Er wunderte sich, ob es
das alles noch wert sei, dieser tägliche Stress, dieses ständige
Gefühl, beobachtet zu werden, dieses nicht enden wollende
Blitzlichtgewitter. Sicher, es gab viele schöne Stunden, Stunden der
Einsamkeit, die er zu genießen gelernt hatte, aber auch Stunden der
Zweisamkeit, die er besonders schätzte. Stunden der Intimität, auch
wenn sie meistens hinter verschlossenen Türen abliefen. Seine letzte
Freundin hatte sich schon vor längerer Zeit von ihm getrennt, und da
er nicht zu jenen gehört, die krampfhaft auf der Suche sind, hatte
sich noch nichts Neues ergeben. Manchmal fühlte er sich sehr einsam,
aber wenn er dann kurz nachdachte, fand er Gefallen an diesem
Gedanken. Er hatte sich viele Beschäftigungen gesucht, die man am
besten allein ausübt, wie zum Beispiel das Malen. Barby sah die
Bilder immer sehr besorgt und erschrocken, weil er schnell gelernt
hatte, darin seine Gefühle zu verarbeiten. Sein Leben war nicht
leicht, doch er hatte gelernt, damit umzugehen. Gelernt - ja,
gelernt hatte er vieles. Er war zum Teil reifer als andere junge
Männer in seinem Alter, aber andererseits fehlte ihm ein Stück
seiner Jugend. Das kompensierte er durch seinen Sammeltick, er
sammelte nämlich alte Stofftiere. Er war verschlossen und in sich
gekehrt geworden, er ist schon lange nicht mehr der fröhliche Junge
von früher.
"Heute ist wieder einer
der verdammten Tage, die ich kaum ertrage und mich ständig selber
frage warum mich all diese Gefühle plagen" - diese Textzeile aus
einem Song einer bekannten, deutschen HipHop-Combo schoss ihm durch
den Kopf. Es war schon spät am Abend, als Patrick in den Garten -
oder eher Park, bei der Größe - ging, um sich ein wenig die Beine zu
vertreten. Er war nachmittags nur kurz in der Stadt gewesen, um
etwas zu bummeln und ein paar Sachen zu kaufen, aber natürlich waren
wieder an jeder Ecke Mädchen mit Fotoapparaten gestanden. Ein paar
waren ganz nett gewesen, sie hatten es jedenfalls respektiert, dass
er gemeint hatte, er wolle nicht fotografiert werden. Dafür hatte er
sich eine Weile mit ihnen unterhalten. Aber sowas kommt nur einmal
in fünfzig Fällen vor. Es kotzte ihn so an. Er war wütend und
traurig zugleich, weil er immer wieder daran denken musste. Er
konnte nichts dagegen tun. War das sein Schicksal, mit dem er sich
abfinden musste? Es war kühl, die Sonne war längst untergegangen und
die Erde hatte sich schon etwas abgekühlt. Patrick fröstelte in
seinem leichten T-Shirt und der kurzen Hose. Die ersten Bäume hatten
ihre Blätter schon gelblich gefärbt, es wurde Herbst. Nachmittags
wurde es noch schön warm, aber sobald keine Sonne mehr schien, war
es aus mit der Wärme. Patrick mochte den Herbst, die warmen Farben
und der Nebel erinnerten ihn oft genug an Irland. Irland, seine
Heimat. Er blieb stehen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie
es wäre, jetzt dort zu sein. Nach einer Weile verwarf er den
Gedanken, weil er ihn schwermütig machte.
Nach einer Weile war es ihm so kalt, dass er es für besser
empfand, wieder auf sein Zimmer zu gehen. Er machte bewusst kein
Licht in seinem Zimmer, sondern legte sich wie er war auf sein Bett.
Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ging weiter seinen
Gedanken nach. Er verspürte den Wunsch, sofort seine Sachen zu
packen und abzuhauen. Einfach weg. Weg aus Deutschland.
Die
Vernunft siegte. Er konnte nicht einfach so abhauen, da gab es doch
Verträge, die erfüllt werden mussten, Arbeit, die er machen musste.
Hier war sein Platz. Er zog sich um und ging schlafen.
Der
Morgen war neblig und kalt, da hatte Patrick keine Lust,
aufzustehen. Aber Sean hatte kein Erbarmen. "Paddiiiiie, aufstehen!"
"Mmmh.." "Keiner will mit mir spielen!" "Du hast doch deinen
Gameboy." "Ich hab' aber schon alle Spiele durchgeschafft! Spiel du
mit mir!!!" "Was denn um Himmels Willen?" "Fangen, oder
Verstecken..." Schon hatte Sean ihm die Decke weggezogen. Patrick
stand auf und warf sich seinen blauen Bademantel über. "Darf ich
noch einen Kaffee trinken?" "Geht das nicht auch später?" Der Junge
konnte ganz schön nerven. Noch ganz verpennt rannte Patrick ihm
durch das halbe Schloss hinterher, bis Sean genug hatte. Dann wollte
er Verstecken spielen. Patrick war schon so willenlos, dass er
nachgab. Während er sich in einem Schrank versteckte, dachte er an
seine Kindheit. Er hatte auch gern Verstecken gespielt, mit Angelo,
Maite und ein paar Kindern, die er oft kaum kannte. Wenn sie
unterwegs waren, waren immer viele Kinder in um sie herum gewesen.
Es war eine wirklich schöne Zeit gewesen. Da wurde die Schranktür
aufgerissen. "Paddy! Weinst du?" "Nein." Er wischte sich die Träne
von der Wange und stand auf. "Sean, darf ich jetzt was essen? Mir
hängt der Magen schon auf den Knien." Gnade!
Patrick holte sich seine Lieblingstasse, die ganz große, aus
dem Küchenschrank. Zum Glück war noch Kaffee da, er konnte nämlich
keinen kochen. Der wurde grundsätzlich zu stark oder zu schwach. Das
bekam er stets zu spüren, da er den Kaffe schwarz trank. Er hatte
sich gerade hingesetzt, als Joey den Raum betrat. Was um alles in
der Welt macht der im Schloss? "Patrick, tust du mir einen Gefallen?
Tanja und ich, wir sind beide unterwegs..." "...und ich soll auf
Euern Nachwuchs aufpassen." Schon hatte er das Kind auf dem Schoß.
Joey sah schon nicht mehr, wie Patrick die Augen verdrehte. Ja, er
mochte Kinder und wollte auch selber einmal welche haben, wenn er
die richtige Frau gefunden hatte, aber er hatte es satt, ständig den
Babysitter spielen zu müssen. Alle anderen hatten immer etwas zu
tun, so wurden der Job immer auf ihn abgewälzt. Selbst wenn er
'Damenbesuch' hatte war das schon der Fall gewesen.
Der
Kaffe wurde kalt. Patrick war vollauf damit beschäftigt, seinen
kleinen Neffen ruhigzuhalten, der hatte nämlich die Gabe, schnell
loszubrüllen. Als der Kleine endlich einmal schlief, wusste Patrick
aber nichts mit sich anzufangen. Er lief in sein Zimmer und kramte
in seinem Kleiderschrank. Irgendwo am Boden musste doch diese
Whiskeyflasche stehen... Er bekam diesen Whiskey oft von Fans
geschenkt, da er "Paddy" hieß. Eine hatte er sich aufgehoben. Er
nahm die Flasche mit ins Wohnzimmer und nahm unterwegs gleich die
ersten Schlucke. Der Whiskey brannte im Hals und trieb ihm Tränen in
die Augen, aber nach kurzer Zeit verbreitete sich vom Bauch aus ein
wohliges, warmes Gefühl. Er hatte die Flasche schon halbleer, als
das Kind aufwachte. Patrick alberte herum und machte wie immer den
Clown. Der Alkohol stieg ihm zu Kopf und er vergaß alles
andere.
Barby hatte sich über den Lärm gewundert und war
ins Wohnzimmer gekommen. "Patrick! Was ist mit dir los?" "Nichts,
ich hab' hier meine Aufgabe und fühle mich super." Er grinste breit
von einem Ohr zum anderen. Barby sah die halbleere Whiskeyflasche.
"Du hast doch nicht getrunken?" "Ach, das bißchen..." Ein bißchen?
Dafür hatte er aber verdammt leuchtende Backen. "Patrick, du sollst
doch nicht... ach, gib mir den Kleinen, ich kann das nicht
verantworten. Du bist ein Idiot. Ein völlig durchgeknallter Idiot."
Mit einem Mal war Patricks Grinsen verschwunden. Er war verwundert
über seine Schwester. Sie war sehr launisch, aber eine derartige
Äußerung hatte er nicht von ihr erwartet.
Er
schnappte sich die Flasche und ging wieder in sein Zimmer. Sie hatte
sich auch so sehr verändert, seine kleine Barby. Sogar sie hatte
sich nun gegen ihn gestellt, gerade sie, wo sie doch am ehesten
verstehen könnte, was in ihm vorgeht. Er lehnte den Kopf gegen eine
Fensterscheibe. Der Nebel hatte sich mittlerweile verzogen.
Plötzlich fühlte er sich zugleich fremd und eingeengt. Er wollte
dieses Schloss eine Weile nicht mehr sehen, also rief er seine
Schwester Patricia an, die eine Wohnung in der Stadt hatte.
"Patricia, mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Kann ich bei dir
schlafen?" Sie erlaubte es ihm. Er packte schnell das Nötigste
zusammen, rief ein Taxi und fuhr nach Köln.
Vor
der Wohnung schaute er sich verwundert um. Keine Menschenseele! Er
fing wieder an zu grinsen, ging sogar um die nächste Ecke, sah aber
niemanden. Dann brachte er seine Sporttasche hinauf. Eigentlich
wollte er gleich wieder in die Stadt gehen, aber Patricia hielt ihn
fest. "Patrick, bist du betrunken? Du riechst nach Whiskey..." "Ach,
ich hab' nicht so viel getrunken." "Wehe dir du gehst in eine
Kneipe! Dann kannst du schauen, wo du die Nacht
verbringst!"
Aber das hatte er gar
nicht vorgehabt. Er ging ein wenig am Rheinufer entlang, den Zopf
hatte er hinten in den Pullover gesteckt. Niemand schien von ihm
Notiz zu nehmen. Er fühlte sich toll und sang ein irisches Volkslied
vor sich hin. Immer noch singend ging er Richtung Dom, schlug dann
dort in den Hohen Weg ein und ging ein wenig shoppen. Er ging sogar
in solche Läden, um die er sonst einen großen Bocgen machte. Heute
aber war er "normal". Er sang und redete weiter vor sich hin, bis er
hinter sich eine matte Stimme hörte. "Patrick?" Erschrocken fuhr er
um und sah in ein Paar stahlblaue Augen. Er muss ziemlich komisch
geschaut haben, denn das Mädchen begann zu lächeln. Aber ebenso
schnell verschwand das Lachen wieder von ihrem Gesicht. "Patrick,
geht's dir nicht gut?" "Warum?" fragte er, schon leicht verärgert.
"Du benimmst dich wie... ich lass' dich gleich in Ruhe, aber du
musst mir eins versprechen. Pass auf dich auf. Aber verdammt gut,
ich will nicht, dass du so endest wie Barby. Wenn du mich nicht
verstehst - bitte. Tut mir leid." Damit drehte sie sich um und
verschwand. Patrick war noch zu verdutzt um etwas zu antworten. Wie
hatte sie das gemeint, er solle auf sich aufpassen? Er brachte die
Sachen, die er sich ausgesucht hatte, zur Kasse, zahlte und ging zur
Wohnung seiner Schwester.
Patricia hing am Telefon,
als er die Wohnung betrat. Sie schaute ihn verwundert an, seine gute
Laune war spurlos verschwunden. Sie entdeckte auf seiner Stirn diese
Falte, die er immer hatte, wenn er viel nachdachte. Patricia gab
ihrem kleinen Bruder ein Zeichen, sie käme gleich und wimmelte den
Anrufer schnell ab. Patrick hatte sich auf ein Sofa gesetzt. "Was
ist los? Wenn du reden willst, ich bin in der Küche. Ich habe Kekse
gebacken." Das war es also, was so geduftet hat. Nach kurzer Zeit
folgte er ihr. Sie überzog gerade das Gebäck zur Hälfte mit
geschmolzener Kuvertüre. Patrick schnappte sich einen Keks, der noch
ohne Schokolade war und stopfte ihn sich in den Mund. Erst da merkte
er, dass er im Prinzip noch nichts gegessen hatte. Deshalb begann
er, sich ein Brot zu machen. Er sprach aber kein Wort. Patricia
kannte dieses Verhalten, es würde nicht mehr lange dauern, bis er
ihr erzählen würde, was ihn bedrückt.
"Patricia, ich halte das nicht mehr aus. Ich kann einfach
nicht mehr, es kotzt mich alles so dermaßen an..." Eine Weile
Schweigen. "Patrick, was ist mit der Couch? Du weißt doch, irgendwie
kann man das kompensieren." "Soll ich jetzt auch auf Autos
losgehen?" "So meine ich das nicht. Sonst hat dir doch die Musik
gereicht." "Das Maß ist voll." "Sag doch sowas nicht. Morgen sieht
die Welt wieder anders aus." "Patty, eben, in der Stadt... da war so
ein Mädchen... plötzlich war sie da und meinte, ich solle auf mich
aufpassen, dass ich nicht so ende wie Barby... verstehst du, wenn
das so weitergeht, werde ich noch verrückt. Wenn ich's nicht schon
längst bin." Er fing an zu weinen. Patricia nahm ihren Bruder in die
Arme. Er weinte wie ein kleines Kind, er weinte lange, bis er nur
noch zitterte und stockend atmete. Sie brachte ihn zum Sofa, kochte
ihm einen Tee und gab Baldriantropfen hinein.
Als
Patrick aufwachte, taten ihm vom Weinen die Augen weh. Es war halb
sechs. Er hatte einen Entschluss gefasst. Bevor er ging, schrieb er
einen Zettel, er sei rechtzeitig zurück. Mit einem Taxi fuhr er ins
Schloss. Während er hastig ein paar Klamotten in eine Tasche warf,
telefonierte er mit einer Dame am Flughafen. Er könne um acht über
Frankfurt nach Dublin fliegen. Er drehte sich nicht um, als er das
Gelände verließ.
Zu der Jahreszeit waren
nur Geschäftsleute auf den Flughäfen. Patrick war erleichtert, als
er im Flugzeug saß. Es war eine kleine Maschine und trotz der kurzen
Flugzeit gab es ein kleines Frühstück. Eigentlich hasste er dieses
Essen, aber diesmal schmeckte es wunderbar nach Freiheit. Die
Maschine, die ihn nach Dublin brachte, war nicht viel größer.
Als er in Dublin aus dem Flugzeug stieg, wollte er
sich am liebsten auf die Knie werfen und den Boden küssen. Im
Flughafengebäude hatte er schon wieder sein breites Grinsen auf dem
Gesicht. Er fühlte sich frei. Nein, jetzt warer frei. Zunächst
machte er sich keine Gedanken über das Wohin. Er fuhr mit dem Bus in
die Dubliner Innenstadt und ging dort erstmal in das nächste Pub. Es
war sehr schön, echt urig und mit vielen Bildern und
Zeitungsausschnitten an den Wänden. Patrick hätte den ganzen Tag
dort verbringen können. Ein alter Mann saß am Tisch neben ihm und
erzählte einem nicht viel jüngeren von seiner verstorbenen Frau.
Patrick schmunzelte und stellte sich gerade vor, wie sein Vater
einem Mann gleichen Alters von Barbara Ann erzählen würde, als eine
Frau um die 50 zu ihm kam und ihn nach seiner Bestellung fragte.
Guinness, was sonst. Er musste nicht lange warten, da um die Uhrzeit
noch nicht viel los war. Er genoss jeden einzelnen Schluck. Dann
wollte er zahlen und fragte die Frau nach einer Pension in der Nähe.
Sie erzählte ihm sofort von ihrer Freundin, die geradezu um die Ecke
eine besäße, die sie mit ihrem Sohn Patrick führen würde. Patrick
musste wieder grinsen. Die Frau fragte ihn nach seinem Namen, damit
sie 'drüben' anrufen könnte, damit er ein besonders schönes Zimmer
bekäme. "Patrick. Patrick Kelly." Das war das Stichwort für die
Frau, sie begann, von der St Patrick's Cathedral zu erzählen. Das
war eine der besten irischen Eigenschaften. Die Menschen sind offen.
Patrick hatte das in Deutschland oft vermisst. Er trank ein zweites
Guinness und machte sich dann auf den Weg. Na ja, um die Ecke war
etwas übertrieben, aber die Frau hatte wohl schon angerufen, da
Patrick richtiggehend empfangen wurde. Er bekam ein wirklich schönes
Zimmer im zweiten Stock. Lange blieb er nicht dort, es zog ihn in
die Stadt. Zunächst lief er einfach so durch die Straßen, dann ging
er zur Christ Church Cathedral. Aber schnell hatte er die Schnauze
voll von Kultur und ging sich eine Tweedjacke, einen Pullover und
Schuhe kaufen, einfach so, weil er unbedingt irische Kleidung tragen
wollte. Ehe er sich versah, fing es schon an zu dämmern. Aber
Patrick war so aufgekratzt und erlebnishungrig, dass er kurz in der
Pension Essen ging und dann in das Pub zurück, in dem er schon
mittags gewesen war. Schließlich musste er sich noch bei der Frau
für den Tip bedanken. Hui, nun war dort echt die Hölle los. Ein paar
Männer spielten Musik auf einer kleinen Empore. Die Besucher waren
größtenteils männlich, aber das war Patrick egal, er war ja nicht
auf Brautschau. Er fand einen Platz an einem Tisch in einer Ecke.
Die drei Männer, die dort saßen, waren nicht viel älter als er.
Patrick kam bald mit ihnen ins Gespräch. Sie waren alle Musiker, das
gab schon genügend Gesprächsstoff. Es dauerte eine Weile, bis ein
Mädchen mit weißer, langer Schürze an den Tisch kam, lachend die
leeren Gläser auf ihr Tablett stellte und nach neuen Wünschen
fragte. Einer der Jungs, Tom, meinte "I want you", worauf alle in
schallendes Gelächter ausbrachen. Ben, der rechts neben Patrick saß,
erklärte ihm, dass Tom hinter ihr her sei, seit sie in diesem Pub
bediente. Erst da schaute er sie richtig an. Sie hatte braune Augen
und ein paar Sommersprossen. Als sie sich in die Augen sahen,
bemerkte er, wie sie die Stirn in Falten legte und das Lächeln kurz
aus ihrem Gesicht verschwand. Doch es kehrte schnell zurück. Patrick
konnte den Blick nicht mehr von ihr abwenden, er hatte sich in diese
Augen verguckt. Er bestellte sein Guinness und schaute ihr
hinterher. "She's nice, ain't she?" riss ihn Tom aus seinen
Gedanken. So kamen sie zum Thema Frauen. Ben war verlobt und durfte
nur donnerstags in Pubs gehen, darüber machten sich die anderen zwei
lustig. Tom war wie gesagt hinter der Bedienung her und der dritte,
Anthony, hatte seit zwei Jahren eine Freundin, die aber zu dem
Zeitpunkt bei ihrer Familie in Limerick war. Ant hasste Limerick,
sonst hätte er sie begleitet. Er hatte es vermeiden wollen, aber
jetzt musste er von sich erzählen. Er meinte kurz, er lebe
eigentlich in Deutschland, hätte aber davon die Schnauze voll. Und
da er keine Freundin hatte, die ihn dort gehalten hätte, hatte er
sich also auf den Weg gemacht. Tom wurde bei dem Wort "Germany"
hellhörig und wollte etwas darüber wissen. Patrick wunderte sich
nicht. Also erzählte er etwas von den eigenartigen Deutschen, sah
sich dabei immer wieder nach der Bedienung um. Wie er später von Tom
erfuhr, hieß sie Leena. Oder ließ sich zumindest so
nennen.
Ben und Ant gingen kurz vor elf. Das Pub hatte
sich schon merklich geleert. Patrick war nicht mehr ganz alleine und
verstand sich gut mit Tom. Als der aber auch gehen musste, da er
noch bei seinen Eltern lebte, hatte Patrick aber gerade noch sein
Glas zu drei vierteln voll. Also saß er alleine an dem Tisch in der
Ecke. Eigentlich langweilig, so alleine, aber kaum hatte er den
Gedanken zu Ende gedacht, stand Leena an seiner Seite.
"Patrick, darf ich mich kurz setzen?" Er hätte sich
verschluckt, wenn er etwas im Mund gehabt hätte. Sie hatte deutsch
geredet! "Bitte." "Ich hab' schon länger kein deutsch mehr
geredet..." "Bist du denn aus Deutschland? Ich hab' nämlich vorhin
schon gedacht, dass du irgendeinen ausländischen äh Akzent hast."
"Ja, bin ich." "Dann weißt du, wer ich bin. Vielmehr zu wem ich
gemacht wurde." "Ja. Deshalb muss ich ja mit dir reden. Was machst
du hier?" "Urlaub. Ich hab's da einfach nicht mehr ausgehalten."
"Kann ich verstehen. Deutschland ist ein Scheiß-Land, ne? Aber...
deine Familie...?" "Ach, die brauchen mich grade nicht, und zu den
Konzerten bin ich rechtzeitig zurück." "Wie lange bist du schon
hier?" "Seit heute, du?" "Zwei Monate. Das heißt, zuerst bin ich
quer durch Irland gereist und jetzt konzentriere ich mich auf
Dublin, hier gibt es so verdammt viel zu sehen... das ist einfach
der Wahnsinn." Leena hatte eigentlich Feierabend, daher dehnte sich
die Unterhaltung mächtig aus. So richtig tiefgründig wurde sie
natürlich nicht, aber Patrick hatte das Gefühl, dass sie ihm mehr
geben konnte. Sie verstanden sich wirklich auf Anhieb. Als das Pub
geschlossen wurde, machte Leena noch ihre Abrechnung. Patrick
wartete draußen auf sie. Sie wusste davon nichts und war völlig
überrascht. Patrick wollte sie nach Hause begleiten, weil er es
nicht verantworten konnte, ein junges Mädchen um die Uhrzeit alleine
durch Dublin laufen zu lassen. Dabei stellte sich heraus, dass sie
in der gleichen Pension wohnte wie er, zwar in einem viel kleineren,
billigeren Zimmer als er, aber lachen mussten sie schon über den
Zufall. Sie erzählte ihm von ihren zwei Jobs: zum einen arbeitete
sie vier abende in dem Pub und am Wochenende "weil da bei den
Sehenswürdigkeiten eh mehr viel los ist" in der Pension als
Zimmermädchen.
Beim Frühstück trafen sie
sich wieder. Weil Patrick eigentlich noch nichts geplant hatte,
schloß er sich ihr an, und sie gingen in die National Gallery. Wie
sich schnell herausstellte, hatte sie den gleichen Kunstgechmack wie
er. Als sie genug gesehen hatten, gingen sie zu Fuß zu St Stephen's
Green. Patrick legte sich auf der nächstbesten Wiese sofort auf den
Rücken ins Gras und schloß die Augen. Leena setzte sich neben ihn
und sie redeten weiter über Gott und die Welt. Patrick konnte aber
machen, was er wollte, sie wollte nichts über ihre Vergangenheit
oder ihre Herkunft erzählen. Wenn er direkt fragte, dagte sie, sie
hätte damit abgeschlossen, und wenn er über Umwege darauf kam, wich
sie aus.
Patrick und Leena verbrachten ein paar schöne
Wochen im herbstlichen Irland. Und - wie konnte es anders sein - es
kam, was kommen musste: sie verliebten sich ineinander. Zusammen
unternahmen sie viele Tagesausflüge in die nähere Umgebung Dublins.
Es war alles so friedlich und entspannt. Patrick hatte schnell seine
Sorgen vergessen, die ihn in Deutschland immer plagten. Hier konnte
er frei sein, hier musste er nicht hinter jeder Ecke einen
Fotoapparat befürchten. Beide wussten, dass es nicht ewig so sein
konnte, deshalb war jeder Tag etwas Besonderes.
Und
dann kam der Tag, an dem Leena zurück nach Deutschland fliegen
musste, weil sie vor Beginn ihres Praktikums noch eine Wohnung
suchen musste. Patrick hatte aber noch ein paar Wochen vor dem
nächsten Konzert, die er nicht wieder 'in Gefangenschaft' verbringen
wollte. Seine Freiheit war ihm in diesem Moment wichtiger als die
Liebe, und Leena kannte ihn mittlerweile gut genug, um das zu
verstehen. Am Flughafen verabschiedeten sie sich mit den Worten, sie
würden sich ja bald wiedersehen, aber Patrick hatte kurz vor seiner
überstürzten Abreise einen neue Handynummer beantragt und kannte
diese natürlich noch nicht.
Patrick verließ Dublin am
selben Tag, verbrachte ein paar Tage in Limerick, aber da waren ihm
zu viele Fabriken und er fuhr etwas weiter aufs Land. Nach einer
Woche fuhr er weiter nach Cork und buchte einen Flug über London
nach Köln-Bonn für den darauffolgenden Dienstag.
Als
er im Flugzeug saß, jenes auf die Startbahn rollte und zum Abflug
startete, schaute Patrick lange aus dem Fenster. So lange, bis
zwischen ihm und Irland nur noch Wolken zu sehen waren.
Written in May 2000