Auch Wirbelwinde haben Grenzen

by Janine   Janine.Zehe@t-online.de

 

 

Maite stand in der küche und grübelte, welche neue Kreation sie jetzt machen könnte. Vielleicht konnte man das Stew noch durch einen Hauch Lauch verfeinern? Ja, das würde sie probieren.
Plötzlich war sie wütend über sich selbst. Warum dachte sie über so banale Dinge nach? Sie hatte doch so große Sorgen. Heute war ihr großer Bruder Joey laufen gegangen, ohne auch nur ein Wort des Abschieds zu verlieren. Das war vor vielen Stunden und er war noch immer nicht zurück. War er wirklich laufen gegangen? Unruhig ging die junge Frau in der Küche auf und ab. Sie beobachtete die Uhr, die an der Wand hing. Der Zeiger bewegte sich im Zeitlupentempo vorwärts. Die Zeit verging, Joey ließ sich nicht sehen. Als Maite Tanja gefragt hatte, was sie wisse, hatte sie nur gefaucht: "Was geht mich das an? Der Junge ist alt genug, er kann doch wohl entscheiden, wie lang er fortbleibt. Er macht ja eh, was er will." Maite hatte daraus geschlossen, dass die beiden Streit hatten.
Sie sorgte sich sehr, ob Tanja das alles noch lang aushielte. Sie wusste, dass sie die einzige Frau wäre, die Joey, den Ironman Joey, versteht. Maite selbst, das wusste sie genau, könnte das nicht. Wenn sie schwanger wäre, müsste ihr Freund mit ihr zur Schwangerschaftsgymnastik gehen, ständig um sie sein. Plötzlich fragte sie sich, warum sie ihn dabei auch noch unterstützte... Wie oft war sie bei ihm und feuerte ihn an?

Während sie so grübelte, betrat Barby die große Schlossküche: "Kleines, du kommst mit dem Stew wohl auch nicht weiter? Soll ich dir helfen? Du siehst so aus, als bedrücke dich etwas." "Ach, Joey, er ist vor so langer Zeit wegegangen und kommt nicht wieder." "Wenn der Hunger ihn treibt, wird er schon kommen." Maite war verwundert. Ihre Schwester hatte wohl heute einen ihrer starken Tage. Es gab nämlich auch durchaus Tage, an denen hätte Barby die Welt zusammengerufen oder bitterlich geweint.
Maite fühlte sich schwach. Die vielen Konzerte, die Medien, der ewige Druck, immer der frohe, starke Pol zu sein... Sie fühlte sich überfordert. Sie sehnte sich sehr nach liebe und Zuwendung. Natürlich hatte sie in letzter Zeit sehr viele Freunde gehabt, doch keiner hatte sie zufriedenstellen können.

Traurig rührte sie in dem großen Topf herum. Da, eine Tür knallte zu, jemand polterte herein, es war Joey. Maite war außer sich: "Wo warst du so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht." Sie verlor zu schnell die Fassung. Ihre Wut steigerte sich, als Joey nur kurz zurückgab: "Weg." Wie weg? Was heißt hier einfach weg? Weißt Du, wann du losgezogen bist?" "Nö, hab nicht auf die Uhr gesehen." "Um acht heute Morgen, jetzt ist es sieben uhr Abends!"
Mit vor Wut rotem Gesicht warf sie den Kochlöffel vor Barby und rannte aus dem Raum. Begriffen sie denn nicht, dass sie Grenzen hatte? Dachten sie nicht, dass sie Fühlte? Alle hielten sie für eine oberflächliche, überdreht, zickige "Diva". John war der Einzige, der sie auf Konzerten ansprach, sie fragte, ob es ihr gut ginge.

Maite warf sich auf ihr Bett. Weinen konnte sie nicht. Sie erlaubte sich nur zu weinen, wenn gerade etwas rührendes, dramatisches geschah. Sei es, dass Vater wunderbare Worte sprach oder dass etwas in einem Film einen dramatischen Lauf nahm. Deswegen aß sie zu viel. Auch jetzt stand sie auf. Die Sehnsucht nach liebe, die Traurigkeit, die Wut, all das veranlasste sie, jetzt eine Tafel Schokolade hastig hinunterzuschlingen.
Dann rannte sie zum Abendessen. Auch dort griff sie ordentlich zu und aß zu viel. Patrick musterte sie kritisch: "Bringen die dir so was bei den Overeaters bei oder warum gehst du da hin? Maite, du tust gerade das Gegenteil von dem, was sie dir dort vermitteln wollen..." "Ach, lass mich in Ruhe..." Wieder warf Maite den Löffel hin und verließ die Familie. Kathy schaute besorgt, John nachdenklich. Angelo tat es einfach unter "Zickenanfall" ab und Patrick hatte ein schlechtes Gewissen.

Maite wachte am nächsten Morgen schon schlecht gelaunt auf. Heute mussten sie und ihr Bruder Angelo für ein Fantelefon einer Zeitschrift ein paar frohe Grüße an ihre Fans auf ein Band sprechen. Darum stand sie schnell auf, sie hatte wieder zu lang geschlafen. Sie rannte ins Bad und danach in Angelos Zimmer, um ihn zu wecken. "Angelo? Aufwachen, Lino, wir müssen aufstehen... Die Zeitschrift.. Angelo..."
Angelo öffnete kurz die Augen: "Hmmmm." Und drehte sich wieder auf die andere Seite. Schon war er wieder eingeschlafen. Seine Schwester rüttelte ihn, schlug ihm auf den Hinterkopf. Es half nichts. Sie war so grob, weil die zwei jüngsten es wirklich eilig hatten. Außerdem hasste sie diese Passivität ihres Bruders. Nicht mal vernünftig streiten konnte sie mit ihm.
‚Ein Glas Wasser' dachte sie, ‚Das wird ihn munter machen...' Maite rannte in die küche, um ein Glas kaltes Wasser zu holen. Sie hatte es fast gefüllt, da sah sie Kira aus dem Bad kommen. Wild kreischte sie: "Kira, Kira, du weckst jetzt sofort deinen Lover! Wir haben es eilig, wie immer! Sofort weckst du ihn Da wird nicht so viel geknutscht und so, aufstehen soll er! Er hat einfach wieder die Augen zugemacht, dieser Kerl!"
Angelos Freundin war über Maites Laune so entsetzt, dass sie nur ein "Waas? W.. Wie? Ja, guten Morgen, Maite" über die Lippen brachte und sofort wieder in Angelos Zimmer verschwand. "Nein, nein, Kiiiiiiiiiiiraaaaaaaaaaaaaaa!"

Maite war jetzt in voller Wut... Tränen liefen ihre Wangen herab. Patrick, der sowieso morgens nie gut gelaunt war, betrat die Küche: "Mann, Blöde Gans, nicht so laut.... Mann, gark woanders..." "Penner! Lass mich!" Maite spürte Schwäche aufkommen. Sie wollte nicht mehr so belächelt werden, sie wollte diesen Druck nicht mehr und vor allem wollte sie Liebe.
"Kleines, was is denn?" Jimmy legte tröstend seine Hand auf Maites Schulter. "Keiner hört mir zu.." schluchzte sie. "Wer nicht, Schatz?" "Na, Angelo... Wir müssen doch heute... Heute... dieses blöde Fantelefon machen..." "Na, wird schon aufstehen, die Schlafmütze..."
Angelo trat langsamen Schrittes in die küche: "Na, Maite, sorry. War nur müde. Ich helfe Dir beim Frühstück, ja?" Maite ließ es zu, sie war jetzt zu schwach für einen Streit.

Irgendwie überstand Maite auch diesen Tag. Sie hatte auf dem Band Witze gemacht, frohen Sommer gewünscht und war mit einer Freundin schwimmen gegangen. Das hatte sie aufgemuntert.

Ein paar Wochen später gaben die Kellys ein Konzert in Madrid... Maite gab alles, wie immer. Alle Fans liebten und feierten sie. Sie lobte die gute Stimmung, die Schönheit Madrids, die Männer hier, was sie sich immer vor den Konzerten zurechtlegte.
Sie opferte alle Kraft, um auch Kathy und Barby zu ersetzen. Die kraftvolle junge Frau sang hoch bei "Ares qui", übernahm Kathys Part bei "The wolf", tanzte und wirbelte im Lichtermeer. Das ganze Publikum sah nicht die Unsicherheit, die sie mit ihrer Show überdeckte. Die Unsicherheit, ob sie lächerlich wirkte, wenn sie wild tanzte, ob ihre Kleidung in ordnung war, ob sie zumindest hübsch auf Männer wirkte. Die Fans dankten ihr mit Sprechchören, Jubel, Geschrei. Maite interessierte das alles heute kaum.

Sie rannte, sobald das Konzert geendet hatte, zu ihrem Auto und fuhr in den Wald. Nun ruhte sie, den Kopf an den Fuß eines mächtigen Felsens gelehnt, unter Bäumen. Sie lauschte den zikaden, die ihr wunderschönes, jedoch monotones Lied sangen. Während sie ihnen lauschte, übermannte sie sanfter, süßer Schlaf.
"Maite, Maite, wach doch auf, wo warst du?" Unsanft riss Kathys Stimme sie aus ihrem Schlafe. "Was ist los?" "Gesucht haben wir dich! Wir haben uns Sorgen gemacht, Johnny springt im Dreieck. Komm mit, du holst dir den Tod!" "Ich wollte nur etwas ganz für mich sein. Ich liebe den Wald und bin eingeschlafen..." "Das haben wir gemerkt, komm jetzt." Allmählich wurde Kathy sanfter und liebevoller. Der Schrecken hatte sie so heftig reagieren lassen.

Maite wachte am nächsten morgen gut gelaunt auf. Ihre gute Stimmung wurde aber durch drei Fans getrübt, die hintereinander auf ihrem Handy anriefen... "Maite, hat Paddy eine Freundin?" "Maite, holst du mich auf die Bühne?" Maite war freundlich, machte den Fans plausibel, was ging und was nicht. Wieder einmal wunderte sie sich, woher die Fans ihre Nummer wussten. Hatte Tina...? Nein. Das konnte doch nicht... Aber wer sonst kam in Frage? Tina war seit neuesten eine Freundin von Maite geworden und seitdem riefen wieder mehr Mädchen bei ihr an. Sie wollte erst gern an das Gute im Menschen glauben, was ihr bei Tina allmählich immer schwerer fiel.

Etwas mürrisch machte sie Frühstück. Jimmy betrat die Küche und gähnte: "Moooorgen... Du kleine küchenfee.. Das duftet ja köstlich". Die jüngere Kellyschwester fühlte sich wieder etwas besser. Jimmy schaffte es doch immer wieder, selbst Barby oder Patrick aufzumuntern.
Die Kellys versammelten sich allmählich alle um den großen Tisch. Maite aß heute normale Mengen, denn sie hatte keine Lust auf Patricks und Angelos hönische Sprüche oder ihre waisen Ratschläge. Die junge Frau wunderte und freute sich sehr, denn es geschah immer seltener, dass alle Geschwister anwesend waren, ja, sogar Johnny war mit Frau Maite gekommen. Sie mochte ihre Namenscousine sehr, denn die war sehr schüchtern und gutherzig. Außerdem meinte sie, John und sie seien unheimlich süß zusammen.
"Was machst du heute zu Mittag?" Angelo konnte mal wieder nicht sattwerden und fragte jetzt schon nach dem Mittagessen. "Ich weiß noch nicht mal, ob ich heute koche. Ich wollte shoppen gehen. Kommt doch mit, wir essen in der Stadt.." "Oooch nöö, deine Pizza ist immer so lecker. Was soll denn das jetzt?" nörgelte Joey.
Maites Gesicht wurde rot vor Zorn: "Nicht nur, dass die Fans ständig wollen, wollen, wollen! Ihr auch! Ich soll stark sein, immer lust aufs Kochen haben, euch immer zum Lachen bringen, nee, heute bin ich dran!" Wütend warf sie den Kaffeelöffel auf den Teller.
Sobald sie gegessen hatte, stand sie auf. John spülte zusammen mit Patrick das Geschirr.

Maite suchte gerade zwischen den Samtsachen, da klingelte ihr Handy wieder.. Genervt nahm sie ab: "Ja?" Eine ihr fremde Stimme: "Maite, ich fand euer Konzert auf der Lore ganz toll, gibst du mir ein Autogramm, ich erwarte dich an Gymnich. Reden wir ein bisschen....?" "Nee, du, keine Zeit!" "ey, das ist dein Job, dass du mit mir redest!" "Woher hast du überhaupt die Nummer?" "Na, von Tina Winter!"
Also doch! Maite durchzuckte der Schmerz der Enttäuschung wie ein Blitz. Wortlos legte sie auf. Nun war die gute Shoppinglaune vorüber... Sie hätte sich am liebsten auf eine Parkbank gesetzt und bitterlich geweint. Sie nahm sich zusammen, bis sie vor dem spanischen Haus ankam.
Dort standen drei deutsche Mädchen und rissen an Patricks Haaren und Kleidern. Ihr großer Bruder krümmte sich weinend zusammen. Da packte sie wilder Zorn, und alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, wollte nun hinaus: "Verpisst euch, Weiber, geht weg!" Dann packte sie eines der Mädchen und schleuderte es zur Seite. Die beiden anderen standen so verdutzt, dass Maite die Gelegenheit nutzte, um die Kamera des einen Fans vollends zu zerstören.
Sie wollte doch nur verhindern, dass es eventuelle Fotos von ihrem Bruder in Unterhose gab. Oder davon, wie Maite mit ihren Fans umsprang. Sie wusste, dass sich solche Fotos für das größte Geld sehr gut verkaufen ließen. Außerdem, es verletzte ganz deutlich die Privatsphäre und die Würde ihres Bruders!
Dann sagte sie ganz nach amerikanischer Art: "So, Mädels, geht zur Seite, die Show ist zu ende Geht schon.!"

Die beiden Geschwister gingen nun ins Haus. Während Patrick sich wieder schnell sammelte und Maite tausendmal dankte, sank seine kleine Schwester auf einen Stuhl und weinte so, wie er es bei ihr noch nie erlebt hatte. Sie schrie und schluchzte, krampfte ihre Hände so zusammen, dass er sie nicht mehr auseinanderbrachte. Ihre Kraft war aufgebraucht, ihre Grenzen überschritten.
"Ich... ich... will nie mehr, ich kann nicht mehr, versteht ihr alle? Nie wieder diese dummen Gänse, nie wieder diese Fans...." Alle Geschwister schauten besorgt. Die ganze Nacht lang diskutierten sie, nachdem Maite sich beruhigt hatte.

Und so geschah etwas, was niemand für möglich gehalten hatte: Maite nahm sich eine Auszeit!


© Janine