Gedankenübertragung
Erstens müssen wir ein bisschen in der Zeit zurückfahren. Einsteigen, die Augen zumachen, und Richtung Irland abfahren. Im Sommer 1998 halten wir in Cobh an. Die Sonne scheint, das Wasser ist klar, kein Wind berührt die Bäume. Und, vor allem, es ist heiss. So heiss, dass sich Maite in der Kühle des Hauses versteckt. Sie ist alleine zu Hause, und stark gelangweilt. All die anderen segeln seit Stunden in der Nähe von Cork Harbour. Sie ist zu Hause geblieben, mit angeblichen Bauchschmerzen. In Wirklichkeit ist sie ganz fit – hat aber Angst, wieder seekrank zu werden. Sie hat es schon längst bereut – wie könnte man seekrank werden, wenn es überhaupt keinen Wind gibt? Und wenigstens wären ihre Geschwister da... Aber segeln kann man auch nicht ohne Wind... vielleicht kommen sie bald nach Hause...
Sie hat die Nase voll mit East Grove. Ihre Freundinnen sind alle in Köln. Was soll sie hier alleine machen? Es ist viel zu früh, in den Pub zu gehen. Normalerweise ist sie so gerne hier. Wo alles ruhig ist – und nachts das eigentliche Leben anfängt. Und alles ist so schön grün, und keine Fans an jeder Ecke und und und. Aber jetzt wünscht sie sich nichts mehr, als ein bisschen Hektik.
Und endlich kommt sie auf eine Idee: wenn’s keine Hektik gibt, kann sie es sich wenigstens vorstellen... Sie nahm schnell ein Blatt Papier, und begann zu schreiben: ...
***
"CRAZY FANS by Maite Kelly
Christiane machte im Zimmer unendliche Runden. Heidi sass in dem einzigen Sessel und äugelte mit dem Paddy-Poster an der Wand. Sie waren still, nur die Tönen von "She’s Crazy" füllten den Raum. Plötzlich rief Christy aufgeregt:
"Ich habe es!"
Heidi riss die Augen von Paddy weg, und schaute ihre Freundin neugierig an:
"Hmmm?"
"Ich habe eine Idee, Heidi, hör’ mal zu! Aaaaalso, wir möchten die Kellys unbedingt treffen, stimmt’s?"
"Natürlich."
"Und nicht nur ein Foto, oder so, sondern RICHTIG treffen."
"Genau."
"Wir fahren morgen ab." stellte Christy fest. "Nach Cork. Du hast auch ein bisschen gespartes Geld, oder?"
"Yo."
"OK. Dann finden wir Cork Harbour, und Cobh. Überhaupt, wir finden East Grove. Das Haus ist am Wasser, bei Cork Harbour. Ich hab’s in Popcorn gesehen."
"Ich auch."
"Also, irgenwo an der Bucht mieten wir ein Boot. Und, wenn niemand zuschaut, rudern wir in Richtung East Grove. Wir müssen näher zu East Grove sei, als zum anderen Ufer. Es gibt bei East Grove bestimmt irgendwer, der aufpasst, dass wir dort nicht vertäuen. Deshalb müssen wir es anders machen..."
"Aber wie?" fragte Heidi aufgeregt.
"Wir versenken das Boot."
"Bist du verrückt?!"
"Nee, hör’ mal zu. Wenn das Boot versenkt, müssen wir zum Ufer schwimmen. Zu dem Ufer, das näher ist – also East Grove. Wir können nichts dafür, oder? Und natürlich waren alle unsere Papiere angeblich bei uns, und verschwanden im Wasser. Inklusive das Geld, die Credit-Card, der Schlüssel zum Hotel-Zimmer, den wir ganz zufällig vergessen haben abzugeben. Und natürlich auch die Telefonnummer von der Mama, die gerade einen neuen Handy hat. Einen Vater haben wir nicht. Und nein, wir kennen niemanden in Irland. Natürlich sind wir NICHT Kelly-Fans. Wir sind ganz alleine in Irland, gerade aus dem eiskalten Wasser gekommen, frieren, sind hungrig und auf dem richtigen Weg, Lungenentzündung zu kriegen. Man muss uns doch helfen, oder? Wenn wir lang genug aushalten, begegnen wir bestimmt eine oder einer der Kellys. Wir müssen krank werden, aber nicht krank genug, um ins Krankenhaus geliefert zu werden... NA, WIE WÄR’S?"
"COOL!" rief Heidi begeistert, und umarmte liebevoll ihre Freundin...äh, tschuldigung, Schwester."
***
Maite hört auf zu schreiben. Sie braucht irgendwas zum essen... Sie schaut im Kühlschrank nach, was es so gibt – kreativer geht’s gerade nicht. Sie denkt lächeld, dass sie bestimmt ein aktiver Kelly-Fan gewesen wäre, voller Ideen..
Mit einem Sandwich geht sie in ihrem Zimmer, um die Story fortzusetzen...
***
"... Morgen früh fuhren die beiden ab. Heidi, um eine Woche bei Christys Grossmutter zu verbringen, und Christy, um eine Woche bei Heidis Grossmutter zu verbringen – das haben sie jedenfalls ihren Eltern erzählt. Alles ging super. Drei Tage später waren sie in Irland, und fanden East Grove ganz leicht. Sie versuchten, ein Boot zu mieten. Auch das ging flott.
"Es ist irgendwie zu einfach" meinte Christy, die als geübter Fan genau wusste, dass nichts einfach sein kann, wenn es um die Kellys geht. "Das hätte ich nie gedacht. Sind wir wirklich die einzigen, die auf die Idee gekommen sind?!"
"Scheint so..." sagte Heidi, und begann zu rudern...
Als das Haus in Sicht kam, nahm Christy ihr Taschenmesser hervor.
"Okay, jetzt geht es wirklich los... Bist du bereit?"
"Wenn alles schief geht... wir können immer noch ins Hotel zurück, oder?"
"Natürlich. Unsere Sachen sind alle dort... Passport, Geld, alles."
"Und du hast den Schlüssel abgegeben, oder?"
"Of course baby. Hab’ keine Angst. Alles ist unter Kontrolle..." sagte Christy grinsend "und ab jetzt sind wir nicht mehr Kelly-Fans, sondern unglückliche Schiffbrüchigen."
"Okay."
Und Christy steckte das Messer mit ihre ganze Stärke in den Unterteil des Bootes...
Als das Booy langsam versank, rief Christy glücklich:
"Und jetzt: schwimmen!"
Heidi sah plötzlich ganz krank aus:
"Christy... ich kann nicht schwimmen..."
Zuerst hörte sie Christy nicht. Sie wiederholte es schreiend:
"CHRISTY! ICH KANN NICHT SCHWIMMEN!!!"
"WAS?!?!" kreischte Christy ausser sich.
"Wirklich nicht... oh Mann, ich versinke auch..."
"Hättest du das nicht früher sagen können?" fragte Christy, ganz entsetzt...
Heidi wimmerte traurig.
"Ach... mein Gott... komm’, ich ziehe dich an Land."
Und Christy begann zu schwimmen. Es dauerte eine gute Weile, bis sie am Ufer ankamen. Ein Security wartete schon auf sie...
"Was zum Teufel macht ihr denn?" fragte er ganz freundlich.
"Was für eine Frage." sagte Christy leidenschaftlich. "Unser Boot ist versunken."
"Ich kann nicht schwimmen." fügte Heidi traurig hinzu..."
***
Maite lächelt, und überlegt, was sie jetzt mit den Girls machen sollte. Sie schaut verträumt aus dem Fenster. Das Wasser schimmert im Sonnenschein. Die wunderschönen Bäume am anderen Ufer stehen ganz still.
Plötzlich erblickt sie ein kleines Boot in der Mitte der Bucht. Sie steht am Fenster wie vom Blitzschlag getroffen und starrt. Sie erkennt zwei Mädchen im Boot... und als es langsam versinkt, rennt sie wie verrückt aus dem Haus zum Ufer. Sie stösst mit dem Security zusammen und hält atemlos an. Sie kriegt kein Wort heraus.
Die beiden Mädchen kommen ermüdet aus dem Wasser.
"Was zum Teufel macht ihr denn?" fragt der Security.
Nein, oh nein – denkt Maite – das kann nicht sein...
"Was für eine Frage." erwidert das eine Mädchen leidenschaftlich. "Unser Boot ist versunken."
"Ich kann nicht schwimmen" fügt das andere traurig hinzu.
Maite wird es schlecht. Sie kriegt eine leise "Hallo" heraus.
"Hallo" sagt das eine Mädel. "Wo sind wir?"
"Es ist egal, mir ist es kalt." sagt das andere.
"Christina Maier" sagt das eine grinsend. "Pleased to meet you."
"Hanna Schm... äh... Maier" stellt sich das andere leise vor.
"Jörg Riemann." sagt der Security.
Alle schauen auf Maite.
"M...M...Maite... K...Kelly." sagt sie zitternd. – Christiane ist Christina, Heidi ist Hanna... Fast die gleichen Namen...
Es gibt eine lange Pause.
"Könnten wir vielleicht ein Handtuch haben?" fragt Christina.
Maite erweckt von ihrer Traumwelt.
"Ja, natürlich!" sagt sie. "Kommt doch rein..."
***
Wieder abgetrocknet sitzen die beiden Mädchen und Maite im Wohnzimmer.
"Also, erzählt mal..."sagt Maite. "Ihr kommt aus Deutschland, habt gestern East Grove gefunden, heute ein Boot gemietet, und es in der Nähe von unserem Ufer versenkt. Nur dann habt ihr herausgefunden, dass Heidi... äh, Hanna, nicht schwimmen kann. Ihr seid jetzt hier und werdet erzählen, dass ihr alle eure Papiere, Geld etc. im Wasser verloren habt, inklusive den Schlüssel zum Hotelzimmer, den ihr ganz zufällig vergessen habt abzugeben, und ihr werdet mir um Hilfe bitten, die ich natürlich nicht verweigern kann, denn ihr habt ja alles verloren, seid angeblich Schwester, habt angeblich keinen Vater, und wisst die neue Telefonnummer von Mutti nicht... STIMMT ‘S?!?!"
Christina und Hanna schauen verblüfft auf einander.
"Woher wusstest du denn das?"
*T*H*E* *E*N*D*
by Alice