Nachts auf dem Busdach
(Winter 1992)
"Paddy. Paddy, warte!" Barby stemmte sich ächzend hoch und griff mit beiden Händen nach dem Geländer. Ihre Stiefel rutschten fast von dem Busfensterbrett ab, auf dem sie stand. "Paddy, so hilf‘ mir doch! Es ist so dunkel!"
Paddy brach in helles Lachen aus, als er sah, wie sehr seine Schwester sich abmühte. Typisch Frauen, mit Röcken ließ es sich eben nicht so gut klettern. Doch als er sah, dass Barby wirklich nicht gut klarkam, reichte er ihr seine Hand und zog sie auf das Busdach. Staunend starrte Barby hinauf an den schwarzen Himmel, der mit Sternen übersäht war. "Und das ist das Wunderbare, was du mir zeigen wolltest?" "Ja, das ist es. Wie gefällt es dir?"
Barby stand immer noch mit offenem Mund da. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst, der Wind spielte damit. "Es ist wunderschön, Paddy, es ist wirklich wunderschön!" Paddy nickte. "Ich sitze hier oft nachts... und sehe mir den Sternenhimmel an. Es ist so beruhigend. Weißt du, die täglichen Konzerte sind ja sehr schön, aber manchmal brauche ich einfach ein wenig Ruhe und nicht immer neun oder zehn Leute um mich herum."
"Seit wann machst du das schon?" "Am Abend, als Kathy ihr Kind bekommen hat und wir nach dem Feiern alle total erschöpft waren, bin ich das erste Mal hier hinaufgestiegen. Es war so still hier, und ich bin einfach dagesessen und habe angefangen zu singen. Es war ganz leicht, es war niemand dabei, ich habe einfach nur für mich gesungen. Sag‘ mal Barby, was glaubst du, wird später einmal mit uns Kellys sein?"
Barby zögerte und trat unruhig von einer Seite auf die andere. Die Höhe war ihr noch nicht so ganz geheuer. "Wie meinst du das, Paddy?" "Na ja, wie wir in zwei oder drei Jahren leben werden. Immer noch in diesem Bus? Ob wir immer noch alle zusammen singen werden und genug Zeit für unsere Freunde haben werden? Ob wir immer noch so unbeschwert und glücklich sein werden? Was meinst du?"
"Ich... ich weiß nicht so recht. Hast du dir denn darüber schon Gedanken gemacht?" "Ja." Paddys Augen glitzerten mit einem Mal. Er sah Barby nicht an, als er weiterredete. "Ich glaube, dass unser Leben ganz anders aussehen wird als jetzt. Wir werden berühmt sein, richtig berühmt! Wir werden Stars sein, Barby, so wie Bruce Springsteen und Bon Jovi!"
Aufgeregt tänzelte er auf dem Dach hin und her und begann, sich im Kreis zu drehen. "Wir werden die größten Hallen der Welt füllen, wir werden Geld haben ohne Ende, wir werden mehr Fans haben als jemals zuvor, und wir werden singen, singen, singen! Wir werden wie diese Sterne da oben sein, alle werden zu uns aufsehen! Sie werden uns mit Liebe ÜBERSCHÜTTEN!" Immer schneller drehte er sich, immer schneller...
"Paddy, beruhig‘ dich wieder!" rief Barby besorgt. "Setz‘ dich hin, sonst fliegst du noch runter!" Paddy keuchte vor Anstrengung. Mit einem glücklichen Gesichtsausdruck ließ er sich neben Barby fallen und nahm ihre Hand. "Ich weiß es, Barby, ich weiß es einfach! Es wird alles so werden, wie ich es dir heute nacht gesagt habe!"
"Ich glaube es dir ja, Paddy," erwiderte Barby zerstreut. Ihr Bruder kam ihr plötzlich so fremd vor. Und seine Zukunftsvisionen, so toll er sie auch verdeutlichte, waren ihr unheimlich. "Aber es ist doch gut, wie es ist. Glaubst du denn wirklich, so wird es besser werden?" "Es wird besser werden. Glaub‘ mir Barby, es wird besser werden!"
Barby schwieg. Zweifelnd sah sie zu den Sternen hinauf. Ob nicht auch diese sich manchmal wünschten, nicht jede Nacht scheinen zu müssen? Sie sah Paddys strahlendes Gesicht und fühlte sich innerlich auf einmal ganz kalt. Er redete von Ruhe, und da wollte er berühmt werden? Street Life sollte nicht enden.
Und wieder hörte sie Paddys zufriedene Stimme: "Wir werden berühmt werden, Barby, ich weiß es, ich weiß es einfach."
©by Doro