Die Liebe des Lebens

by Jihong   jihong.lin@web.de

 

Ich erinnere mich noch genau. Es war im Jahre 1993. Ich war damals mit meinen 15 Jahren noch fast ein Kind. Es war einer der schönsten Frühlingsmonate, die man sich so vorstellen kann und es sollte eigentlich die große Liebe meines Lebens werden, wenn es da nicht noch ein kleines oder größeres Problem gab...

Ich stieg verschlafen aus unserem Doppeldecker. Im Gegensatz zu dem Wetter, was sonst im März ist, war es schon ziemlich warm. Ich schaute mich auf dem Parkplatz um, auf dem wir die Nacht über geparkt hatten. Wir wollten also in dieser Stadt ein paar Wochen spielen. Herzlich gähnte ich.
Mit einem lauten Schrei stürzte sich jemand von hinten auf mich und riss mich zu Boden. Ich blickte auf und starrte geradewegs in das grinsende Gesicht von Angelo. "Du Bengel!", rief ich und rannte ihm quer über dem Parkplatz hinterher. Er hatte genau das erreicht, was er wollte. Der damals 11-Jährige liebte es, wenn er rennen konnte wie ein Verrückter. Am liebsten war es ihm natürlich, wenn ich auch wie ein Verrückter hinter ihm her war.
"Paaaddyyy!!!", Kathy schrie mal wieder nach mir, "hab ich dir nicht gesagt, dass du beim Bühnenaufbau mithelfen sollst? Was treibst du schon wieder? Du hast echt was besseres zu tun als wie ein Bekloppter rumzurennen! Deine Brüder können deine Hilfe gut gebrauchen! Jetzt komm endlich!!!" "Ja... ist ja schon gut!", genervt lief ich in die Richtung, wo meine Brüder verschwunden waren.
Ich habe es immer gehasst, wenn ich herumgescheucht wurde. Aber da ich ja der dritt Jüngste war und immer noch bin, war es keine Seltenheit, wenn es hieß "Paddy hier, Paddy da und Paddy dort", besser gesagt, "Paddy überall"

Widerwillig schlenderte ich also den Weg zum Marktplatz entlang. "Ha, ha, du lahme Ente! Ich bin viel schneller als du!", Angelo rannte an mir vorbei. Ich fragte mich immer, wie er es schaffte, so viel Energie aufzubringen. Weil ich nichts besseres zu tun hatte, rannte ich ihm einfach hinterher.
Als ich auf dem Marktplatz ankam, sortierten Joey und John gerade Boxen, Scheinwerfer und andere Sachen für den Bühnenaufbau . Jimmy war schwer beschäftig ein Mädchen für sich zu beschlagnahmen. Anscheinend gelang es ihm auch ganz gut. Maite und Barby redeten mit ein paar Jugendlichen. Die beiden schlossen immer sehr schnell Freundschaft mit den "Einheimischen" der Städte, in denen wir auftraten. Angelo gesellte sich zu denen.
Ich wäre nur zu gerne mal hingegangen, aber John rief mir schon zu, ich solle ihm mal beim Tragen helfen. Da ich immer ein guter Junge war, half ich ihm ohne Murren. Erst als die komplette Bühne fertig war, ließ er mich gehen. Ich hoffte, dass ich jetzt auf Angelo, Maite, Barby und die anderen Jugendlichen stoßen würde, aber ich konnte sie nirgends ausfindig machen.
Also schlenderte ich wieder zum Bus, schnappte mir meine geliebte Gitarre und probte wieder neue Melodien. Schon damals hatte ich meine Vorliebe für Gitarren gefunden. Aber diese Liebe war damals noch nicht so stark wie heute, schließlich war ich in der schwierigsten Phase meines Lebens. Da gab es noch andere Probleme mit Familie, Freunde und mit mir selbst.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann stand Patricia vor mir und meinte, ich solle gefälligst meinen Arsch bewegen. Schließlich würden wir bald unser erstes Konzert in dieser Stadt geben, dessen Name ich jetzt mit der Zeit vergessen habe. Ich weiß nur noch, dass diese Stadt irgendwo in mitten von Deutschland lag. Es war eine schöne, romantische Stadt, aber irgendwie war sie doch ziemlich neumodisch. Zumindest hat sie mir gut gefallen, obwohl sie nicht sehr groß war.
Ich legte meine Gitarre beiseite und suchte mir was zum anziehen raus. In der Eile konnte ich meine Klamoten nicht finden, weil ich als Teenager ziemlich schlampig und unordentlich war. Also war ich gezwungen etwas von Barby anzuziehen.
Sie war damals die einzige, mit der ich meine Klamotten teilen konnte. Das tat ich aber nicht oft, weil sie als Mädchen ja andere Sachen trug als ich. Aber da ich damals wirklich sehr dünn war, konnte ich keine Sachen von meinen größeren Brüdern anziehen, weil ich sonst aussah wie ein Depp. Angelos Sachen waren mir zu klein und Maites Sachen waren mir in der Breite zu groß, also war das nächstbeste Barby.
Ich suchte mir eine blaue Hose heraus und eine Bluse. Als ich meine Haare bürstete, verarschte mich Patricia und meinte: "Paddy, ich sag ja nichts, aber ich glaube dich hätten wir auch Patricia nennen sollen! Du siehst echt aus wie ein Mädchen!" "Sehr witzig!", ich war beleidigt, obwohl ich wusste, dass das stimmte, was sie sagte, "Die werden mich schon nicht für ein Mädchen halten!"

Wir beeilten uns dann, um pünklich zum Konzert zu erscheinen. Als ich so vor meinen Geschwistern stand, brach ein Lachanfall unter ihnen aus. Jimmy meinte grinsend: "Darf ich vorstellen? Unsere Schwester Michelle Patricia Kelly!" Die anderen bogen sich vor Lachen und ich wurde rot wie eine Tomate.

Auf der Bühne lief alles glatt und bald vergaß ich, dass ich Barbys Klamotten trug. Nach dem Konzert schleppten mich Maite und Barby zu den Jungs und Mädels, die sie mitags kennengelernt hatten.
Bevor mich irgendjemand vorstellen konnte, meinte ein Mädchen mit gestuften, dunkelblonden Haaren und hellbraunen Augen: "Hi, ich bin Ruth und bin 14. Du hast toll gesungen! Du bist Patty, oder?" Ich wunderte mich damals, warum sie "Patty" statt "Paddy" sagte, aber ich dachte, sie hätte nur einen Sprachfehler oder sie würde "Paddy" immer so aussprechen. "Ja, ich bin Paddy."
Nun stellten sich die anderen auch vor. Da war ein Mädchen mit knapp schulterlangen, braunen Haaren und dunkelbraunen Augen, das Laura hieß und 15 war. Sie war mit einem 16-jährigen Jungen zusammen, der sich als Chris vorstellte. Er hatte dunkelbraune Haare und dunkelblaue Augen. Es gab noch einen anderen Jungen mit blonden, gegelten Haaren und hellblauen Augen, der Julian hieß und 15 war. Außerdem war da noch ein Mädchen mit längeren, dunkelbraun bis schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen. Sie hieß Toni (Antonia), war 14 und verstand sich sehr gut mit Maite.
Wir unterhielten uns und ich bemerkte, dass sie mich alle Patty nannten. Ich hatte aber keine, Idee warum. Das sollte der Anfang einer Katastrofe werden, die erst nach und nach ihren Anlauf nahm und in einem völligen Chaos endete!

Später saß ich dann mit Maite und Barby in unserem Doppeldecker. "Und, Paddy, wie fandest du die?", Maite schaute mich erwartungsvoll an. "Ich fand die total nett! Ihr habt immer Glück, wenn es darum geht, neue Freunde zu finden!" "Tja", Barby lächelte, "Aber hast du nicht gemerkt, dass sie dich Patty genannt haben?" "Doch schon, aber warum? Können die Leute hier Paddy nicht aussprechen?"
Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht geschnallt, was da abging. Ich war halt nicht immer ein helles Köpfchen! Meine zwei Schwestern fingen an zu kichern. "Naja", meinte Maite dann, "Die denken alle, du wärst ein Mädchen. Wir haben heute Nachmittag, als wir die kennengelernt haben, zwar alle Namen von unseren Geschwistern auf gezählt, aber immer nur so: Angelo ist 11, Paddy ist 15 usw. Wahrscheinlich haben die gedacht, du würdest Patricia heißen. Deshalb nennen die dich Patty."
Wieder fingen die zwei an zu lachen. Ich fand das allerdings nicht sehr lustig, aber ich dachte mir, wenn die mich schon für ein Mädchen halten, dann sollten sie das doch tun! Dann bin ich eben ein Mädchen. Damals konnte ich ja noch nicht wissen, was alles auf mich zukommen sollte.

Am nächsten Tag trafen Maite und ich uns mit unseren neuen Freunden. Barby konnte nicht mitkommen, weil sie Kathy bei irgendwas helfen sollte. Aber sie hatte mir vorher bei der Kleiderwahl geholfen. Außerdem hatte mich Maite noch ein bisschen geschminkt. Ich sah echt aus wie ein Mädchen.
Wir trafen uns also mit den anderen. Laura und Chris gingen Hand in Hand, Toni hakte sich bei Maite unter und Ruth beim Julian. Da ich ganz ein "Mädchen" war, hakte ich mich ebenfalls beim Julian unter. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgenwie nervös oder so war. Ich hatte überhaupt keine Angst, dass jemand merken könnte, ich wäre in Wirklichkeit ein Junge. Es war irgendwie so selbstverständlich gewesen, dass ich mich so benahm wie ein Mädchen.
Zuerst gingen wir ziellos durch die Stadt. Irgendwann meinte Laura: "Leute, wollen wir nicht ins Kino gehen? Mir ist so langweilig! Und außerdem laufen hier keine hübschen Jungs rum!" "Also, Laura! Wozu hast du mich?", Chris gab ihr einen Kuss. Wir beschlossen dann ins Kino zu gehen. Ich weiß jetzt nicht mehr was für ein Film das war, aber das ist auch unwichtig!
Auf jeden Fall saßen wir in dieser Reihenfolge: Ruth, Maite, Toni, Julian, ich, Chris und Laura. Während Chris und Laura mit Küssen beschäftigt waren, steckten Toni, Ruth und Maite die Köpfe zusammen. Ich konzentrierte mich auf den Film. Irgendwann spürte ich dann Julians Hand auf meinem linken Oberschenkel. Kurze Zeit später spürte ich auch noch Chris´ Hand auf meinem rechten Oberschenkel. Plötzlich wurde ich nervös.
Später erfuhr ich dann, dass Chris´seine Freundin jede Woche wechselte wie Unterhosen. Aber ich bekam in dem Moment im Kino Schuldgefühle, ich könnte die Beziehung zwischen Chris und Laura zerstören. Außerdem wurde es mir doch mulmig zumute, wenn ich daran dachte, dass ich doch eigentlich ein Junge bin. Normalerweiße schämte ich mich für Zärtlichkeiten unter Jungen. So schämte ich mich auch da.
Dann tasteten beide weiter. Dann trafen sich die Hände von den beiden und sie sahen sich ins Gesicht. Ich habe bis heute diesen kalten Blick von den beiden nicht vergessen! Die beide blieben bis zum Schluss des Filmes ruhig sitzen, ohne einen Ton von sich zu geben, während ich nur hoffte, dass der Film bald zu Ende sein würde.

Von der Minute an nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein paar Wochen später lief eine Party bei Laura. Dort bekam ich eine Liebeserklärung vom Julian. Ich habe damals gedacht, ich würde sterben. Er hat mir dann einen Kuss auf die Backe gedrückt. Dann ist er kurz weg gegangen, weil gerade ein Anruf für ihn kam. Da kam Chris auf mich zu. Er zog mich an sich und gab mir einen langen Kuss auf den Mund. Wenn ich heute daran zurückdenke, spüre ich immer noch mein Herz wie verrückt rasen.
Dann ging alles ganz schnell. Julian und Laura kamen gerade. Und da fingen die beiden Jungs auch schon an sich zu schlagen. Laura lief dann heulend zu Ruth und Toni, während mich Maite vorsichtig in den Arm nahm. Die anderen Gäste schauten sich verwundert um. Barby kam dann auch und wir beschlossen die Party zu verlassen.
Das war echt zu viel für mich! Den ganzen Abend habe ich da geheult. Ich glaube nicht, dass ich irgendwann mal mehr geheult hätte. Ich konnte es einfach nicht verdauen, was da passiert war. Ich habe geheult, bis meine Augen weh taten und ich nicht mehr klar denken konnte.
Maite und Barby erzählten den anderen von der Familie, was passiert war. Dann weiß ich nur noch, dass ich aufstehen und mich ins Bett legen wollte. Aber irgendwie muss ich da zusammengebrochen sein.
Das nächste, an das ich mich erinnere, war Jimmy Gesicht. Ich war da noch völlig benommen und wollte mich aufrichten, aber ich war zu schwach, um auch nur einen Arm zu heben. Ich schaute mich um und bemerkte, dass ich im Krankenhaus war. Meine 8 Geschwister saßen bei mir und Patricia erklärte mir, dass ich Beruhigungsmittel bekommen hätte, weil ich einen Nervenzusammenbruch hatte und dann ohnmächtig umgefallen war.
Ich musste dann ein paar Tage im Krankenhaus verbringen. In der Zeit konnte ich alles noch mal durchgehen, was ich erlebt habe. Ich kam zu dem Entschluss, dass es scheiße war, mich als Mädchen auszugeben. Ich merkte nämlich, dass ich Toni sehr liebte. Damals konnte ich meine Gefühle nicht so gut wahrnehmen, aber ich war mir sicher, dass Toni mir sehr viel bedeutete.

Nach ein paar Tagen ging es mir schon wieder viel besser. An einem Tag bin ich dann auf´s Klo gegangen. Als ich dann raus kam, traf mich der Schlag. Ich stand vor der ganzen Clique. Alle hatte gesehen, dass ich aus dem Männerklo kam. Ich lächelte schüchtern und meinte: "Ich glaube, wir müssen mal reden!"
Wir gingen alle in mein Zimmer und dort legte ich mich wieder ins Bett. Die fünf kamen näher, anscheinend immer noch ziemlich benommen. Ich erklärte ihnen, dass ich eigentlich ein Junge bin und Patrick heiße. Zuerst traute sich niemand was zu sagen, aber dann besprachen wir das ganze noch mal und es war so ziemlich okay. Bald durfte ich dann auch das Krankenhaus verlassen.

Da Maite mit Toni sehr gut befreundet war, besuchte sie uns eines Tages ohne der Clique. Als sie dann kurz allein saß, weil Maite kurz raus gegangen ist, sprach ich sie an. Ich gestand ihr, wie sehr ich sie liebte. Sie erzählte mir dann, dass sie vom Anfang an wusste, dass ich ein Junge wär, weil Maite es ihr schon erzählt hatte. Sie fand mich schon die ganze Zeit süß und war heimlich in mich verknallt.
Wir kamen dann zusammen. Aber bald wurde unser Glück getrennt. Denn nur eine Woche später zogen wir wieder weiter von Stadt zu Stadt, weil wir nicht lange an einer Stelle bleiben wollten.
Ich habe dann wochenlang wegen ihr getrauert. Da ist es mir echt bewusst geworden, dass das mit dem Mädchen-Sein nur bullshit war! Wenn ich damals schon gleich ehrlich gewesen wäre, dann hätten wir noch eine längere Zeit für uns gehabt. Wenn ich jetzt so zurückdenke, merke ich, wie kindisch und blöd ich war. Aber daran kann ich nichts mehr ändern.
Aber eines weiß ich jetzt mit Sicherheit: Ich werde mich nie, aber wirklich nie wieder als Mädchen ausgeben! Wegen dieser blöden Sache, habe ich die Liebe meines Lebens verpasst. Ich war danach nie wieder so sehr verknallt wie damals!

Aber ich warte auf meine zweite Chance, nämlich immer noch auf die Liebe meines Lebens!


© Jihong