Während dieser Zeit war er häufiger Gast in den verschiedensten TV-Shows und immer wieder erzählte er mit Begeisterung, wie sehr er den Ausdauersport liebte und was er ihm brachte. Und er versuchte, wenn auch eher indirekt, allen Leuten diesen Sport näherzubringen und ihnen Mut zu machen, es selbst einmal zu versuchen. Mit mehr oder weniger Erfolg.

Er lief öfter mal zum Training Marathons in ganz Deutschland mit und immer wieder war er aufs Neue von der Stimmung und den begeisterten Zuschauern an der Strecke fasziniert. Was ihm allerdings zu denken gab, waren die Kelly-Fans, die ihn anfeuerten und ihn im Ziel abfingen. Zu Anfang dachte er, sie würden natürlich dort sein als Kelly-Fans, weil er ja schließlich einer von ihnen war. Nachdem er aber in einigen Städten öfter gelaufen war und es den Anschein machte, als wären es immer wieder die selben Fans, die ihn "besuchen" kamen, überlegte er, ob der Marathon an sich eventuell auch eine Rolle spielen könnte, dass sie kamen.

***

Eines Tages war er unterwegs, um locker zu laufen und ein bisschen für den nächsten Marathon zu trainieren. Da kam ihm plötzlich eine Idee. Allein schon bei der Vorstellung musste er grinsen. Er sah bereits alles vor sich und er fand seinen Einfall genial. Zuhause angekommen, machte er sich sofort an die Arbeit. Er wusste, sein Plan würde viel Zeit in Anspruch nehmen, aber seine Begeisterung war so groß, dass ihm für die Umsetzung keine Mühe zu groß war.
Und so kam es, dass einige große Zeitungen eines Tages von einem spektakulären Kelly-Fan-Marathon berichteten. Dieser erste Lauf sollte in K. stattfinden und Veranstalter war Joey Kelly persönlich.
Voraussetzung für die Teilnahme war der Nachweis des Fan-Seins, indem jeder Teilnehmer vor einer ausgewählten Prüfungskommission Fragen rund um die Kelly Family beantworten musste.
Der Preis des Marathons war verlockend. Es winkte jedem, der die 20 Kilometer des Halbmarathons bewältigte und unter den ersten 2 000 ins Ziel kam, eine Freikarte für ein Kelly-Konzert, welches nur diese "Marathonläufer" besuchen durften.
Der Ansturm war immens. Es gab über 6 000 Starter. Joey hatte es geschafft, seine Fans zum Laufen zu bewegen, auch wenn er sich darüber im klaren war, dass es in gewisser Weise Bestechung war.
Das Konzert fand direkt am Abend nach dem Lauf statt. Es war ein besonderes Konzert, denn es gab kein Geschrei. Die Finisher waren offensichtlich müde und erschöpft und blieben freiwillig auf dem Boden sitzen, als das Konzert begann. Joey grinste in sich hinein und freute sich, dass alles so gut verlaufen war.

***

Der Marathon war gut angekommen, was Joey den Anstoß dazu gab, die ganze Sache noch etwas weiter auszubauen. Er wusste zwar noch nicht wie, aber er war überzeugt, ihm würde schon noch etwas einfallen...
Joey grübelte lange, doch ihm fiel nichts ein, was ihm spontan gefallen hätte und was er hätte unbedingt in die Tat umsetzen wollen.
Es verging mindestens ein Jahr, indem er keinen einzigen Gedanken an einem Fan-Marathon verschwendet hatte, doch plötzlich wurde er wieder daran erinnert.

Es war nach einem Konzert. Er und seine Geschwister hatten soeben die Halle verlassen, waren in den Bus gestiegen und losgefahren. Sie waren allerdings nicht weit gekommen, da die erste Ampel ganz in der Nähe der Halle auf rot schaltete. Joey saß in der Sitzecke ganz hinten und schaute aus dem Fenster. Eine Horde von Fans kam dem Nightliner hinterhergerannt. Joey schätzte, es mussten mindestens 100 sein. Sein erster Gedanke war, die scheinen nicht ausgelastet zu sein, die müssen laufen, richtig laufen! Und von da an hatte er eine feste Vorstellung davon, wie der nächste Fan-Marathon ablaufen sollte. Er wusste, es würde für die Fans gemein werden und er lachte bereits jetzt in sich hinein. Aber er wollte auch mal seinen Spaß haben und er wollte auch austesten, wie weit er gehen konnte. So machte er sich eifrig an die Arbeit.
Wieder bedurfte der Marathon einer großen Organisation, zumal es diesmal in ganz anderen Dimensionen ablaufen sollte. Es ging nicht mehr um 20 Kilometer, nein, diesmal wollte Joey es wissen. Er plante einen richtigen Marathon, das bedeutete 42 Kilometer.

Nachdem er das soweit geplant und organisiert hatte, fand er, wäre es an der Zeit, seinen Geschwistern davon zu erzählen. Alle waren von Joeys Idee begeistert, außer Patricia. Sie machte sich Sorgen, dass sich einige Fans beim Laufen übernehmen würden. Daraufhin meinte Joey aber nur, dass man so schnell nicht sterben würde und grinste sie frech an. Damit war das Thema für Patricia erledigt.
Nun kam es zu der wichtigsten Überlegung. Kelly-Fans würden für sie so einige Strapazen auf sich nehmen, das wussten die Kellys natürlich. Aber würden sie auch 42 Kilometer durchhalten? Womit konnte man sie locken?
Wieder beschlossen sie, ein Konzert für die Teilnehmer zu geben. Das hörte sich für die Fans sehr verlockend an, da die Kellys bereits ein halbes Jahr pausiert hatten und neue Tourdaten auch noch nicht in Sicht waren. Was aber noch viel verlockender war, war die Ankündigung, dass dies kein gewöhnlicher Marathon werden sollte, sondern dass die Läufer einige Überraschungen auf der Strecke zu erwarten hätten. Eben ein Marathon à la Kelly. Was genau, wurde natürlich nicht verraten.

***

Am Tag des Laufes, der auch wieder in K. stattfand, fanden sich viele viele Fans am Start ein. Joeys Idee schien ein voller Erfolg zu werden. Die Teilnehmerzahl versprach es. Es hatten sich rund 15 000 Fans aus ganz Deutschland gemeldet. Der Startschuss fiel um Punkt 9.00 Uhr. Die Fans waren schon ein bisschen enttäuscht, denn insgeheim hoffte natürlich ein jeder, bei einem sogenannten Kelly-Fan-Lauf auch einen Kelly zu sehen. Doch diesen Gefallen taten die Kellys ihnen nicht. An jeder Ecke standen Kamerateams, Fotografen und andere wichtige Medien-Leute, die das Spektakel nicht verpassen wollten. Einen Lauf dieser Art hatte es schließlich in der Marathongeschichte noch nie gegeben.

Nach den ersten zehn Kilometern wartete die erste Überraschung. Die Läufer wurden von mehreren LKWs begleitet, aus denen die Kelly-Songs nur so dröhnten. Die Atmosphäre hatte ein bisschen was von der Loveparade. In gewisser Weise war es ja auch eine Loveparade. Liebe zu den Kellys!?! Die anfängliche Enttäuschung verschwand langsam und man freute sich darauf, welche Überraschungen einen noch erwarten würden.
Es galt nicht nur, diese Marathonstrecke zu bewältigen. Die Läufer merkten spätestens bei Kilometer 20, dass nun auch noch etwas anderes von ihnen gefordert wurde. Es war am Kelly-Family-Platz, wie er heute umbenannt wurde, wo ihnen eine kurze Verschnaufpause gegönnt wurde. Man hatte eine riesige Leinwand aufgebaut und den Fans gesagt, sie sollten sich einen Moment gedulden und verschnaufen. Kurz darauf erschien Maite auf dem Bildschirm. Tosender Applaus und Jubelrufe waren die Antwort. Maite begann ihre Ansage:

"Liebe Läuferinnen und Läufer!
Wie ihr wisst, ist diese Veranstaltung nicht nur ein Marathon. Ihr müsst auf der gesamten Strecke ein paar Aufgaben bewältigen. Hier ist nun eine davon. Es wird gleich ein Karaokeband gestartet. Den Text des Liedes seht ihr dann hier auf der Leinwand. Eure Aufgabe ist es, zusammen das vollständige Lied zu singen. Es ist natürlich eins von uns! Viel Spaß mit "Maximum" und noch viel Erfolg beim Laufen."

Damit war sie wieder weg. Diese Aktion kam super an. Alle sangen und klatschten und einige tanzten sogar, soweit es die Kräfte noch zuließen. Kurz darauf setzte sich die Masse wieder in Bewegung.

Die nächste Überraschung wartete bei Kilometer 30. Kaum hatte der erste Läufer die Markierungslinie übertreten, begann ein Lautsprecher laut zu pfeifen. Nun begrüßten alle Kellys die Teilnehmer und gaben bekannt, dass sie den Marathon beobachten würden und es ihnen bisher sehr viel Spaß machen würde. Daraufhin kündigten sie an, dass es auf den letzten Kilometern noch eine riesige Überraschung geben würde. Das ermunterte die Läufer noch mal ungemein.
Bei Kilometer 40 sollte es schließlich so weit sein. Die schnellsten Teilnehmer sahen sie zuerst und trauten ihren Augen kaum. In einigen Metern Entfernung standen die Kellys im Sportdress mitten auf der Strecke. Als sie bis auf ca. zwanzig Meter herangekommen waren, liefen die Kellys los. Allen voran natürlich Joey, dicht gefolgt von Paddy und Patricia.
Wieder erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher:

Liebe Kelly-Fans!
Für alle, die es noch nicht gesehen haben, die Kellys sind jetzt im Rennen! Sie sind soeben bei Kilometer 40 gestartet und werden die letzten Kilometer mit euch laufen. Das ist aber noch nicht alles. Es handelt sich hierbei um ein kleines Spiel mit folgenden Spielregeln. Wer es schafft, einen der Kellys zu überholen, der hat die einmalige Chance, mit den Kellys im Schloss Gymnich einen Abend zusammen zu verbringen. Der Kelly, der überholt wird, scheidet aus und ihr müsst einen anderen erwischen. Es können also maximal neun von euch die Kellys besuchen gehen. Also, zeigt mal, was noch in euch steckt! Und viel Glück.

Die Fans staunten nicht schlecht. Damit hätte nun wirklich niemand gerechnet. Die Rivalität untereinander stieg, denn jeder wollte natürlich diese einmalige Chance nutzen. Doch die Kellys machten es ihnen nicht leicht. Die meisten Teilnehmer waren geschafft und hatten keine Kraft mehr. Wer rennt auch schon aus dem Stehgreif und ohne Training einen Marathon!? Anscheinend nur Verrückte... Kelly-Fans!
Die Kellys waren aber auch wirklich gemein. Immer wieder ließen sie die Fans bis auf einige Meter an sie herankommen, um kurz darauf wieder davon zu sprinten.
Langsam ging es auf das Ziel zu. Maite und Barby hatten Erbarmen und ließen sich überholen. Kurz darauf gaben sich auch Angelo, John und Jimmy geschlagen. Sie wollten den Fans ja auch einen kleinen Triumph gönnen. Auf den letzten 1 ½ Kilometern fielen auch Kathy, Patricia und Paddy zurück, so dass schließlich nur noch Joey übrig blieb. Er trieb das Spielchen auf den Höhepunkt. Er ließ die Fans bis auf einige Meter herankommen und rannte ihnen dann wieder davon, dabei drehte er sich um und grinste sie schelmisch an. Am liebsten hätte er laut losgelacht. Das war ein Anblick für die Götter... Er sah die abgekämpften Gesichter, sah Schweißperlen rennen und grimmige, verbissene und schmerzverzerrte Gesichter und dabei stellte er sich vor, wie denen gleich die Zunge auf dem Boden hängen und sie sie beim Rennen hinter sich herziehen würden. "Zu komisch diese Vorstellung, und alles nur für uns", fand er. Er überlegte sich, dass die alle ganz schön verrückt sein mussten, solche Strapazen als ungeübter Läufer auf sich zu nehmen und er bekam schon ein bisschen Mitleid. Aber er verdrängte dieses Gefühl schnell wieder und sagte sich "selber schuld". Als er sie das nächste Mal näher kommen ließ, fingen sie schon an, zu maulen, dass sie bei ihm ja gar keine Chance hätten. Joey drehte sich um, grinste erneut und provozierte sie noch weiter: "Fangt mich doch! Fangt mich doch!", schrie er ihnen entgegen. Ihm gefiel es, dass er die Fans in der Hand hatte und er überlegte, von wem er sich fangen lassen wollte. Oder viel mehr, wen er gerne kennenlernen würde. Wieder drehte er sich um. Sie hatten noch 500 Meter bis zum Ziel, da fiel ihm auf, wie brutal es langsam zwischen den Fans zuging. Sie drängelten und schubsten und versuchten, den anderen den Weg abzuschneiden, denn jeder wollte die letzte Chance nutzen und ihn fangen. Joey fiel ein unscheinbares Mädchen auf. Sie hielt sich aus allen Rangeleien heraus, lief etwas abseits und schien ihn gar nicht zu beachten. In dem Gedrängel merkten die anderen Läufer gar nicht, wie dieses Mädchen langsam an ihnen vorbeizog. Sie lief mit Joey auf einer Höhe, ohne es zu merken. Joey war verwundert. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Sie liefen weiter Seite an Seite. Da bemerkte sie ihn plötzlich. Aber sie machte keine Anstalten, ihn zu "fangen". Sie wollte anscheinend vor ihm im Ziel sein. Es begann ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Joey hatte Mühe, mit ihr mitzuhalten. Er sammelte seine Kräfte und setzte zum Überholen an. Fünf Meter vor dem Zieleinlauf packte er ihre Hand und sie liefen gemeinsam ins Ziel. Joey gratulierte und freute sich mit dem Mädchen über den Sieg.

Es gab am Abend wieder ein großes Konzert für alle Teilnehmer. Nein, es war mehr als ein Konzert, es war ein Fest. Die Kellys merkten schnell, dass alles ruhig und zivilisiert blieb und so beschlossen sie, sich von Zeit zu Zeit unter die Fans zu mischen. Sie erkundigten sich hier und da, wie ihnen der Marathon gefallen hatte und unterhielten sich ganz normal mit den Leuten, so dass es für alle ein gelungener Abend wurde und man Joey auch schnell wieder verziehen hatte.

Selbstverständlich wurde auch das Meeting auf Schloss Gymnich für die neun "Kelly-Fänger" eingelöst. Aber das ist eine anderer Geschichte...


© Melli