Heimat

by Jule   Strawberry-Ice@gmx.de

 

 

Er wunderte sich, ob es das alles noch wert sei, dieser tägliche Stress, dieses ständige Gefühl, beobachtet zu werden, dieses nicht enden wollende Blitzlichtgewitter. Sicher, es gab viele schöne Stunden, Stunden der Einsamkeit, die er zu genießen gelernt hatte, aber auch Stunden der Zweisamkeit, die er besonders schätzte. Stunden der Intimität, auch wenn sie meistens hinter verschlossenen Türen abliefen. Seine letzte Freundin hatte sich schon vor längerer Zeit von ihm getrennt, und da er nicht zu jenen gehört, die krampfhaft auf der Suche sind, hatte sich noch nichts Neues ergeben. Manchmal fühlte er sich sehr einsam, aber wenn er dann kurz nachdachte, fand er Gefallen an diesem Gedanken. Er hatte sich viele Beschäftigungen gesucht, die man am besten allein ausübt, wie zum Beispiel das Malen. Barby sah die Bilder immer sehr besorgt und erschrocken, weil er schnell gelernt hatte, darin seine Gefühle zu verarbeiten. Sein Leben war nicht leicht, doch er hatte gelernt, damit umzugehen. Gelernt - ja, gelernt hatte er vieles. Er war zum Teil reifer als andere junge Männer in seinem Alter, aber andererseits fehlte ihm ein Stück seiner Jugend. Das kompensierte er durch seinen Sammeltick, er sammelte nämlich alte Stofftiere. Er war verschlossen und in sich gekehrt geworden, er ist schon lange nicht mehr der fröhliche Junge von früher.
"Heute ist wieder einer der verdammten Tage, die ich kaum ertrage und mich ständig selber frage warum mich all diese Gefühle plagen" - diese Textzeile aus einem Song einer bekannten, deutschen HipHop-Combo schoss ihm durch den Kopf. Es war schon spät am Abend, als Patrick in den Garten - oder eher Park, bei der Größe - ging, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Er war nachmittags nur kurz in der Stadt gewesen, um etwas zu bummeln und ein paar Sachen zu kaufen, aber natürlich waren wieder an jeder Ecke Mädchen mit Fotoapparaten gestanden. Ein paar waren ganz nett gewesen, sie hatten es jedenfalls respektiert, dass er gemeint hatte, er wolle nicht fotografiert werden. Dafür hatte er sich eine Weile mit ihnen unterhalten. Aber sowas kommt nur einmal in fünfzig Fällen vor. Es kotzte ihn so an. Er war wütend und traurig zugleich, weil er immer wieder daran denken musste. Er konnte nichts dagegen tun. War das sein Schicksal, mit dem er sich abfinden musste? Es war kühl, die Sonne war längst untergegangen und die Erde hatte sich schon etwas abgekühlt. Patrick fröstelte in seinem leichten T-Shirt und der kurzen Hose. Die ersten Bäume hatten ihre Blätter schon gelblich gefärbt, es wurde Herbst. Nachmittags wurde es noch schön warm, aber sobald keine Sonne mehr schien, war es aus mit der Wärme. Patrick mochte den Herbst, die warmen Farben und der Nebel erinnerten ihn oft genug an Irland. Irland, seine Heimat. Er blieb stehen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, jetzt dort zu sein. Nach einer Weile verwarf er den Gedanken, weil er ihn schwermütig machte.
Nach einer Weile war es ihm so kalt, dass er es für besser empfand, wieder auf sein Zimmer zu gehen. Er machte bewusst kein Licht in seinem Zimmer, sondern legte sich wie er war auf sein Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ging weiter seinen Gedanken nach. Er verspürte den Wunsch, sofort seine Sachen zu packen und abzuhauen. Einfach weg. Weg aus Deutschland.
Die Vernunft siegte. Er konnte nicht einfach so abhauen, da gab es doch Verträge, die erfüllt werden mussten, Arbeit, die er machen musste. Hier war sein Platz. Er zog sich um und ging schlafen.
Der Morgen war neblig und kalt, da hatte Patrick keine Lust, aufzustehen. Aber Sean hatte kein Erbarmen. "Paddiiiiie, aufstehen!" "Mmmh.." "Keiner will mit mir spielen!" "Du hast doch deinen Gameboy." "Ich hab' aber schon alle Spiele durchgeschafft! Spiel du mit mir!!!" "Was denn um Himmels Willen?" "Fangen, oder Verstecken..." Schon hatte Sean ihm die Decke weggezogen. Patrick stand auf und warf sich seinen blauen Bademantel über. "Darf ich noch einen Kaffee trinken?" "Geht das nicht auch später?" Der Junge konnte ganz schön nerven. Noch ganz verpennt rannte Patrick ihm durch das halbe Schloss hinterher, bis Sean genug hatte. Dann wollte er Verstecken spielen. Patrick war schon so willenlos, dass er nachgab. Während er sich in einem Schrank versteckte, dachte er an seine Kindheit. Er hatte auch gern Verstecken gespielt, mit Angelo, Maite und ein paar Kindern, die er oft kaum kannte. Wenn sie unterwegs waren, waren immer viele Kinder in um sie herum gewesen. Es war eine wirklich schöne Zeit gewesen. Da wurde die Schranktür aufgerissen. "Paddy! Weinst du?" "Nein." Er wischte sich die Träne von der Wange und stand auf. "Sean, darf ich jetzt was essen? Mir hängt der Magen schon auf den Knien." Gnade!
Patrick holte sich seine Lieblingstasse, die ganz große, aus dem Küchenschrank. Zum Glück war noch Kaffee da, er konnte nämlich keinen kochen. Der wurde grundsätzlich zu stark oder zu schwach. Das bekam er stets zu spüren, da er den Kaffe schwarz trank. Er hatte sich gerade hingesetzt, als Joey den Raum betrat. Was um alles in der Welt macht der im Schloss? "Patrick, tust du mir einen Gefallen? Tanja und ich, wir sind beide unterwegs..." "...und ich soll auf Euern Nachwuchs aufpassen." Schon hatte er das Kind auf dem Schoß. Joey sah schon nicht mehr, wie Patrick die Augen verdrehte. Ja, er mochte Kinder und wollte auch selber einmal welche haben, wenn er die richtige Frau gefunden hatte, aber er hatte es satt, ständig den Babysitter spielen zu müssen. Alle anderen hatten immer etwas zu tun, so wurden der Job immer auf ihn abgewälzt. Selbst wenn er 'Damenbesuch' hatte war das schon der Fall gewesen.
Der Kaffe wurde kalt. Patrick war vollauf damit beschäftigt, seinen kleinen Neffen ruhigzuhalten, der hatte nämlich die Gabe, schnell loszubrüllen. Als der Kleine endlich einmal schlief, wusste Patrick aber nichts mit sich anzufangen. Er lief in sein Zimmer und kramte in seinem Kleiderschrank. Irgendwo am Boden musste doch diese Whiskeyflasche stehen... Er bekam diesen Whiskey oft von Fans geschenkt, da er "Paddy" hieß. Eine hatte er sich aufgehoben. Er nahm die Flasche mit ins Wohnzimmer und nahm unterwegs gleich die ersten Schlucke. Der Whiskey brannte im Hals und trieb ihm Tränen in die Augen, aber nach kurzer Zeit verbreitete sich vom Bauch aus ein wohliges, warmes Gefühl. Er hatte die Flasche schon halbleer, als das Kind aufwachte. Patrick alberte herum und machte wie immer den Clown. Der Alkohol stieg ihm zu Kopf und er vergaß alles andere.
Barby hatte sich über den Lärm gewundert und war ins Wohnzimmer gekommen. "Patrick! Was ist mit dir los?" "Nichts, ich hab' hier meine Aufgabe und fühle mich super." Er grinste breit von einem Ohr zum anderen. Barby sah die halbleere Whiskeyflasche. "Du hast doch nicht getrunken?" "Ach, das bißchen..." Ein bißchen? Dafür hatte er aber verdammt leuchtende Backen. "Patrick, du sollst doch nicht... ach, gib mir den Kleinen, ich kann das nicht verantworten. Du bist ein Idiot. Ein völlig durchgeknallter Idiot." Mit einem Mal war Patricks Grinsen verschwunden. Er war verwundert über seine Schwester. Sie war sehr launisch, aber eine derartige Äußerung hatte er nicht von ihr erwartet.
Er schnappte sich die Flasche und ging wieder in sein Zimmer. Sie hatte sich auch so sehr verändert, seine kleine Barby. Sogar sie hatte sich nun gegen ihn gestellt, gerade sie, wo sie doch am ehesten verstehen könnte, was in ihm vorgeht. Er lehnte den Kopf gegen eine Fensterscheibe. Der Nebel hatte sich mittlerweile verzogen. Plötzlich fühlte er sich zugleich fremd und eingeengt. Er wollte dieses Schloss eine Weile nicht mehr sehen, also rief er seine Schwester Patricia an, die eine Wohnung in der Stadt hatte. "Patricia, mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Kann ich bei dir schlafen?" Sie erlaubte es ihm. Er packte schnell das Nötigste zusammen, rief ein Taxi und fuhr nach Köln.
Vor der Wohnung schaute er sich verwundert um. Keine Menschenseele! Er fing wieder an zu grinsen, ging sogar um die nächste Ecke, sah aber niemanden. Dann brachte er seine Sporttasche hinauf. Eigentlich wollte er gleich wieder in die Stadt gehen, aber Patricia hielt ihn fest. "Patrick, bist du betrunken? Du riechst nach Whiskey..." "Ach, ich hab' nicht so viel getrunken." "Wehe dir du gehst in eine Kneipe! Dann kannst du schauen, wo du die Nacht verbringst!"
Aber das hatte er gar nicht vorgehabt. Er ging ein wenig am Rheinufer entlang, den Zopf hatte er hinten in den Pullover gesteckt. Niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Er fühlte sich toll und sang ein irisches Volkslied vor sich hin. Immer noch singend ging er Richtung Dom, schlug dann dort in den Hohen Weg ein und ging ein wenig shoppen. Er ging sogar in solche Läden, um die er sonst einen großen Bocgen machte. Heute aber war er "normal". Er sang und redete weiter vor sich hin, bis er hinter sich eine matte Stimme hörte. "Patrick?" Erschrocken fuhr er um und sah in ein Paar stahlblaue Augen. Er muss ziemlich komisch geschaut haben, denn das Mädchen begann zu lächeln. Aber ebenso schnell verschwand das Lachen wieder von ihrem Gesicht. "Patrick, geht's dir nicht gut?" "Warum?" fragte er, schon leicht verärgert. "Du benimmst dich wie... ich lass' dich gleich in Ruhe, aber du musst mir eins versprechen. Pass auf dich auf. Aber verdammt gut, ich will nicht, dass du so endest wie Barby. Wenn du mich nicht verstehst - bitte. Tut mir leid." Damit drehte sie sich um und verschwand. Patrick war noch zu verdutzt um etwas zu antworten. Wie hatte sie das gemeint, er solle auf sich aufpassen? Er brachte die Sachen, die er sich ausgesucht hatte, zur Kasse, zahlte und ging zur Wohnung seiner Schwester.
Patricia hing am Telefon, als er die Wohnung betrat. Sie schaute ihn verwundert an, seine gute Laune war spurlos verschwunden. Sie entdeckte auf seiner Stirn diese Falte, die er immer hatte, wenn er viel nachdachte. Patricia gab ihrem kleinen Bruder ein Zeichen, sie käme gleich und wimmelte den Anrufer schnell ab. Patrick hatte sich auf ein Sofa gesetzt. "Was ist los? Wenn du reden willst, ich bin in der Küche. Ich habe Kekse gebacken." Das war es also, was so geduftet hat. Nach kurzer Zeit folgte er ihr. Sie überzog gerade das Gebäck zur Hälfte mit geschmolzener Kuvertüre. Patrick schnappte sich einen Keks, der noch ohne Schokolade war und stopfte ihn sich in den Mund. Erst da merkte er, dass er im Prinzip noch nichts gegessen hatte. Deshalb begann er, sich ein Brot zu machen. Er sprach aber kein Wort. Patricia kannte dieses Verhalten, es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihr erzählen würde, was ihn bedrückt.
"Patricia, ich halte das nicht mehr aus. Ich kann einfach nicht mehr, es kotzt mich alles so dermaßen an..." Eine Weile Schweigen. "Patrick, was ist mit der Couch? Du weißt doch, irgendwie kann man das kompensieren." "Soll ich jetzt auch auf Autos losgehen?" "So meine ich das nicht. Sonst hat dir doch die Musik gereicht." "Das Maß ist voll." "Sag doch sowas nicht. Morgen sieht die Welt wieder anders aus." "Patty, eben, in der Stadt... da war so ein Mädchen... plötzlich war sie da und meinte, ich solle auf mich aufpassen, dass ich nicht so ende wie Barby... verstehst du, wenn das so weitergeht, werde ich noch verrückt. Wenn ich's nicht schon längst bin." Er fing an zu weinen. Patricia nahm ihren Bruder in die Arme. Er weinte wie ein kleines Kind, er weinte lange, bis er nur noch zitterte und stockend atmete. Sie brachte ihn zum Sofa, kochte ihm einen Tee und gab Baldriantropfen hinein.
Als Patrick aufwachte, taten ihm vom Weinen die Augen weh. Es war halb sechs. Er hatte einen Entschluss gefasst. Bevor er ging, schrieb er einen Zettel, er sei rechtzeitig zurück. Mit einem Taxi fuhr er ins Schloss. Während er hastig ein paar Klamotten in eine Tasche warf, telefonierte er mit einer Dame am Flughafen. Er könne um acht über Frankfurt nach Dublin fliegen. Er drehte sich nicht um, als er das Gelände verließ.
Zu der Jahreszeit waren nur Geschäftsleute auf den Flughäfen. Patrick war erleichtert, als er im Flugzeug saß. Es war eine kleine Maschine und trotz der kurzen Flugzeit gab es ein kleines Frühstück. Eigentlich hasste er dieses Essen, aber diesmal schmeckte es wunderbar nach Freiheit. Die Maschine, die ihn nach Dublin brachte, war nicht viel größer.
Als er in Dublin aus dem Flugzeug stieg, wollte er sich am liebsten auf die Knie werfen und den Boden küssen. Im Flughafengebäude hatte er schon wieder sein breites Grinsen auf dem Gesicht. Er fühlte sich frei. Nein, jetzt warer frei. Zunächst machte er sich keine Gedanken über das Wohin. Er fuhr mit dem Bus in die Dubliner Innenstadt und ging dort erstmal in das nächste Pub. Es war sehr schön, echt urig und mit vielen Bildern und Zeitungsausschnitten an den Wänden. Patrick hätte den ganzen Tag dort verbringen können. Ein alter Mann saß am Tisch neben ihm und erzählte einem nicht viel jüngeren von seiner verstorbenen Frau. Patrick schmunzelte und stellte sich gerade vor, wie sein Vater einem Mann gleichen Alters von Barbara Ann erzählen würde, als eine Frau um die 50 zu ihm kam und ihn nach seiner Bestellung fragte. Guinness, was sonst. Er musste nicht lange warten, da um die Uhrzeit noch nicht viel los war. Er genoss jeden einzelnen Schluck. Dann wollte er zahlen und fragte die Frau nach einer Pension in der Nähe. Sie erzählte ihm sofort von ihrer Freundin, die geradezu um die Ecke eine besäße, die sie mit ihrem Sohn Patrick führen würde. Patrick musste wieder grinsen. Die Frau fragte ihn nach seinem Namen, damit sie 'drüben' anrufen könnte, damit er ein besonders schönes Zimmer bekäme. "Patrick. Patrick Kelly." Das war das Stichwort für die Frau, sie begann, von der St Patrick's Cathedral zu erzählen. Das war eine der besten irischen Eigenschaften. Die Menschen sind offen. Patrick hatte das in Deutschland oft vermisst. Er trank ein zweites Guinness und machte sich dann auf den Weg. Na ja, um die Ecke war etwas übertrieben, aber die Frau hatte wohl schon angerufen, da Patrick richtiggehend empfangen wurde. Er bekam ein wirklich schönes Zimmer im zweiten Stock. Lange blieb er nicht dort, es zog ihn in die Stadt. Zunächst lief er einfach so durch die Straßen, dann ging er zur Christ Church Cathedral. Aber schnell hatte er die Schnauze voll von Kultur und ging sich eine Tweedjacke, einen Pullover und Schuhe kaufen, einfach so, weil er unbedingt irische Kleidung tragen wollte. Ehe er sich versah, fing es schon an zu dämmern. Aber Patrick war so aufgekratzt und erlebnishungrig, dass er kurz in der Pension Essen ging und dann in das Pub zurück, in dem er schon mittags gewesen war. Schließlich musste er sich noch bei der Frau für den Tip bedanken. Hui, nun war dort echt die Hölle los. Ein paar Männer spielten Musik auf einer kleinen Empore. Die Besucher waren größtenteils männlich, aber das war Patrick egal, er war ja nicht auf Brautschau. Er fand einen Platz an einem Tisch in einer Ecke. Die drei Männer, die dort saßen, waren nicht viel älter als er. Patrick kam bald mit ihnen ins Gespräch. Sie waren alle Musiker, das gab schon genügend Gesprächsstoff. Es dauerte eine Weile, bis ein Mädchen mit weißer, langer Schürze an den Tisch kam, lachend die leeren Gläser auf ihr Tablett stellte und nach neuen Wünschen fragte. Einer der Jungs, Tom, meinte "I want you", worauf alle in schallendes Gelächter ausbrachen. Ben, der rechts neben Patrick saß, erklärte ihm, dass Tom hinter ihr her sei, seit sie in diesem Pub bediente. Erst da schaute er sie richtig an. Sie hatte braune Augen und ein paar Sommersprossen. Als sie sich in die Augen sahen, bemerkte er, wie sie die Stirn in Falten legte und das Lächeln kurz aus ihrem Gesicht verschwand. Doch es kehrte schnell zurück. Patrick konnte den Blick nicht mehr von ihr abwenden, er hatte sich in diese Augen verguckt. Er bestellte sein Guinness und schaute ihr hinterher. "She's nice, ain't she?" riss ihn Tom aus seinen Gedanken. So kamen sie zum Thema Frauen. Ben war verlobt und durfte nur donnerstags in Pubs gehen, darüber machten sich die anderen zwei lustig. Tom war wie gesagt hinter der Bedienung her und der dritte, Anthony, hatte seit zwei Jahren eine Freundin, die aber zu dem Zeitpunkt bei ihrer Familie in Limerick war. Ant hasste Limerick, sonst hätte er sie begleitet. Er hatte es vermeiden wollen, aber jetzt musste er von sich erzählen. Er meinte kurz, er lebe eigentlich in Deutschland, hätte aber davon die Schnauze voll. Und da er keine Freundin hatte, die ihn dort gehalten hätte, hatte er sich also auf den Weg gemacht. Tom wurde bei dem Wort "Germany" hellhörig und wollte etwas darüber wissen. Patrick wunderte sich nicht. Also erzählte er etwas von den eigenartigen Deutschen, sah sich dabei immer wieder nach der Bedienung um. Wie er später von Tom erfuhr, hieß sie Leena. Oder ließ sich zumindest so nennen.
Ben und Ant gingen kurz vor elf. Das Pub hatte sich schon merklich geleert. Patrick war nicht mehr ganz alleine und verstand sich gut mit Tom. Als der aber auch gehen musste, da er noch bei seinen Eltern lebte, hatte Patrick aber gerade noch sein Glas zu drei vierteln voll. Also saß er alleine an dem Tisch in der Ecke. Eigentlich langweilig, so alleine, aber kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, stand Leena an seiner Seite.
"Patrick, darf ich mich kurz setzen?" Er hätte sich verschluckt, wenn er etwas im Mund gehabt hätte. Sie hatte deutsch geredet! "Bitte." "Ich hab' schon länger kein deutsch mehr geredet..." "Bist du denn aus Deutschland? Ich hab' nämlich vorhin schon gedacht, dass du irgendeinen ausländischen äh Akzent hast." "Ja, bin ich." "Dann weißt du, wer ich bin. Vielmehr zu wem ich gemacht wurde." "Ja. Deshalb muss ich ja mit dir reden. Was machst du hier?" "Urlaub. Ich hab's da einfach nicht mehr ausgehalten." "Kann ich verstehen. Deutschland ist ein Scheiß-Land, ne? Aber... deine Familie...?" "Ach, die brauchen mich grade nicht, und zu den Konzerten bin ich rechtzeitig zurück." "Wie lange bist du schon hier?" "Seit heute, du?" "Zwei Monate. Das heißt, zuerst bin ich quer durch Irland gereist und jetzt konzentriere ich mich auf Dublin, hier gibt es so verdammt viel zu sehen... das ist einfach der Wahnsinn." Leena hatte eigentlich Feierabend, daher dehnte sich die Unterhaltung mächtig aus. So richtig tiefgründig wurde sie natürlich nicht, aber Patrick hatte das Gefühl, dass sie ihm mehr geben konnte. Sie verstanden sich wirklich auf Anhieb. Als das Pub geschlossen wurde, machte Leena noch ihre Abrechnung. Patrick wartete draußen auf sie. Sie wusste davon nichts und war völlig überrascht. Patrick wollte sie nach Hause begleiten, weil er es nicht verantworten konnte, ein junges Mädchen um die Uhrzeit alleine durch Dublin laufen zu lassen. Dabei stellte sich heraus, dass sie in der gleichen Pension wohnte wie er, zwar in einem viel kleineren, billigeren Zimmer als er, aber lachen mussten sie schon über den Zufall. Sie erzählte ihm von ihren zwei Jobs: zum einen arbeitete sie vier abende in dem Pub und am Wochenende "weil da bei den Sehenswürdigkeiten eh mehr viel los ist" in der Pension als Zimmermädchen.
Beim Frühstück trafen sie sich wieder. Weil Patrick eigentlich noch nichts geplant hatte, schloß er sich ihr an, und sie gingen in die National Gallery. Wie sich schnell herausstellte, hatte sie den gleichen Kunstgechmack wie er. Als sie genug gesehen hatten, gingen sie zu Fuß zu St Stephen's Green. Patrick legte sich auf der nächstbesten Wiese sofort auf den Rücken ins Gras und schloß die Augen. Leena setzte sich neben ihn und sie redeten weiter über Gott und die Welt. Patrick konnte aber machen, was er wollte, sie wollte nichts über ihre Vergangenheit oder ihre Herkunft erzählen. Wenn er direkt fragte, dagte sie, sie hätte damit abgeschlossen, und wenn er über Umwege darauf kam, wich sie aus.
Patrick und Leena verbrachten ein paar schöne Wochen im herbstlichen Irland. Und - wie konnte es anders sein - es kam, was kommen musste: sie verliebten sich ineinander. Zusammen unternahmen sie viele Tagesausflüge in die nähere Umgebung Dublins. Es war alles so friedlich und entspannt. Patrick hatte schnell seine Sorgen vergessen, die ihn in Deutschland immer plagten. Hier konnte er frei sein, hier musste er nicht hinter jeder Ecke einen Fotoapparat befürchten. Beide wussten, dass es nicht ewig so sein konnte, deshalb war jeder Tag etwas Besonderes.
Und dann kam der Tag, an dem Leena zurück nach Deutschland fliegen musste, weil sie vor Beginn ihres Praktikums noch eine Wohnung suchen musste. Patrick hatte aber noch ein paar Wochen vor dem nächsten Konzert, die er nicht wieder 'in Gefangenschaft' verbringen wollte. Seine Freiheit war ihm in diesem Moment wichtiger als die Liebe, und Leena kannte ihn mittlerweile gut genug, um das zu verstehen. Am Flughafen verabschiedeten sie sich mit den Worten, sie würden sich ja bald wiedersehen, aber Patrick hatte kurz vor seiner überstürzten Abreise einen neue Handynummer beantragt und kannte diese natürlich noch nicht.
Patrick verließ Dublin am selben Tag, verbrachte ein paar Tage in Limerick, aber da waren ihm zu viele Fabriken und er fuhr etwas weiter aufs Land. Nach einer Woche fuhr er weiter nach Cork und buchte einen Flug über London nach Köln-Bonn für den darauffolgenden Dienstag.
Als er im Flugzeug saß, jenes auf die Startbahn rollte und zum Abflug startete, schaute Patrick lange aus dem Fenster. So lange, bis zwischen ihm und Irland nur noch Wolken zu sehen waren.


Written in May 2000


© Jule