Rock 'n' Roll Ballerina
... Impressions about Barby
(1992)
"Wie fühlst du dich, Barbarina?" fragte Patricia.
Sie hätte die Frage nicht stellen müssen. Barbys Gesicht war ein einziges großes Strahlen. Nicht nur wegen des Namens. Patricia wusste recht gut, wie Barby sich fühlte. Glücklich. Glücklich. Glücklich. Das heutige Konzert in Berlin war sehr schön gewesen. Barby hatte getanzt wie noch nie. Der rote Rock war in die Luft geflogen, und zeitweise hatte Tricia nichts anderes mehr gesehen als die strampelnden Beine ihrer Schwester. Und auch jetzt, zwei Stunden nach dem Konzert, glänzten Barbys Wangen noch immer rot und ihre Augen strahlten. Dieser Tag sollte nie zuende gehen.
"Na rate mal..." sagte sie.
"Ich tippe auf glücklich," sagte Patricia und dachte wieder an die über die Bühne tanzende Barby. Dieses Bild war so schön, sie wollte es festhalten, obwohl sie wusste, dass es noch viele solche Tage im Leben der Kellys geben würde. Tage mit einer glücklichen Barby. Tage mit einer tanzenden Barby. Tage mit einer singenden Barby. Egal ob Crazy oder Old McDonald had a farm, ganz egal. Everywhere a squeek-squeek.
"Da hast du Recht," sagte Barby und gluckste. Und ihr Gesicht war wieder ein ganz großes Strahlen. Sie nahm Patricias Hand und begann, mit ihrer verblüfften Schwester im Kreis zu tanzen. Es ging ihr einfach gut. Und Patricia war froh darüber. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Barby immer so bleiben würde. Sie war die Rock'n'Roll Ballerina der Familie.
(1993)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte John.
"Schscht, nicht stören!" zischte Barby. Die Sonne schien durch das Busfenster und sie hatte eine Gitarre auf ihrem Schoß liegen. Gedankenverloren klimperte sie ein neues Lied vor sich hin. "She is crazy, she is crazy..."
"Oh, du erfindest einen neuen Text zu Crazy," sagte John und nahm ungefragt neben ihr auf ihrem Bett Platz.
"Nein, das ist etwas Neues. Das geht viel tiefer." Mehr sagte Barby nicht zu ihrem neuen Lied. Sie schenkte John auch keine Beachtung mehr. Wieder spielte sie die ersten Akkorde und begann zu singen. "I know one thing, that the tru-hu-hu-huth..."
Mit Barbys Lied im Ohr drehte John sich zum Fenster und sah hinaus. Sie waren in Velbert. Fans standen vor dem Bus, Angelo sprach gerade mit ihnen. John seufzte ein wenig. Die Fans wurden immer mehr, die Botschaften an den Busfenstern häuften sich und viele, viele Leute wussten schon von ihrer Musik. Still schickte John ein Stoßgebet zum Himmel. Vielleicht würden sie jetzt bald berühmt werden. Vielleicht würde das Straßenleben jetzt ein Ende haben und sich in eine bessere, luxoriöse Zeit verwandeln. Er hatte den kalten Bus so satt oder dass Maite nur einmal pro Tag kochen konnte.
Wieder sah er nach draußen. Ein junges Mädchen schenkte Angelo gerade einen Teddybären. John schöpfte etwas Hoffnung.
"Bald haben wir den Durchbruch geschafft," sagte er.
Barby hörte ihm nicht zu. Ihre Augen fixierten nur ihre Gitarre. "You can't hurt her... you can't break her..." sang sie.
(1994)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Kathy.
Barby wischte sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel. "Na ja, wie wohl?" meinte sie mit zitternder Stimme, während Tricia ihr schnell ein Taschentuch reichte. "Es war ein wundervolles Konzert, ich habe getanzt und unser Vater war zum ersten Mal seit vier Jahren wieder auf der Bühne. Ich bin froh!" Sie begann wieder zu heulen und wurde von Kathy tröstend in die Arme genommen.
Sowohl Barby als auch Kathy wussten, dass dieser Abend eine Wende in ihrer Karriere bedeutete. Sie konnten es nur noch nicht richtig einordnen. Sie hatten die Dortmunder Westfalenhalle gefüllt, die Fans waren begeistert gewesen, einige waren sogar in Ohnmacht gefallen und waren ins Krankenhaus eingeliefert worden, wie Paddy ihnen erzählt hatte. Das bedeutete etwas. Vielleicht wurden sie ja jetzt wirklich Stars.
John schwenkte zwei Gläser vor ihren Gesichtern. "Na kommt mal, Barby, Kathy, nicht weinen! Lasst uns lieber einen Schluck Sekt trinken!" Getröstet griffen die beiden nach ihren Gläsern und ließen sich einschenken.
"Auf uns!" rief Vater Dan mit wackliger, aber doch stolzer Stimme. "Auf uns!" echoten Maite, Barby, Joey, Angelo, Kathy, John, Paddy und Tricia. Langsam führte Barby das Glas zum Mund und spürte das Prickeln auf ihrer Zunge. Es war wundervoll. Ihre Tränen waren versiegt.
"Wo ist eigentlich Jimmy?" fragte Kathy und schaukelte Sean. Paddy zuckte mit den Achseln. "Ich glaube, draußen sind noch Typen, die ein Interview mit ihm führen wollen."
Im selben Moment öffnete sich die Tür und Jimmy kam herein, gefolgt von einem jungen, gutaussehenden Typen. Noch bevor Jimmy ein Wort sagen konnte, polterte Vater Dan los : "Wo kommst du jetzt her, und was fällt dir ein, dich nicht abzumelden!"
"Jetzt lasst mich doch erst einmal etwas sagen!" rief Jimmy. Er klang ganz aufgeregt, und die Geschwister sahen ihn überrascht an. Nun, da er die Aufmerksamkeit von allen hatte, war Jimmy zufrieden. Er zeigte auf den Typen.
"Das ist Enrique, ein sehr bekannter Plattenproduzent! Er hat sich unser Konzert angesehen! Und er will mit uns eine Platte machen, er glaubt, wir könnten sehr berühmt werden!"
Enrique nickte zu Jimmys Worten. Die Kellys begannen aufgeregt zu tuscheln. Ein Plattenproduzent! Das war das Ziel! Auch Barby atmete tief durch. Eine neue Platte. Oh ja. Sie sah kurz zu diesem Enrique.
Und ihre Augen trafen sich.
Und plötzlich war das Ziel vergessen.
(1995)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Jimmy.
Barby verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln und zog ihren Rock nach unten. "Geht so," sagte sie. Sie fühlte sich unwohl in dem feinen Glitzerzeugs.
Es war Silvester, sie waren auf irgendeiner Plattenverleihung und vor wenigen Sekunden hatte das Jahr 1995 angefangen. Nachdenklich sah Barby aus dem Fenster in die Sterne. Was das neue Jahr wohl bringen würde? Ob es ähnlich hektisch werden würde wie das Ende von 1994 oder gar noch hektischer? Die letzten Monate waren der reinste Stress gewesen, seit ihr Album OVER THE HUMP und die von Paddy und Angelo gesungene Single An Angel ganz oben in den Charts standen, hetzten sie durch alle möglichen Talkshows, zu Interview- und Fototerminen, Preisverleihungen, Konzerten etc etc etc... Und überall waren die Fans.
Aber das war es doch, was sie sich immer gewünscht hatten.
Oder?
Inzwischen hatte jeder mit jedem angestoßen, das Feuerwerk war auch vorbei und die gesamte Kelly Family hatte sich unters Volk gemischt. Patricia fachsimpelte mit einem Bodyguard, Angelo lief mit Helge Schneider herum, Jimmy und Joey standen an der Bar und Maite machte einem Typen aus einer Boyband schöne Augen. Barby sah sich nach Paddy um, doch den fand sie gar nicht. Auch recht. Seit seinem Stimmbruch war der Kerl sowieso komisch.
"Ganz allein, Fräulein Kelly?" fragte plötzlich eine samtige Stimme dicht an ihrem Ohr.
Überrascht drehte Barby sich um. Das Blut schoss ihr in die Wangen. Das war ja der schöne Enrique!
Ein wenig verlegen musste Barby daran denken, wie Jimmy gelacht hatte, als er vor zwei Tagen in ihre Kabine im Hausboot geplatzt war und sie das Bild von Enrique nicht hatte rechtzeitig verstecken können.
Aber jetzt war Jimmy nicht da, und Enrique stand direkt vor ihr und lächelte sie freundlich an, während er ihr zuprostete. Barby ärgerte sich, dass sie rot geworden war, sie konnte es in ihrem Gesicht fühlen. Und ihr wurde noch heißer, als Enriques Blicke über ihre Figur wanderten. "Sie sind heute sehr schön angezogen."
Wie ganz von selbst fing Barby plötzlich an zu lächeln. Er hatte ihr ein Kompliment
gemacht!
Und das bedeutete einiges, wenn man bedachte, dass sie sich täglich im Studio sahen, aber fast noch kein privates Wort miteinander gewechselt hatten, auch wenn Barby oft versucht hatte, eine solche Situation herbeizuführen. Dass das bisher nicht geklappt hatte, lag an Enrique, aber Barby konnte es ihm nicht verdenken. Was sollte er auch von ihr halten? Er musste sich täglich mit neun Geschwistern beschäftigen, die alle doch irgendwie gleich aussahen, mit ihren langen Haaren und ihren Flatterkleidern.
Plötzlich fühlte Barby sich in ihrem Glitzerkleid geradezu wohl. Er hatte sie durch seinen Kommentar aus der Menge ihrer Geschwister herausgehoben und auf einen Sockel gestellt. Er nahm sie als Frau wahr, als attraktives, vielleicht sogar anmachendes Wesen.
Und wollte sie das?
Konnte sie damit umgehen?
Enrique gab ihr keine Zeit zum Nachdenken. Er trat näher und berührte mit seinem Glas beinahe zärtlich das ihre. "Prost," sagte er leise und warf ihr einen langen Blick zu.
"Prost," echote Barby und trank das ganze Glas in einem Zug leer.
(1996)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Paddy.
Barby strich sich das erhitzte Haar aus der Stirn. "Mir ist so heiß!" antwortete sie brummig. "Gib' mir mal ein Handy."
Paddy entfernte sich, leichtfüßig sprang er über die Klippen. Im Hintergrund schmetterten Kathy und Maite : "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt..." "Wenn bei Capri die rote Nonne im Teer versinkt..." stimmte Jimmy lachend ein, und Maite kicherte. Barby lachte nicht mit. Die Fotosession für das neue Album hatte sie total gestresst. Sie war in keiner guten Stimmung.
Paddy kam wieder herbeigeeilt und warf Barby das Handy zu. Fast hätte sie es nicht gefangen und es wäre über die Klippen geflogen. Barby fluchte.
Im Hintergrund hörte sie Joey sagen, er gehe Eis für alle holen. Barby hörte ihm nicht zu. Eilig tippte sie die eingespeicherte Nummer.
Kaum hatte sich jemand am anderen Ende gemeldet, redete Barby auch schon los.
"Ach Enrique, mir geht es so schlecht im Moment, ich möchte wieder nach Hause zu dir, hier ist es so heiß und die Reporter gehen mir auf die Nerven, ich möchte wieder nach Deutschland..." Mitten im Satz wurde ihr bewusst, dass sie in Deutschland schon von den Fans erwartet wurde. Aber zu denen wollte sie ja auch nicht. Sie wollte nur zu ihrem Freund.
"Ach Barby," lachte Enrique gemütlich am anderen Ende, "die paar Tage stehst du schon noch durch. Am Freitag kommt ihr ja schon wieder zurück nach Köln, und dann hole ich euch vom Flughafen ab. Okay? Dann hast du mich ja wieder, und ich habe dich auch wieder, ja, Liebling?" Seine Stimme klang zärtlich.
Barby schniefte getröstet. "Danke, Enrique. Ich... ich liebe dich."
"Barby, hier, dein Eis!" Joey hielt es ihr entgegen. "Ich bin am Telefon!" erwiderte sie mürrisch, denn Enrique fing gerade an : "Und ich..." "Aber dein Eis!" unterbrach Joey wieder. "Herrgott, so gib's halt her!" Ohne zu Joey zu sehen, griff Barby nach dem Eis. Sie griff allerdings ins Leere, und da Joey auch losgelassen hatte, fiel das Eis direkt auf ihren Rock und verschmierte ihn.
"Oh scheiße!" murmelte Joey, und da kam auch schon Kathy hnerbeigerannt und fluchte : "Der schöne Rock, und gleich geht die Fotosession weiter...!"
Barby war die schimpfende Kathy völlig egal. Alles was sie wollte war Enrique. Ohne auf Joey und Kathy zu achten, wandte sie sich wieder dem Handy zu. "Ja, Enrique?" Doch sie hörte nur noch das Tuten des Telefons. Enrique hatte bereits aufgelegt.
(1997)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Angelo.
Ertappt hob Barby die Hände. "Wieso? Warum fragst du das?"
Angelo war erstaunt, dass Barby gleich so verlegen und nervös wurde. "Na ja, eben weil du vorhin beim Arzt warst... gibt es denn schlechte Neuigkeiten?"
Seine Schwester stöhnte nur auf und vergrub den Kopf in den Händen. Das machte Angelo nun doch etwas Angst. "Barby... sag' doch!" drängte er. "Was haben sie festgestellt? Bist du ernsthaft krank?" Er wusste, dass es Barby seit einigen Wochen nicht sehr gut ging, sie klagte über Bauchschmerzen und Müdigkeit.
"Also gut." Barbys Stimme klang tonlos, fast hart. "Wenn du es wissen willst, können die anderen es auch gleich erfahren."
Halbwegs getröstet eilte Angelo die Treppe hinunter, gefolgt von Barby. Die Treppe knarrte. Das Haus in Irland war schon so alt.
Paddy, Trisha, John, Jimmy, Maite, Kathy und Joey saßen unten im Wohnzimmer und besprachen irgendwas wegen der neuen CD. Alle sahen überrascht auf, als Barby und Angelo mit ernsten Gesichtern ins Zimmer kamen. "Ja, was ist?" fragte Jimmy.
"Barby möchte uns erzählen, wie es beim Arzt war," sagte Angelo nach einigem Zögern.
"Na dann mal los!" sagte Paddy.
Barby ließ sich in einen Sessel fallen und fummelte an den Knöpfen ihrer Strickjacke herum. Sie wusste nicht so recht, wie sie es erklären sollte. Sie verstand es ja selbst noch nicht so ganz. Aber es musste wohl wahr sein.
"Hey Barby! Wolltest du nicht was sagen?" rief Paddy.
"Ihr könnt es euch doch schon denken," sagte Barby düster.
"Nein, das können wir nicht!" sagte Patrishia.
"Um Himmels Willen, Barby, es wird doch wohl nichts Schlimmes sein, oder?" fragte Kathy besorgt.
Doch, das ist es. Doch, das ist es. Doch, das ist es. Barby fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und sie sagte : "Ich bekomme ein Kind!"
Erst war alles still. Dann stotterte Angelo : "Dudududu... bist schwanger?"
Sie nickte weinend.
"Von Enrique?" hakte Jimmy nach.
"Von wem denn sonst?" plärrte Barby.
"Und was sagt er dazu?" wollte Patricia wissen.
"Er weiß es noch nicht. Ich habe es doch gerade erst erfahren."
"Na, der freut sich bestimmt!" sagte Paddy.
"Genauso wie wir uns freuen!" meinte Jimmy.
"Barby, aber du guckst so traurig, freust du dich denn nicht?" fragte John.
Alles verschwomm vor Barbys Augen. "Ich weiß nicht... Enrique wollte nie Kinder... und ich, ich bin doch noch viel zu jung! Das kann alles nicht sein..."
"Ach Barby, du schaffst das schon!" meinte Jimmy zuversichtlich. "Wir werden dir ja alle mit dem Baby helfen!" sagte Joey, und Kathy meinte : "Und wenn das Kind erst einmal da ist, freut Enrique sich sicher auch total!"
"Das tut er nicht!" schluchzte Barby. "Gerade letztens haben wir uns über Kinder unterhalten... er möchte keine. Er hat gesagt, er würde mich verlassen, würde ich jetzt schwanger werden... ich weiß nicht mehr weiter!" Sie war total verzweifelt.
"Dann kann er dich nicht lieben!" rief Jimmy empört.
"Aber ich liebe ihn, und ich möchte ihn halten!"
"Also, was wirst du tun?" fragte Patricia erschöpft.
"Na ja." Barby sah mit leerem Blick auf ihren Bauch, der sich noch kein bisschen wölbte. Niemand müsste es erfahren. "Es gibt ja wohl nur noch eine Möglichkeit, oder?"
Paddy hielt sich die Hand vor den Mund. "Du willst doch wohl nicht..."
"Doch. Ich muss abtreiben."
"Abtreibung ist Mord!" schrillte Kathy dazwischen. Auch die anderen sahen Barby betreten an.
"Macht es mir doch nicht so schwer!" zischte Barby wütend, fing aber gleich wieder an zu schluchzen. "Ich kann Enrique das nicht antun! - Und sowieso, ich kann doch nicht mit dickem Bauch auftreten, ich bin zu jung für ein Kind, ich könnte mit einem Baby gar nicht klarkommen..."
Die anderen versuchten ihr Bestes, um ihre Schwester umzustimmen. "Dann tanzt du auf der Bühne eben nicht, wenn du hochschwanger bist!" sagte Paddy. "Du bist gerade im richtigen Alter, um Mutter zu werden, finde ich!" meinte Maite, und Tricia sagte : "Denk' doch mal an unsere Mutter, die ist ja auch mit uns Kindern klargekommen!"
Aber Barby wollte nicht an ihre Mutter denken und blieb bei ihrem Standpunkt. "Eine Abtreibung ist die einzige Lösung. Geld haben wir genug, und ich werde es bestimmt nicht bereuen. Es ist ja nur ein winziger Eingriff, nicht wahr?" Flehend sah sie die Geschwister an. "Ich werde es bald vergessen haben, meint ihr nicht auch?"
"Nun ja," sagte Maite seufzend.
"Und sowieso rufe ich jetzt erst mal Enrique an!" sagte Barby resolut und griff nach dem Hörer. Alle Geschwister hatten es inzwischen aufgegeben, nur Patricias Blicke brannten noch immer auf ihr. Feindselig und doch verzweifelt funkelte Barby sie an. "Und vor den Fans verstecken kann ich es ja wohl nicht, oder?"
"Nein." Patricia seufzte. "Das wird wohl kaum möglich sein."
(1998)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Joey.
Barby musste zu ihrem Erstaunen feststellen, dass sie sich gar nicht mal so schlecht fühlte. "Ganz gut," antwortete sie und befestigte die Nikolausmütze auf ihrem Kopf.
In wenigen Minuten begann ihr Konzert in Karlsruhe und Barby war happy wie früher vor den Straßenkonzerten. Obwohl sie den Anfang des Jahres als verlassene, trauernde Geliebte verbracht hatte, ging es ihr heute richtig gut. Lag es an Angelos dummen Witzen? An Adam, der hier noch gar nichts kapierte und von einer peinlichen Situation in die nächste stolperte? Oder war sie endlich aus ihrem Tief heraus? Wer wusste das schon?
Maite gab ihr ein Bussi auf die Wange. "Du siehst richtig frech aus in deiner Nikolaus-
mütze!" Und Barby war stolz.
Ein Typ kam in die Garderobe und rief : "Ihr müsst auf die Bühne!"
Alle klatschten sich ab. "Hurra!" riefen Patricia, Kathy, Paddy, Joey, Barby, John, Angelo und Maite und stürmten auf die Bühne.
"Hurra!" rief Adam und öffnete die Tür zur Toilette, da er dachte, das sei der Weg zur Bühne.
"Adam!!" zischte Joey peinlich berührt, denn alle anderen waren schon on stage und Maite und Paddy hatten bereits mit I Feel Love angefangen. Dumm grinsend raste Adam zu ihnen. Tricia und Barby fielen vor Lachen fast um.
Die ersten Minuten vergingen ganz normal, doch dann spielte Paddy den Anfang von Hooks an. Barbys Gesicht verzog sich wie von selbst zu einem Grinsen, und gleichzeitig war sie erstaunt, welches längst vergessen geglaubte Gefühl dieses Lied in ihr weckte : sie wollte tanzen!
Und sie tat es. Sie wirbelte über die Bühne, ihre Beine flogen in die Luft, ihr Rock wirbelte herum, zeitweise vergaß sie sogar zu singen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken : Street Life... Stage Life... Life on the stage... You got me on your hooks... Ich bin glücklich... tanzen... singen... fliegen... Street Life... noch mal... noch mal... ich bin glücklich... tanzen... tanzen... noch einmal... Stage Life... singen... tanzen... Street Life... noch einmal...
Can you ever hurt her?
Can you ever break her?
(1999)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Adam vorsichtig.
Fühlen? Konnte sie denn überhaupt noch fühlen? Barby bewegte sich nicht. Sie öffnete nicht einmal die Augen. Sie wollte ihm auch nicht antworten. Sowieso redete sie in letzter Zeit nicht mehr viel, und sie wusste auch, dass ihre Geschwister ihr Verhalten nicht verstehen konnten und sie für etwas wunderlich hielten. Eben aus diesem Grund, dass sie kaum mehr sprach und die meiste Zeit mit geschlossenen Augen in irgendeiner Ecke saß. Aber wozu sprechen?
Sie dachte oft an ihre Mutter. Und sie dachte an die Dinge, die in ihrem eigenen Leben schiefgelaufen waren, an die Fehler, die sie selbst gemacht hatte. Was hatte sie getan? Und war es jetzt zu spät, alles zu ändern?
Ja, das war es. Die Fans töteten sie von außen, und sie selbst tötete sich von innen. Es war zu spät. Ihre Tränen waren nicht versiegt und sie würden es wohl auch niemals tun. Wer war sie selbst?
Sie wusste es nicht, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Es war nicht wichtig.
Ging es ihr nur heute so oder würde es immer so sein? Würde sie ihr Leben lang nur noch dahinvegetieren? Ach, egal. Sie war tot.
You can hurt her.
You can break her.
Und deswegen antwortete sie auch zum ersten Mal in ihrem Leben nicht auf diese Frage.
(2000)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Maite.
Barby zuckte mit den Schultern. "Wie immer."
"Nein, ich meine, weil du nicht mit uns ins Kino willst."
"Es ist schon okay. Ich bleibe gerne hier."
Hier in Gymnich fühlte sie sich sicher. Die Mauern und die Wände waren so hoch.
"Dann wünschen wir dir einen schönen Abend. Tanja ist ja auch noch hier," sagte Paddy.
"Viel Spaß im Kino."
"Danke und tschüs!" sagten Paddy, Angelo, Joey, John, Patricia, Jimmy, Maite und Kathy lachend und ließen Barby allein im Flur zurück.
Aber Barby wollte nicht allein sein. Sie verließ den Flur und ging ins Wohnzimmer, wo sie aber nur eine schlafende Tanja vor der Glotze vorfand. Barby stieg die Treppen zum Kinderzimmer hinauf. Wie gesagt, sie wollte nicht allein sein.
Aber als sie vor dem Gitterbett stand und den schlafenden Luke betrachtete, stiegen ihr Tränen in die Augen. Ihr eigenes Kind könnte schon fast zwei Jahre alt sein... hätte sie es damals nicht abgetrieben. Hätte sie nicht auf einen Mann gehört, der sie trotz allem verlassen hatte. Sie sehnte sich nach einem Kind. Tanja und Joey hatten ein solches Glück gehabt.
Luke öffnete die Augen und blinzelte Barby an. Sie schluchzte. Warum durften Tanja und Joey dieses Wunder erleben? Warum diese beiden und sie nicht? Es war nicht fair. Barby hob Luke aus dem Bett. Er war so weich und roch so gut. "Es ist einfach nicht fair," flüsterte Barby mit erstickter Stimme.
Was dann geschah, wusste Barby später nicht mehr. Irgendwann kam Tanja ins Zimmer, fing an, hysterisch zu schreien, und versuchte, Barbys Hände von Lukes Hals zu lösen. Luke brüllte. Barby schlug um sich. Da stürzten die anderen Kellys in den Raum. Sie waren zurückgekommen, weil John seinen Schirm und Kathy das Geld vergessen hatte. Doch das wusste Barby nicht. Kathy und Patricia schrien auf. Es kam zu einem Handgemenge. Barby wusste nicht mehr, was sie tat. Wie im Wahn griff sie nach Luke. Joey zerrte sein Kind zu sich und raste mit ihm und Tanja aus dem Zimmer. Barby wollte hinterher. Jimmy hielt sie fest. Barby schlug ihm mit voller Wucht gegen das Kinn. Jimmy stöhnte auf und ließ sie los. Von draußen hörte man Luke schreien. Barby rannte zur Tür. Patricia schlug die Tür zu. Barby fiel gegen die Tür, immer und immer wieder. Sie schlug ihren Kopf dagegen und niemand konnte sie aufhalten.
Irgendwann fiel sie um und bewegte sich nicht mehr. Und niemand wusste, wie sie sich fühlte.
(2000)
"Wie fühlst du dich, Barby?" fragte Barby selbst.
Ihr Spiegelbild gab ihr keine Antwort. Barby runzelte die Stirn. Blass war sie immer noch sehr, aber die tiefen Ringe unter ihren Augen waren verschwunden und wenn es ein ganz toller Tag war, konnte sie auch schon wieder ein bisschen lachen.
Seit zwei Tagen war sie wieder in Gymnich. Die anderen hatten sich alle auf sie gefreut, aber dennoch Distanz gehalten und Barby verstand es absolut. Sie musste sich ihr Vertrauen erst wieder verdienen.
Wieder warf Barby einen Blick in den Spiegel. Die Sonne schien durchs Fenster, vielleicht sah sie ja deswegen nicht so schlimm aus. Heute war ein schöner Tag. Sie überlegte, ob sie vielleicht einen Hut aufsetzen sollte.
Sie lernte wieder, sich an den schönen Dingen des Lebens zu freuen.
Sie war zu schnell erwachsen geworden. Enrique hatte sie damals in eine Rolle gedrängt, die ihr zu viel gewesen war, und kurz darauf war sie selbst schwanger geworden. Gut, sie konnte nie wieder ein Kind werden. Aber vielleicht... vielleicht... konnte sie ihre kindliche Seele behalten.
Sie nahm einen Lippenstift auf und fuhr damit über ihre Lippen. Schon war ihr gesamtes Gesicht zu einem Kunstwerk geworden. Ihr kam plötzlich ein Wort in den Sinn und sie schrieb es mit Lippenstift auf den Spiegel. ROCK'N'ROLL BALLERINA.
Das war sie, und sie hatte es vor vielen Jahren das letzte Mal gehört.
Woran erinnerte es sie?
An Street Life?
Barby setzte den Hut auf. Dann sah sie wieder in den Spiegel.
"Okay, Barbarina," sagte sie und betonte jede Silbe, "wie fühlst du dich?"
Barbarina lächelte.
Später kamen Paddy, Patricia, Joey, John, Tanja, Maite, Jimmy, Adam, Angelo und Kathy in ihr leeres Zimmer und lasen das Wort auf dem Spiegel.
ROCK'N'ROLL BALLERINA.
Eine Weile lang sahen sie sich schweigend an. Dann schrieben sie STREET LIFE hinzu und jeder seinen Namen. Sie wussten, Barbarina würde lächeln, wenn sie es lesen würde. Sie würde einfach nur lächeln. Und jeder würde wissen, wie sie sich fühlte.
Can you hurt her?
Can you break her?
Wir werden es erfahren... irgendwann...
© by Doro
Dedicated to BARBARINA KELLY