Kaum waren alle fort, sagte K. zu den
Gehilfen: »Geht hinaus!« Verblüfft durch diesen unerwarteten Befehl, folgten sie, aber
als K. hinter ihnen die Tür zusperrte, wollten sie wieder zurück, winselten draußen und
klopften an die Tür. »ihr seid entlassen!« rief K. »Niemals mehr nehme ich euch in
meine Dienste.« Das wollten sie sich nun freilich nicht gefallen lassen und hämmerten
mit Händen und Füßen gegen die Tür. »Zurück zu dir, Herr!« riefen sie, als wäre K.
das trockene Land und sie daran, in der Flut zu versinken. Aber K. hatte kein Mitleid,
ungeduldig wartete er, bis der unerträgliche Lärm den Lehrer zwingen werde,
einzugreifen. Es geschah bald. »Lassen Sie Ihre verfluchten Gehilfen ein!« schrie er.
»Ich habe sie entlassen!« schrie K. zurück; es hatte die ungewollte Nebenwirkung, dem
Lehrer zu zeigen, wie es auffiel, wenn jemand kräftig genug war, nicht nur zu kündigen,
sondern auch die Kündigung auszuführen. Der Lehrer versuchte nun, die Gehilfen gütlich
zu beruhigen, sie sollten hier nur ruhig warten, schließlich werde K. sie doch wieder
einlassen müssen. Dann ging er. Und es wäre nun vielleicht still geblieben, wenn nicht
K. ihnen wieder zuzurufen angefangen hätte, dass sie nun endgültig entlassen seien und
nicht die geringste Hoffnung auf Wiederaufnahme hätten. Daraufhin begannen sie wieder zu
lärmen wie zuvor. Wieder kam der Lehrer, aber nun verhandelte er nicht mehr mit ihnen,
sondern trieb sie, offenbar mit dem gefürchteten Rohrstab, aus dem Haus.
Bald erschienen sie vor den Fenstern des Turnzimmers, klopften an die Scheiben und
schrien; aber die Worte waren nicht mehr zu verstehen. Sie blieben jedoch auch dort nicht
lange, in dem tiefen Schnee konnten sie nicht herumspringen, wie es ihre Unruhe verlangte.
Sie eilten deshalb zu dem Gitter des Schulgartens, sprangen auf den steinernen Unterbau,
wo sie auch, allerdings nur von der Ferne, einen besseren Einblick in das Zimmer hatten;
sie liefen dort, an dem Gitter sich fest haltend, hin und her, blieben dann wieder stehen
und streckten flehend die gefalteten Hände gegen K. aus. So trieben sie es lange, ohne
Rücksicht auf die Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen; sie waren wie verblendet, sie
hörten wohl auch nicht auf, als K. die Fenstervorhänge herunterließ, um sich von ihrem
Anblick zu befreien.
In dem jetzt dämmerigen Zimmer ging K. zu dem Barren, um nach Frieda zu sehen. Unter
seinem Blick erhob sie sich, ordnete die Haare, trocknete das Gesicht und machte sich
schweigend daran, Kaffee zu kochen. Obwohl sie von allem wusste, verständigte sie doch K.
förmlich davon, dass er die Gehilfen entlassen hatte. Sie nickte nur. K. saß in einer
Schulbank und beobachtete ihre müden Bewegungen. Es war immer die Frische und
Entschlossenheit gewesen, welche ihren nichtigen Körper verschönt hatte; nun war diese
Schönheit dahin. Wenige Tage des Zusammenlebens mit K. hatten genügt, das zu erreichen.
Die Arbeit im Ausschank war nicht leicht gewesen, aber ihr wahrscheinlich doch
entsprechender. Oder war die Entfernung von Klamm die eigentliche Ursache ihres Verfalles?
Die Nähe Klamms hatte sie so unsinnig verlockend gemacht, in dieser Verlockung hatte sie
K. an sich gerissen, und nun verwelkte sie in seinen Armen.
»Frieda«, sagte K. Sie legte gleich die Kaffeemühle fort und kam zu K. in die Bank.
»du bist mir böse?« fragte sie. »Nein«, sagte K. »Ich glaube, du kannst nicht
anders. Du hast zufrieden im Herrenhof gelebt. Ich hätte dich dort lassen sollen.«
»Ja«, sagte Frieda und sah traurig vor sich hin, »du hättest mich dort lassen
sollen. Ich bin dessen nicht wert, mit dir zu leben. Von mir befreit, könntest du
vielleicht alles erreichen, was du willst. Aus Rücksicht auf mich unterwirfst du dich dem
tyrannischen Lehrer, übernimmst du diesen kläglichen Posten, bewirbst dich mühevoll um
ein Gespräch mit Klamm. Alles für mich, aber ich lohne es dir schlecht.« »Nein«,
sagte K. und legte tröstend den Arm um sie. »Alles das sind Kleinigkeiten, die mir nicht
wehtun, und zu Klamm will ich ja nicht nur deinetwegen. Und was hast du alles für mich
getan! Ehe ich dich kannte, ging ich ja hier ganz in die Irre. Niemand nahm mich auf, und
wem ich mich aufdrängte, der verabschiedete mich schnell. Und wenn ich bei jemandem Ruhe
hätte finden können, so waren es Leute, vor denen wieder ich mich flüchtete, etwa die
Leute des Barnabas.« »du flüchtetest vor ihnen? Nicht wahr? Liebster!« rief
Frieda lebhaft dazwischen und versank dann nach einem zögernden »Ja« K.s wieder in ihre
Müdigkeit. Aber auch K. hatte nicht mehr die Entschlossenheit, zu erklären, worin sich
durch die Verbindung mit Frieda alles zum Guten für ihn gewendet hatte. Er löste langsam
den Arm von ihr und saß ein Weilchen schweigend, bis dann Frieda, so, als hätte K.s Arm
ihr Wärme gegeben, die sie jetzt nicht mehr entbehren könne, sagte: »Ich werde dieses
Leben hier nicht ertragen. Willst du mich behalten, müssen wir auswandern, irgendwohin,
nach Südfrankreich, nach Spanien.« »Auswandern kann ich nicht«, sagte K., »ich
bin hierher gekommen, um hier zu bleiben. Ich werde hier bleiben.« Und in einem
Widerspruch, den er gar nicht zu erklären sich Mühe gab, fügte er wie im
Selbstgespräch zu: »Was hätte mich denn in dieses öde Land locken können, als das
Verlangen hier zu bleiben?« Dann sagte er: »Aber auch du willst hier bleiben, es ist ja
dein Land. Nur Klamm fehlt dir, und das bringt dich auf verzweifelte Gedanken.«
»Klamm sollte mir fehlen?« sagte Frieda. »Von Klamm ist hier ja eine Überfülle, zu
viel Klamm; um ihm zu entgehen, will ich fort. Nicht Klamm, sondern du fehlst mir,
deinetwegen will ich fort; weil ich mich an dir nicht sättigen kann, hier, wo alle an mir
reißen. Würde mir doch lieber die hübsche Larve abgerissen, würde doch lieber mein
Körper elend, dass ich in Frieden bei dir leben könnte.« K. hörte daraus nur eines.
»Klamm ist noch immer in Verbindung mit dir?« fragte er gleich. »Er ruft dich?«
»Von Klamm weiß ich nichts«, sagte Frieda, »ich rede jetzt von anderen, zum Beispiel
von den Gehilfen.« »Ah, die Gehilfen!« sagte K. überrascht. »Sie verfolgen
dich?« »Hast du es denn nicht bemerkt?« fragte Frieda. »Nein«, sagte K. und
suchte sich vergeblich an Einzelheiten zu erinnern, »zudringliche und lüsterne Jungen
sind es wohl, aber dass sie sich an dich herangewagt hätten, habe ich nicht bemerkt.«
»Nicht?« sagte Frieda. »Du hast nicht bemerkt, wie sie aus unserem Zimmer im
Brückenhof nicht fortzubringen waren, wie sie unsere Beziehungen eifersüchtig
überwachten, wie sich einer letzthin auf meinen Platz auf den Strohsack legte, wie sie
jetzt gegen dich aussagten, um dich zu vertreiben, zu verderben, um mit mir allein zu
sein. Das alles hast du nicht bemerkt?« K. sah Frieda an, ohne zu antworten. Diese
Anklagen gegen die Gehilfen waren wohl richtig, aber sie konnten alle auch viel
unschuldiger gedeutet werden, aus dem ganzen lächerlichen, kindischen, fahrigen,
unbeherrschten Wesen der beiden. Und sprach nicht gegen die Beschuldigung auch, dass sie
doch immer danach gestrebt hatten, überall mit K. zu gehen und nicht bei Frieda
zurückzubleiben? K. erwähnte etwas Derartiges. »Heuchelei«, sagte Frieda, »das hast
du nicht durchschaut? Ja, warum hast du sie denn fortgetrieben, wenn nicht aus diesen
Gründen?« Und sie ging zum Fenster, rückte den Vorhang ein wenig zur Seite, blickte
hinaus und rief dann K. zu sich. Noch immer waren die Gehilfen draußen am Gitter, so
müde sie auch sichtlich schon waren, streckten sie doch noch von Zeit zu Zeit, alle
Kräfte zusammennehmend, die Arme bittend gegen die Schule aus. Einer hatte, um sich nicht
immerfort fest halten zu müssen, den Rock hinten auf einer Gitterstange aufgespießt.
»Die Armen! Die Armen!« sagte Frieda.
»Warum ich sie weggetrieben habe?« rief K. »Der unmittelbare Anlass dafür bist du
gewesen.« »Ich?« fragte Frieda, ohne den Blick von draußen abzuwenden. »deine
allzufreundliche Behandlung der Gehilfen«, sagte K., »das Verzeihen ihrer Unarten, das
Lachen über sie, das Streicheln ihrer Haare, das fortwährende Mitleid mit ihnen,
die Armen, die Armen, sagst du wieder, und schließlich der letzte Vorfall, da
ich dir als Preis nicht zu hoch war, die Gehilfen von den Prügeln loszukaufen.«
»Das ist es ja«, sagte Frieda, »davon spreche ich doch, das ist es ja, was mich
unglücklich macht, was mich von dir abhält, während ich doch kein größeres Glück
für mich weiß, als bei dir zu sein, immerfort, ohne Unterbrechung, ohne Ende, während
ich doch davon träume, dass hier auf der Erde kein ruhiger Platz für unsere Liebe ist,
nicht im Dorf und nicht anderswo, und ich mir deshalb ein Grab vorstelle, tief und eng;
dort halten wir uns umarmt wie mit Zangen, ich verberge mein Gesicht an dir, du deines an
mir, und niemand wird uns jemals mehr sehen. Hier aber sieh die Gehilfen! Nicht dir
gilt es, wenn sie die Hände falten, sondern mir.« »Und nicht ich«, sagte K.,
»sehe sie an, sondern du.« »Gewiss, ich«, sagte Frieda fast böse, »davon
spreche ich doch immerfort. Was würde denn sonst daran liegen, dass die Gehilfen hinter
mir her sind; mögen sie auch Abgesandte Klamms sein.« »Abgesandte Klamms«,
sagte K., den diese Bezeichnung, so natürlich sie ihm gleich erschien, doch sehr
überraschte. »Abgesandte Klamms, gewiss«, sagte Frieda, »mögen sie dies sein, so sind
sie doch auch gleichzeitig läppische Jungen, die zu ihrer Erziehung noch Prügel
brauchen. Was für hässliche, schwarze Jungen es sind! Und wie abscheulich ist der
Gegensatz zwischen ihren Gesichtern, die auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schließen
lassen, und ihrem kindisch-närrischen Benehmen! Glaubst du, dass ich das nicht sehe? Ich
schäme mich ja ihrer. Aber das ist es ja eben, sie stoßen mich nicht ab, sondern ich
schäme mich ihrer. Ich muss immer zu ihnen hinsehen. Wenn man sich über sie ärgern
sollte, muss ich lachen. Wenn man sie schlagen wollte, muss ich über ihr Haar streichen.
Und wenn ich neben dir liege in der Nacht, kann ich nicht schlafen, und muss über dich
hinweg zusehen, wie der eine, fest in die Decke eingerollt, schläft und der andere vor
der offenen Ofentür kniet und heizt, und ich muss mich vorbeugen, dass ich dich fast
wecke. Und nicht die Katze erschreckt mich ach, ich kenne Katzen und ich kenne auch
das unruhige, immerfort gestörte Schlummern im Ausschank nicht die Katze
erschreckt mich, ich selbst mache mir Schrecken. Und es bedarf gar nicht dieses Ungetümes
von einer Katze, ich fahre beim kleinsten Geräusch zusammen. Einmal fürchtete ich, dass
du aufwachen wirst und alles zu Ende sein wird, und dann wieder springe ich auf und zünde
die Kerze an, damit du nur schnell aufwachst und mich beschützen kannst.« »Von
dem allen habe ich nichts gewusst«, sagte K., »nur in einer Ahnung dessen habe ich sie
vertrieben; nun sind sie aber fort, nun ist vielleicht alles gut.« »Ja, endlich
sind sie fort«, sagte Frieda, aber ihr Gesicht war gequält, nicht freudig, »nur wissen
wir nicht, wer sie sind. Abgesandte Klamms, ich nenne sie in meinen Gedanken, im Spiele
so, aber vielleicht sind sie es wirklich. Ihre Augen, diese einfältigen und doch
funkelnden Augen, erinnern mich irgendwie an die Augen Klamms, ja, das ist es: Es ist
Klamms Blick, der mich manchmal aus ihren Augen durchfährt. Und unrichtig ist es deshalb,
wenn ich sagte, dass ich mich ihrer schäme. Ich wollte nur, es wäre so. Ich weiß zwar,
dass anderswo und bei anderen Menschen das gleiche Benehmen dumm und anstößig wäre, bei
ihnen ist es nicht so. Mit Achtung und Bewunderung sehe ich ihren Dummheiten zu. Wenn es
aber Klamms Abgesandte sind, wer befreit uns von ihnen; und wäre es dann übernaupt gut,
von ihnen befreit zu werden? Müsstest du sie dann nicht schnell hereinholen und
glücklich sein, wenn sie noch kämen?« »du willst, dass ich sie wieder
hereinlasse?« fragte K. »Nein, nein«, sagte Frieda, »nichts will ich weniger. Ihren
Anblick, wenn sie nun hereinstürmten, ihre Freude, mich wieder zu sehen, ihr Herumhüpfen
von Kindern und ihr Armausstrecken von Männern, das alles würde ich vielleicht gar nicht
ertragen können. Wenn ich dann aber wieder bedenke, dass du, wenn du gegen sie hart
bleibst, damit vielleicht Klamm selbst den Zutritt zu dir verweigerst, will ich dich mit
allen Mitteln vor den Folgen dessen bewahren. Dann will ich, dass du sie hereinkommen
lässt. Dann K., nur schnell herein mit ihnen! Nimm keine Rücksicht auf mich, was liegt
an mir! Ich werde mich wehren, solange ich kann; wenn ich aber verlieren sollte, nun, so
werde ich verlieren, aber dann mit dem Bewusstsein, dass auch dies für dich geschehen
ist.« »du bestärkst mich nur in meinem Urteil hinsichtlich der Gehilfen«, sagte
K. »Niemals werden sie mit meinem Willen hereinkommen. Dass ich sie hinausgebracht habe,
beweist doch, dass man sie unter Umständen beherrschen kann, und damit weiterhin, dass
sie nichts Wesentliches mit Klamm zu tun haben. Erst gestern Abend bekam ich einen Brief
von Klamm, aus dem zu sehen ist, dass Klamm über die Gehilfen ganz falsch unterrichtet
ist, woraus wieder geschlossen werden muss, dass sie ihm völlig gleichgültig sind, denn
wären sie dies nicht, so hätte er sich gewiss genaue Nachrichten über sie beschaffen
können. Dass aber du Klamm in ihnen siehst, beweist nichts, denn noch immer, leider, bist
du von der Wirtin beeinflusst und siehst Klamm überall. Noch immer bist du Klamms
Geliebte, noch lange nicht meine Frau. Manchmal macht mich das ganz trübe, mir ist dann,
wie wenn ich alles verloren hätte, ich habe dann das Gefühl, als sei ich eben erst ins
Dorf gekommen, aber nicht hoffnungsvoll, wie ich damals in Wirklichkeit war, sondern im
Bewusstsein, dass mich nur Enttäuschungen erwarten und dass ich eine nach der anderen
werde durchkosten müssen bis zum letzten Bodensatz. Doch ist das nur manchmal«, fügte
K. lächelnd hinzu, als er sah, wie Frieda unter seinen Worten zusammensank, »und beweist
doch im Grunde etwas Gutes, nämlich, was du mir bedeutest. Und wenn du mich jetzt
aufforderst, zwischen dir und den Gehilfen zu wählen, so haben damit die Gehilfen schon
verloren. Was für ein Gedanke, zwischen dir und den Gehilfen zu wählen! Nun will ich sie
aber endgültig los sein, in Worten und Gedanken. Wer weiß übrigens, ob die Schwäche,
die uns beide überkommen hat, nicht daher stammt, dass wir noch immer nicht
gefrühstückt haben?« »Möglich«, sagte Frieda, müde lächelnd, und ging an
die Arbeit. Auch K. ergriff wieder den Besen.
Nach einem Weilchen klopfte es leise. »Barnabas!« schrie K., warf den Besen hin und
war mit einigen Sätzen bei der Tür. Über den Namen mehr als über alles andere
erschrocken, sah ihn Frieda an. Mit den unsicheren Händen konnte K. das alte Schloss
nicht gleich öffnen. »Ich öffne schon«, wiederholte er immerfort, statt zu fragen, wer
denn eigentlich klopfe. Und musste dann zusehen, wie durch die weitaufgerissene Tür nicht
Barnabas hereinkam, sondern der kleine Junge, der schon früher einmal hatte K. ansprechen
wollen. K. hatte aber keine Lust, sich an ihn zu erinnern. »Was willst du denn hier?«
sagte er. »Unterrichtet wird nebenan.« »Ich komme von dort«, sagte der Junge
und sah mit seinen großen, braunen Augen ruhig zu K. auf, stand aufrecht da, die Arme eng
a n Leib. »Was willst du also? Schnell!« sagte K. und beugte sich ein wenig hinab, denn
der Junge sprach leise. »Kann ich dir helfen?« fragte der Junge. »Er will uns helfen«,
sagte K. zu Frieda, und dann zum Jungen: »Wie heißt du denn?« »Hans
Brunswick«, sagte der Junge, »Schüler der vierten Klasse, Sohn des Otto Brunswick,
Schustermeister in der Madeleinegasse.« »Sieh mal, Brunswick heißt du«, sagte
K. und war nun freundlicher zu ihm. Es stellte sich heraus, dass Hans durch d e blutigen
Striemen, welche die Lehrerin in K.s Hand eingekratzt hatte, so erregt worden war, dass er
sich vorhin entschlossen hatte, K. beizustehen. Eigenmächtig war er jetzt auf die Gefahr
großer Strafe hin aus dem Schulzimmer nebenan wie ein Deserteur weggeschlichen. Es
mochten vor allem solche knabenhaften Vorstellungen sein, die ihn beherrschten. Ihnen
entsprechend war auch der Ernst, der aus allem sprach, was er tat. Nur anfänglich hatte
ihn Schüchternheit behindert, bald aber gewöhnte er sich an K. und Frieda, und als er
dann heißen, guten Kaffee zu trinken bekommen hatte, war er lebhaft und zutraulich
geworden, und seine Fragen waren eifrig und eindringlich, so, als wolle er möglichst
schnell das Wichtigste erfahren, um dann selbstständig für K. und Frieda Entschlüsse
fassen zu können. Es war auch etwas Befehlshaberisches in seinem Wesen; aber es war mit
kindlicher Unschuld so gemischt, dass man sich ihm, halb aufrichtig, halb scherzend, gern
unterwarf. Jedenfalls nahm er alle Aufmerksamkeit für sich in Anspruch, alle Arbeit hatte
aufgehört, das Frühstück zog sich sehr in die Länge. Obwohl er in der Schulbank saß,
K. oben auf dem Kathedertisch, Frieda auf einem Sessel nebenan, sah es aus, als sei Hans
der Lehrer, als prüfe er und beurteile die Antworten; ein leichtes Lächeln um seinen
weichen Mund schien anzudeuten, dass er wohl wisse, es handle sich nur um ein Spiel, aber
desto ernsthafter war er im Übrigen bei der Sache, vielleicht war es auch gar kein
Lächeln, sondern das Glück der Kindheit, das die Lippen umspielte. Auffallend spät erst
hatte er zugegeben, dass er K. schon kannte, seit dieser einmal bei Lasemann eingekehrt
war. K. war glücklich darüber. »du spieltest damals zu Füßen der Frau?« fragte K.
»Ja«, sagte Hans, »es war meine Mutter.« Und nun musste er von seiner Mutter
erzählen, aber er tat es nur zögernd und erst auf wiederholte Aufforderung, es zeigte
sich nun doch, dass er ein kleiner Junge war, aus dem zwar manchmal, besonders in seinen
Fragen, vielleicht im Vorgefühl der Zukunft, vielleicht aber auch nur infolge der
Sinnestäuschung des unruhig-gespannten Zuhörers, fast ein energischer, kluger,
weitblickender Mann zu sprechen schien, der dann aber gleich darauf ohne Übergang nur ein
Schuljunge war, der manche Fragen gar nicht verstand, andere missdeutete, der in
kindlicher Rücksichtslosigkeit zu leise sprach, obwohl er oft auf den Fehler aufmerksam
gemacht worden war, und der schließlich wie aus Trotz gegenüber manchen dringenden
Fragen vollkommen schwieg, und zwar ganz ohne Verlegenheit, wie es ein Erwachsener niemals
könnte. Es war überhaupt, wie wenn seiner Meinung nach nur ihm das Fragen erlaubt sei,
durch das Fragen der anderen aber irgendeine Vorschrift durchbrochen und Zeit verschwendet
würde. Er konnte dann lange Zeit stillsitzen mit aufrechtem Körper, gesenktem Kopf,
aufgeworfener Unterlippe. Frieda gefiel das so, dass sie ihm öfters Fragen stellte, von
denen sie hoffte, dass sie ihn auf diese Weise verstummen lassen würden; es gelang ihr
auch manchmal, aber K. ärgerte es. Im Ganzen erfuhr man wenig. Die Mutter war ein wenig
kränklich, aber was für eine Krankheit es war, blieb unbestimmt, das Kind, das Frau
Brunswick auf dem Schoß gehabt hatte, war Hansens Schwester und hieß Frieda (die
Namensgleichheit mit der ihn ausfragenden Frau nahm Hans unfreundlich auf), sie wohnten
alle im Dorf, aber nicht bei Lasemann, sie waren dort nur zu Besuch gewesen, um gebadet zu
werden, weil Lasemann das große Schaff hatte, in dem zu baden und sich herumzutreiben den
kleinen Kindern, zu denen aber Hans nicht gehörte, ein besonderes Vergnügen machte; von
seinem Vater sprach Hans ehrfurchtsvoll oder ängstlich, aber nur, wenn nicht gleichzeitig
von der Mutter die Rede war, gegenüber der Mutter war des Vaters Wert offenbar klein,
übrigens blieben alle Fragen über das Familienleben, wie immer man auch heranzukommen
suchte, unbeantwortet. Vom Gewerbe des Vaters erfuhr man, dass er der größte Schuster
des Ortes war, keiner war ihm gleich, wie öfters auch auf ganz andere Fragen hin
wiederholt wurde, er gab sogar den andern Schustern, zum Beispiel auch dem Vater
Barnabas', Arbeit, in diesem letzten Falle tat es Brunswick wohl nur aus besonderer Gnade,
wenigstens deutete dies die stolze Kopfwendung Hansens an, welche Frieda veranlasste, zu
ihm hinunterzuspringen und ihm einen Kuss zu geben. Die Frage, ob er schon im Schloss
gewesen sei, beantwortete er erst nach vielen Wiederholungen, und zwar mit »Nein«; die
gleiche Frage hinsichtlich der Mutter beantwortete er gar nicht. Schließlich ermüdete
K.; auch ihm schien das Fragen unnütz, er gab darin dem Jungen Recht, auch war darin
etwas Beschämendes, auf dem Umweg über das unschuldige Kind Familiengeheimnisse
ausforschen zu wollen, doppelt beschämend allerdings war, dass man auch hier nichts
erfuhr. Und als dann K. zum Abschluss den Jungen fragte, worin er denn zu helfen sich
anbiete, wunderte er sich nicht mehr zu hören, dass Hans nur hier bei der Arbeit helfen
wolle, damit der Lehrer und die Lehrerin mit K. nicht mehr so zankten. K. erklärte Hans,
dass eine solche Hilfe nicht nötig sei, Zanken gehöre wohl zu des Lehrers Natur, und man
werde wohl auch durch genaueste Arbeit sich kaum davor schützen können, die Arbeit
selbst sei nicht schwer, und nur infolge zufälliger Umstände sei er mit ihr heute im
Rückstand, übrigens wirke auf K. dieses Zanken nicht so wie auf einen Schüler, er
schüttle es ab, es sei ihm fast gleichgültig, auch hoffe er, dem Lehrer sehr bald
völlig entgehen zu können. Da es sich also nur um Hilfe gegen den Lehrer gehandelt habe,
danke er dafür bestens und Hans könne wieder zurückgehen, hoffentlich werde er nicht
noch bestraft werden. Obwohl es K. gar nicht betonte und nur unwillkürlich andeutete,
dass es nur die Hilfe gegenüber dem Lehrer sei, die er nicht brauche, während er die
Frage nach anderer Hilfe offenl ess, hörte es Hans doch klar heraus und fragte, ob K.
vielleicht andere Hilfe brauche; sehr gern würde er ihm helfen, und wenn er es selbst
nicht im Stande wäre, würde er seine Mutter darum bitten, und dann würde es gewiss
gelingen. Auch wenn der Vater Sorgen hat, bittet er die Mutter um Hilfe. Und die Mutter
habe auch schon einmal nach K. gefragt, sie selbst gehe kaum aus dem Haus, nur
ausnahmsweise sei sie damals bei Lasemann gewesen; er, Hans, aber gehe öfters hin, um mit
Lasemanns Kindern zu spielen, und da habe ihn die Mutter einmal gefragt, ob dort
vielleicht wieder einmal der Landvermesser gewesen sei. Nun dürfe man die Mutter, weil
sie so schwach und müde sei, nicht unnütz aufregen, und so habe er nur einfach gesagt,
dass er den Landvermesser dort nicht gesehen habe, und weiter sei davon nicht gesprochen
worden; als er ihn nun aber hier in der Schule gefunden habe, habe er ihn ansprechen
müssen, damit er der Mutter berichten könne. Denn das habe die Mutter am liebsten, wenn
man, ohne ausdrücklichen Befehl, ihre Wünsche erfüllt. Darauf sagte K. nach kurzer
Überlegung, er brauche keine Hilfe, er habe alles, was er benötigte, aber es sei sehr
lieb von Hans, dass er ihm helfen wolle, und er danke ihm für die gute Absicht, es sei ja
möglich, dass er später einmal etwas brauchen werde, dann werde er sich an ihn wenden,
die Adresse habe er ja. Dagegen könne vielleicht er, K., diesmal ein wenig helfen, es tue
ihm Leid, dass Hansens Mutter kränkle und offenbar niemand hier das Leiden verstehe; in
einem solchen vernachlässigten Falle kann oft eine schwere Verschlimmerung eines an sich
leichten Leidens eintreten. Nun habe er, K., einige medizinische Kenntnisse und, was noch
mehr wert sei, Erfahrung in der Krankenbehandlung. Manches, was Ärzten nicht gelungen
sei, sei ihm geglückt. Zu Hause habe man ihn wegen seiner Heilwirkung immer »das bittere
Kraut« genannt. Jedenfalls würde er gern Hansens Mutter ansehen und mit ihr sprechen.
Vielleicht könnte er einen guten Rat geben, schon um Hansens willen täte er es gern.
Hansens Augen leuchteten bei diesem Angebot zuerst auf, verführten K. dazu, dringlicher
zu werden, aber das Ergebnis war unbefriedigend, denn Hans sagte auf verschiedene Fragen,
und war dabei nicht einmal sehr traurig, zur Mutter dürfe kein fremder Besuch kommen,
weil sie sehr schonungsbedürftig sei; obwohl doch K. damals kaum mit ihr gesprochen habe,
sei sie nachher einige Tage im Bett gelegen, was freilich öfters geschehe. Der Vater habe
sich damals aber über K. sehr geärgert, und er würde gewiss niemals erlauben, dass K.
zur Mutter komme; ja, er habe damals K. aufsuchen wollen, um ihn wegen seines Benehmens zu
strafen, nur die Mutter habe ihn davon zurückgehalten. Vor allem aber wolle die Mutter
selbst im Allgemeinen mit niemandem sprechen, und ihre Frage nach K. bedeutete keine
Ausnahme von der Regel, im Gegenteil, gerade gelegentlich seiner Erwähnung hätte sie den
Wunsch aussprechen können, ihn zu sehen, aber sie habe dies nicht getan und damit
deutlich ihren Willen geäußert. Sie wolle nur von K. hören, aber mit ihm sprechen wolle
sie nicht. Übrigens sei es gar keine eigentliche Krankheit, woran sie leide, sie wisse
sehr wohl die Ursache ihres Zustandes, und manchmal deute sie sie auch an: Es sei
wahrscheinlich die Luft hier, die sie nicht vertrage; aber sie wolle doch auch wieder den
Ort nicht verlassen, des Vaters und der Kinder wegen, auch sei es schon besser, als es
früher gewesen war. Das war es etwa, was K. erfuhr, die Denkkraft Hansens steigerte sich
sichtlich, da er seine Mutter vor K. schützen sollte, vor K., dem er angeblich hatte
helfen wollen; ja, zu dem guten Zwecke, K. von der Mutter abzuhalten, widersprach er in
manchem sogar seinen eigenen früheren Aussagen, zum Beispiel hinsichtlich der Krankheit.
Trotzdem aber merkte K. auch jetzt, dass Hans ihm noch immer gutgesinnt war, nur vergaß
er über der Mutter alles andere; wen immer man gegenüber der Mutter aufstellte, er kam
gleich ins Unrecht, jetzt war es K. gewesen, aber es konnte zum Beispiel auch der Vater
sein. K. wollte dieses letztere versuchen und sagte, es sei gewiss sehr vernünftig vom
Vater, dass er die Mutter vor jeder Störung so behüte, und wenn er, K., damals etwas
Ähnliches nur geahnt hätte, hätte er gewiss die Mutter nicht anzusprechen gewagt, und
er lasse jetzt noch nachträglich zu Hause um Entschuldigung bitten. Dagegen könne er
nicht ganz verstehen, warum der Vater, wenn die Ursache des Leidens so klargestellt sei,
wie Hans sagte, die Mutter zurückhalte, sich in anderer Luft zu erholen; man müsse
sagen, dass er sie zurückhalte, denn sie gehe nur der Kinder und seinetwegen nicht fort,
die Kinder aber könnte sie mitnehmen, sie müsste ja nicht für lange Zeit fortgehen und
auch nicht sehr weit, schon oben auf dem Schlossberg sei die Luft ganz anders. Die Kosten
eines solchen Ausflugs müsse der Vater nicht fürchten, er sei ja der größte Schuster
im Ort, und gewiss habe auch er oder die Mutter Verwandte oder Bekannte im Schloss, die
sie gern aufnehmen würden. Warum lasse er sie nicht fort? Er möge ein solches Leiden
nicht unterschätzen; K. habe ja die Mutter nur flüchtig gesehen, aber eben ihre
auffallende Blässe und Schwäche habe ihn dazu bewogen, sie anzusprechen; schon damals
habe er sich gewundert, dass der Vater in der schlechten Luft des allgemeinen Bade- und
Waschraumes die kranke Frau gelassen und sich auch in seinen lauten Reden keine
Zurückhaltung auferlegt habe. Der Vater wisse wohl nicht, worum es sich handle; mag sich
auch das Leiden in der letzten Zeit vielleicht gebessert haben, ein solches Leiden hat
Launen, aber schließlich kommt es doch, wenn man es nicht bekämpft, mit gesammelter
Kraft, und nichts kann dann mehr helfen. Wenn K. schon nicht mit der Mutter sprechen
könne, wäre es doch vielleicht gut, wenn er mit dem Vater sprechen und ihn auf dies
alles aufmerksam machen würde.
Hans hatte gespannt zugehört, das meiste verstanden, die Drohung des unverständlichen
Restes stark empfunden. Trotzdem sagte er, mit dem Vater könne K. nicht sprechen, der
Vater habe eine Abneigung gegen ihn, und er würde ihn wahrscheinlich wie der Lehrer
behandeln. Er sagte dies lächelnd und schüchtern, wenn er von K. sprach, und verbissen
und traurig, wenn er den Vater erwähnte. Doch fügte er hinzu, dass K. vielleicht doch
mit der Mutter sprechen könnte, aber nur ohne Wissen des Vaters. Dann dachte Hans mit
starrem Blick ein Weilchen nach, ganz wie eine Frau, die etwas Verbotenes tun will und
eine Möglichkeit sucht, es ungestraft auszuführen, und sagte, übermorgen wäre es
vielleicht möglich, der Vater gehe abends in den Herrenhof, er habe dort Besprechungen,
da werde er, Hans, abends kommen und K. zur Mutter führen, vorausgesetzt allerdings, dass
die Mutter zustimme, was noch sehr unwahrscheinlich sei. Vor allem tue sie ja nichts gegen
den Willen des Vaters, in allem füge sie sich ihm, auch in Dingen, deren Unvernunft
selbst er, Hans, klar einsehe. Wirklich suchte nun Hans bei K. Hilfe gegen den Vater; es
war, als habe er sich selbst getäuscht, da er geglaubt hatte, er wolle K. helfen,
während er in Wirklichkeit hatte ausforschen woller, ob nicht vielleicht, da niemand aus
der alten Umgebung hatte helfen können, dieser plötzlich erschienene und nun von der
Mutter sogar erwähnte Fremde dies im Stande sei. Wie unbewusst verschlossen, fast
hinterhältig war der Junge. Es war bisher aus seiner Erscheinung und seinen Worten kaum
zu entnehmen gewesen; erst aus den förmlich nachträglichen, durch Zufall und Absicht
hervorgeholten Geständnissen merkte man es. Und nun überlegte er in langen Gesprächen
mit K., welche Schwierigkeiten zu überwinden wären. Es waren, beim besten Willen
Hansens, fast unüberwindliche Schwierigkeiten; ganz in Gedanken und doch Hilfe suchend,
sah er mit unruhig zwinkernden Augen K. immerfort an. Vor des Vaters Weggang durfte er der
Mutter nichts sagen, sonst erfuhr es der Vater, und alles war unmöglich gemacht, also
erst später durfte er es erwähnen; aber auch jetzt, mit Rücksicht auf die Mutter, nicht
plötzlich und schnell, sondern langsam und bei passender Gelegenheit; dann erst musste er
der Mutter Zustimmung erbitten, dann erst konnte er K. holen; war es aber dann nicht schon
zu spät, drohte nicht schon des Vaters Rückkehr? Nein, es war doch unmöglich. K. bewies
dagegen, dass es nicht unmöglich war. Dass die Zeit nicht ausreichen werde, davor müsse
man sich nicht fürchten, ein kurzes Gespräch, ein kurzes Beisammensein genüge, und
holen müsse Hans K. nicht. K. werde irgendwo in der Nähe des Hauses versteckt warten,
und auf ein Zeichen Hansens werde er gleich kommen. Nein, sagte Hans, beim Haus warten
dürfe K. nicht wieder war es die Empfindlichkeit wegen seiner Mutter, die ihn
beherrschte , ohne Wissen der Mutter dürfe K. sich nicht auf den Weg machen, in ein
solches vor der Mutter geheimes Einverständnis dürfe Hans mit K. nicht eintreten; er
müsse K. aus der Schule holen, und nicht früher, als es die Mutter wisse und erlaube.
Gut, sagte K., dann sei es ja wirklich gefährlich, und es sei dann möglich, dass der
Vater ihn im Hause ertappen werde; und wenn schon dies nicht geschehen sollte, so wird
doch die Mutter in Angst davor K. überhaupt nicht kommen lassen, und so werde doch alles
am Vater scheitern. Dagegen wehrte sich wieder Hans, und so ging der Streit hin und her.
Längst schon hatte K. Hans aus der Bank zum Katheder gerufen, hatte ihn zu sich
zwischen die Knie gezogen und streichelte ihn manchmal begütigend. Diese Nähe trug auch
dazu bei, trotz Hansens zeitweiligem Widerstreben ein Einvernehmen herzustellen. Man
einigte sich schließlich auf folgendes: Hans werde zunächst der Mutter die volle
Wahrheit sagen; jedoch, um ihr die Zustimmung zu erleichtern, hinzufügen, dass K. auch
mit Brunswick selbst sprechen wolle, allerdings nicht wegen der Mutter, sondern wegen
seiner Angelegenheiten. Dies war auch richtig, im Laufe des Gesprächs war es K.
eingefallen, dass ja Brunswick, mochte er auch sonst ein gefährlicher und böser Mensch
sein, sein Gegner eigentlich nicht mehr sein konnte, war er doch, wenigstens nach dem
Bericht des Gemeindevorstehers, der Führer derjenigen gewesen, welche, sei es auch aus
politischen Gründen, die Berufung eines Landvermessers verlangt hatten. K.s Ankunft im
Dorf musste also für Brunswick willkommen sein; dann waren allerdings die ärgerliche
Begrüßung am ersten Tag und die Abneigung, von der Hans sprach, fast unverständlich;
vielleicht aber war Brunswick gerade deshalb gekränkt, weil sich K. nicht zuerst an ihn
um Hilfe gewendet hatte, vielleicht lag ein anderes Missverständnis vor, das durch ein
paar Worte aufgeklärt werden konnte. Wenn das aber geschehen war, dann konnte K. in
Brunswick Recht wohl einen Rückhalt gegenüber dem Lehrer, ja sogar gegenüber dem
Gemeindevorsteher bekommen, der ganze amtliche Trug was war es denn anderes?
, mit welchem der Gemeindevorsteher und der Lehrer ihn von den Schlossbehörden
abhielten und in die Schuldienerstellung zwängten, konnte aufgedeckt werden; kam es
neuerlich zu einem um K. geführten Kampf zwischen Brunswick und dem Gemeindevorsteher,
musste Brunswick K. an seine Seite ziehen, K. würde Gast in Brunswicks Hause werden,
Brunswicks Machtmittel würden ihm zur Verfügung gestellt werden, dem Gemeindevorsteher
zum Trotz; wer weiß, wohin er dadurch gelangen würde, und in der Nähe der Frau würde
er jedenfalls häufig sein so spielte er mit den Träumen und sie mit ihm, während
Hans, nur in Gedanken an die Mutter, das Schweigen K.s sorgenvoll beobachtete, so, wie man
es gegenüber einem Arzte tut, der in Nachdenken versunken ist, um für einen schweren
Fall ein Hilfsmittel zu finden. Mit diesem Vorschlag K.s, dass er mit Brunswick wegen der
Landvermesserstellung sprechen wolle, war Hans einverstanden, allerdings nur deshalb, weil
dadurch seine Mutter vor dem Vater geschützt war und es sich überdies nur um einen
Notfall handelte, der hoffentlich nicht eintreten würde. Er fragte nur noch, wie K. die
späte Stunde des Besuches dem Vater erklären würde, und begnügte sich schließlich,
wenn auch mit ein wenig verdüstertem Gesicht, damit, dass K. sagen würde, die
unerträgliche Schuldienerstellung und die entsprechende Behandlung durch den Lehrer habe
ihn in plötzlicher Verzweiflung alle Rücksicht vergessen lassen.
Als nun auf diese Weise alles, soweit man sehen konnte, vorbedacht und die Möglichkeit
des Gelingens doch wenigstens nicht mehr ausgeschlossen war, wurde Hans, von der Last des
Nachdenkens befreit, fröhlicher, plauderte noch ein Weilchen kindlich, zuerst mit K. und
dann auch mit Frieda, die lange wie in ganz anderen Gedanken dagesessen war und jetzt erst
wieder an dem Gespräch teilzunehmen begann. Unter anderem fragte sie ihn, was er werden
wolle; er überlegte nicht viel und sagte, er wolle ein Mann werden wie K. Als er dann
nach seinen Gründen gefragt wurde, wusste er freilich nicht zu antworten, und die Frage,
ob er etwa Schuldiener werden wolle, verneinte er mit Bestimmtheit. Erst als man weiter
fragte, erkannte man, auf welchem Umweg er zu seinem Wunsche gekommen war. Die
gegenwärtige Lage K.s war keineswegs beneidenswert, sondern traurig und verächtlich, das
sah auch Hans genau, und er brauchte, um das zu erkennen, gar nicht andere Leute zu
beobachten; er selbst hätte am liebsten die Mutter vor jedem Blick und Wort K.s bewahren
wollen. Trotzdem aber kam er zu K. und bat ihn um Hilfe und war glücklich, wenn K.
zustimmte, auch bei anderen Leuten glaubte er Ähnliches zu erkennen, und vor allem hatte
doch die Mutter selbst K. erwähnt. Aus diesem Widerspruch entstand in ihm der Glaube,
jetzt sei zwar K. noch niedrig und abschreckend, aber in einer allerdings fast
unvorstellbar fernen Zukunft werde er doch alle übertreffen. Und eben diese geradezu
törichte Ferne und die stolze Entwicklung, die in sie führen sollte, lockten Hans: um
diesen Preis wollte er sogar den gegenwärtigen K. in Kauf nehmen. Das besonders
Kindlich-Altkluge dieses Wunsches bestand darin, dass Hans auf K. herabsah wie auf einen
Jüngeren, dessen Zukunft sich weiter dehne als seine eigene, die Zukunft eines kleinen
Knaben. Und es war auch ein fast trüber Ernst, mit dem er, durch Fragen Friedas immer
wieder gezwungen, von diesen Dingen sprach. Erst K. heiterte ihn wieder auf, als er sagte,
er wisse, worum ihn Hans beneide, es handle sich um seinen schönen Knotenstock, der auf
dem Tisch lag und mit dem Hans, zerstreut im Gespräch, gespielt hatte. Nun, solche
Stöcke verstehe K. herzustellen, und er werde, wenn ihr Plan geglückt sei, Hans einen
noch schöneren machen. Es war jetzt nicht mehr ganz deutlich, ob nicht Hans wirklich nur
den Stock gemeint hatte, so freute er sich über K.s Versprechen und nahm fröhlichen
Abschied, nicht ohne K. fest die Hand zu drücken und zu sagen: »Also übermorgen.«
Es war höchste Zeit, dass Hans weggegangen war, denn kurz darauf riss der Lehrer die
Tür auf und schrie, als er K. und Frieda ruhig bei Tisch sitzen sah: »Verzeiht die
Störung! Aber sagt mir, warn wird endlich hier aufgeräumt sein? Wir müssen drüben
zusammengepfercht sitzen, der Unterricht leidet, ihr aber dehnt und streckt euch hier im
großen Turnzimmer, und um noch mehr Platz zu haben, habt ihr auch noch die Gehilfen
weggeschickt! Jetzt aber steht wenigstens auf und rührt euch!« Und nur zu K.: »du holst
mir jetzt das Gabelfrühstück aus dem Brückenhof!«
Das alles war wütend geschrien, aber die Worte waren verhältnismäßig sanft, selbst
das an sich grobe du. K. war sofort bereit zu folgen; nur um den Lehrer auszuhorchen,
sagte er: »Ich b.n doch gekündigt.« »Gekündigt oder nicht gekündigt, hol mir
das Gabelfrühstück«, sagte der Lehrer. »Gekündigt oder nicht gekündigt, das eben
will ich wissen«, sagte K. »Was schwätzt du?« sagte der Lehrer. »du hast doch die
Kündigung nicht angenommen.« »Das genügt, um sie unwirksam zu machen?« fragte
K. »Mir nicht«, sagte der Lehrer, »das darfst du mir glauben, wohl aber dem
Gemeindevorsteher, unbegreiflicherweise. Nun aber lauf, sonst fliegst du wirklich
hinaus.« K. war zufrieden, der Lehrer hatte also mit dem Gemeindevorsteher inzwischen
gesprochen oder vielleicht gar nicht gesprochen, sondern nur des Gemeindevorstehers
voraussichtliche Meinung sich zurechtgelegt, und diese lautete zu K.s Gunsten. Nun wollte
K. gleich um das Gabelfrühstück eilen, aber noch aus dem Gang rief ihn der Lehrer wieder
zurück; sei es, dass er die Dienstwilligkeit K.s durch diesen besonderen Befehl nur hatte
erproben wollen, um sich danach weiterhin richten zu können, sei es, dass er nun wieder
neue Lust zum Kommandieren bekam und es ihn freute, K. eilig laufen und dann auf seinen
Befehl hin wie einen Kellner ebenso eilig wieder wenden zu lassen. K. seinerseits wusste,
dass er durch allzu großes Nachgeben sich zum Sklaven und Prügeljungen des Lehrers
machen würde, aber bis zu einer gewissen Grenze wollte er jetzt die Launen des Lehrers
geduldig hinnehmen, denn wenn ihm auch der Lehrer, wie sich gezeigt hatte, rechtmäßig
nicht kündigen konnte, qualvoll bis zum Unerträglichen konnte er die Stellung gewiss
machen. Aber gerade an dieser Stellung lag jetzt K. mehr als früher. Das Gespräch mit
Hans hatte ihm neue, zugegebenermaßen unwahrscheinliche, völlig grundlose, aber nicht
mehr zu vergessende Hoffnungen gemacht; sie verdeckten sogar fast Barnabas. Wenn er ihnen
nachging, und er konnte nicht anders, so musste er alle seine Kraft darauf sammeln, sich
um nichts anderes sorgen, nicht um das Essen, die Wohnung, die Dorfbehörden, ja selbst um
Frieda nicht; und im Grunde handelte es sich ja nur um Frieda, denn alles kümmerte ihn ja
nur mit Bezug auf sie. Deshalb musste er diese Stellung, welche Frieda einige Sicherheit
gab, zu behalten suchen, und es durfte ihn nicht reuen, im Hinblick auf diesen Zweck mehr
vom Lehrer zu dulden, als er sonst zu dulden über sich gebracht hätte. Das alles war
nicht allzu schmerzlich, es gehörte in die Reihe der fortwährenden kleinen Leiden des
Lebens, es war nichts im Vergleich zu dem, was K. erstrebte, und er war nicht hergekommen,
um ein Leben in Ehren und Frieden zu führen.
Und so war er, wie er gleich hatte ins Wirtshaus laufen wollen, auf den geänderten
Befehl hin auch gleich wieder bereit, zuerst das Zimmer in Ordnung zu bringen, damit die
Lehrerin mit ihrer Klasse wieder herüberkommen könne. Aber es musste sehr schnell
Ordnung gemacht werden, denn nachher sollte K. doch das Gabelfrühstück holen, und der
Lehrer hatte schon großen Hunger und Durst. K. versicherte, es werde alles nach Wunsch
geschehen; ein Weilchen sah der Lehrer zu, wie K. sich beeilte, die Lagerstätte
wegräumte, die Turngeräte zurechtschob, im Fluge auskehrte, während Frieda das Podium
wusch und rieb. Der Eifer schien den Lehrer zu befriedigen; er machte noch darauf
aufmerksam, dass vor der Tür ein Haufen Holz zum Heizen vorbereitet sei zum
Schuppen wollte er K. wohl nicht mehr zulassen , und ging dann mit der Drohung, bald
wiederzukommen und nachzuschauen, zu den Kindern hinüber.
Nach einer Weile schweigenden Arbeitens fragte Frieda, warum sich denn K. jetzt dem
Lehrer so sehr füge. Es war wohl eine mitleidige, sorgenvolle Frage, aber K., der daran
dachte, wie wenig es Frieda gelungen war, nach ihrem ursprünglichen Versprechen ihn vor
den Befehlen und Gewalttätigkeiten des Lehrers zu bewahren, sagte nur kurz, dass er nun,
da er einmal Schuldiener geworden sei, den Posten auch ausfüllen müsse. Dann war es
wieder stille, bis K. gerade durch das kurze Gespräch daran erinnert, dass Frieda
schon so lange wie in sorgenvollen Gedanken verloren gewesen war, vor allem fast während
des ganzen Gespräches mit Hans sie jetzt, während er das Holz hereintrug, offen
fragte, was sie denn beschäftige. Sie antwortete, langsam zu ihm aufblickend, es sei
nichts Bestimmtes; sie denke nur an die Wirtin und an die Wahrheit mancher ihrer Worte.
Erst als K. in sie drang, antwortete sie nach mehreren Weigerungen ausführlicher, ohne
aber hierbei von ihrer Arbeit abzulassen, was sie nicht aus Fleiß tat, denn die Arbeit
ging dabei doch gar nicht vorwärts, sondern nur, um nicht gezwungen zu sein, K.
anzusehen. Und nun erzählte sie, wie sie bei K.s Gespräch mit Hans zuerst ruhig
zugehört habe, wie sie dann, durch einige Worte K.s aufgeschreckt, schärfer den Sinn der
Worte zu erfassen angefangen habe und wie sie von nun ab nicht mehr habe aufhören
können, in K.s Worten Bestätigungen einer Mahnung zu hören, die sie der Wirtin
verdanke, an deren Berechtigung sie aber niemals hatte glauben wollen. K., ärgerlich
über die allgemeinen Redewendungen und selbst durch die tränenvolle, klagende Stimme
mehr gereizt als gerührt vor allem, weil sich die Wirtin nun wieder in sein Leben
mischte, wenigstens durch Erinnerungen, da sie in Person bis jetzt wenig Erfolg gehabt
hatte , warf das Holz, das er in den Armen trug, zu Boden, setzte sich darauf und
verlangte nun mit ernsten Worten völlige Klarheit. »Schon öfters«, begann Frieda,
»gleich anfangs, hat sich die Wirtin bemüht, mich an dir zweifeln zu machen, sie
behauptete nicht, dass du lügst, im Gegenteil, sie sagte, du seist kindlich offen, aber
dein Wesen sei so verschieden von dem unseren, dass wir, selbst wenn du offen sprichst,
dir zu glauben uns schwer überwinden können, und wenn nicht eine gute Freundin uns
früher rettet, erst durch bittere Erfahrung zu glauben uns gewöhnen müssen. Selbst ihr,
die einen so scharfen Blick für Menschen hat, sei es kaum anders ergangen. Aber nach dem
letzten Gespräch mit dir im Brückenhof sei sie ich wiederhole nur ihre bösen
Worte auf deine Schliche gekommen, jetzt könntest du sie nicht mehr täuschen,
selbst wenn du dich anstrengtest, deine Absichten zu verbergen. Aber du verbirgst ja
nichts, das sagte sie immer wieder, und dann sagte sie noch: Streng dich doch an, ihm bei
beliebiger Gelegenheit wirklich zuzuhören, nicht nur oberflächlich, nein, wirklich
zuzuhören. Nichts weiter als dieses habe sie getan und dabei hinsichtlich meiner
Folgendes etwa herausgehört: du hast dich an mich herangemacht sie gebrauchte
dieses schmähliche Wort nur deshalb, weil ich dir zufällig in den Weg kam, dir
nicht gerade missfiel und weil du ein Ausschankmädchen sehr irrigerweise für das
vorbestimmte Opfer jedes die Hand ausstreckenden Gastes hältst. Außerdem wolltest du,
wie die Wirtin vom Herrenhofwirt erfahren hat, aus irgendwelchen Gründen damals im
Herrenhof übernachten, und das war allerdings überhaupt nicht anders als durch mich zu
erlangen. Das alles wäre genügender Anlass gewesen, dich zu meinem Liebhaber für jene
Nacht zu machen; damit aber mehr daraus würde, brauchte es auch mehr, und dieses Mehr war
Klamm. Die Wirtin behauptet nicht zu wissen, was du von Klamm willst, sie behauptet nur,
dass du, ehe du mich kanntest, ebenso heftig zu Klamm strebtest wie nachher. Der
Unterschied habe nur darin bestanden, dass du früher hoffnungslos warst, jetzt aber in
mir ein zuverlässiges Mittel zu haben glaubtest, wirklich und bald und sogar mit
Überlegenheit zu Klamm vorzudringen. Wie erschrak ich aber das war nur erst
flüchtig, ohne tieferen Grund , als du heute einmal sagtest, ehe du mich kanntest,
wärest du hier in die Irre gegangen. Es sind vielleicht die gleichen Worte, welche die
Wirtin gebrauchte; auch sie sagt, dass du erst, seit du mich kanntest, zielbewusst
geworden bist. Das sei daher gekommen, dass du glaubtest, in mir eine Geliebte Klamms
erobert zu haben und dadurch ein Pfand zu besitzen, das nur zum höchsten Preise
ausgelöst werden könne. Über diesen Preis mit Klamm zu verhandeln, sei dein einziges
Bestreben. Da dir an mir nichts, am Preise alles liegt, seist du hinsichtlich meiner zu
jedem Entgegenkommen bereit, hinsichtlich des Preises hartnäckig. Deshalb ist es dir
gleichgültig, dass ich die Stelle im Herrenhof verliere, gleichgültig, dass ich auch den
Brückenhof verlassen muss, gleichgültig, dass ich die schwere Schuldienerarbeit werde
leisten müssen. Du hast keine Zärtlichkeit, ja nicht einmal Zeit mehr für mich, du
überlässt mich den Gehilfen, Eifersucht kennst du nicht, mein einziger Wert für dich
ist, dass ich Klamms Geliebte war, in deiner Unwissenheit strengst du dich an, mich Klamm
nicht vergessen zu lassen, damit ich am Ende nicht zu sehr widerstrebe, wenn der
entscheidende Zeitpunkt gekommen ist; dennoch kämpfst du auch gegen die Wirtin, der
allein du es zutraust, dass sie mich dir entreißen könnte, darum triebst du den Streit
mit ihr auf die Spitze, um den Brückenhof mit mir verlassen zu müssen; dass ich, soweit
es nur an mir liegt, unter allen Umständen dein Besitz bin, daran zweifelst du nicht. Die
Unterredung mit Klamm stellst du dir als ein Geschäft vor, bar gegen bar. Du rechnest mit
allen Möglichkeiten; vorausgesetzt, dass du den Preis erreichst, bist du bereit, alles zu
tun; will mich Klamm, wirst du mich ihm geben; will er, dass du bei mir bleibst, wirst du
bleiben; will er, dass du mich verstößt, wirst du mich verstoßen; aber du bist auch
bereit, Komödie zu spielen; wird es vorteilhaft sein, so wirst du vorgeben, mich zu
lieben, seine Gleichgültigkeit wirst du dadurch zu bekämpfen suchen, dass du deine
Nichtigkeit hervorhebst und ihn durch die Tatsache deiner Nachfolgerschaft beschämst,
oder dadurch, dass du meine Liebesgeständnisse hinsichtlich seiner Person, die ich ja
wirklich gemacht habe, ihm übermittelst und ihn bittest, er möge mich wieder aufnehmen,
unter Zahlung des Preises allerdings; und hilft nichts anderes, dann wirst du im Namen des
Ehepaares K. einfach betteln. Wenn du aber dann, so schloss die Wirtin, sehen wirst, dass
du dich in allem getäuscht hast, in deinen Annahmen und in deinen Hoffnungen, in deiner
Vorstellung von Klamm und seinen Beziehungen zu mir, dann wird meine Hölle beginnen, denn
dann werde ich erst recht dein einziger Besitz sein, auf den du angewiesen bleibst, aber
zugleich ein Besitz, der sich als wertlos erwiesen hat und den du entsprechend behandeln
wirst, da du kein anderes Gefühl für mich hast als das des Besitzers.«
Gespannt, mit zusammengezogenem Mund, hatte K. zugehört, das Holz unter ihm war ins
Rollen gekommen, er war fast auf den Boden geglitten, er hatte es nicht beachtet; erst
jetzt stand er auf, setzte sich auf das Podium, nahm Friedas Hand, die sich ihm schwach zu
entziehen suchte, und sagte: »Ich habe in dem Bericht deine und der Wirtin Meinung nicht
immer voneinander unterscheiden können.« »Es war nur die Meinung der Wirtin«,
sagte Frieda. »Ich habe allem zugehört, weil ich die Wirtin verehre; aber es war das
erste Mal in meinem Leben, dass ich ihre Meinung ganz und gar verwarf. So kläglich schien
mir alles, was sie sagte, so fern jedem Verständnis dessen, wie es mit uns zweien stand.
Eher schien mir das vollkommene Gegenteil dessen, was sie sagte, richtig. Ich dachte an
den trüben Morgen nach unserer ersten Nacht, wie du neben mir knietest mit einem Blick,
als sei alles verloren. Und wie es sich dann auch wirklich so gestaltete, dass ich, so
sehr ich mich anstrengte, dir nicht half, sondern dich hinderte. Durch mich wurde die
Wirtin deine Feindin, eine mächtige Feindin, die du noch immer unterschätzt;
meinetwegen, für die du solche Sorgen hattest, musstest du um deine Stelle kämpfen,
warst im Nachteil gegenüber dem Gemeindevorsteher, musstest dich dem Lehrer unterwerfen,
warst den Gehilfen ausgeliefert, das Schlimmste aber: um meinetwillen hattest du dich
vielleicht gegen Klamm vergangen. Dass du jetzt immerfort zu Klamm gelangen wolltest, war
ja nur das ohnmächtige Streben, ihn irgendwie zu versöhnen. Und ich sagte mir, dass die
Wirtin, die dies alles gewiss viel besser wisse als ich, mich mit ihren Einflüsterungen
nur vor allzuschlimmen Selbstvorwürfen bewahren wollte. Gut gemeinte, aber überflüssige
Mühe. Meine Liebe zu dir hätte mir über alles hinweggeholfen, sie hätte schließlich
auch dich vorwärtsgetragen, wenn nicht hier im Dorf, so anderswo; einen Beweis ihrer
Kraft hatte sie ja schon gegeben, vor der Barnabasschen Familie hat sie dich gerettet.«
»Das war damals also deine Gegenmeinung«, sagte K., »und was hat sich seitdem
geändert?« »Ich weiß nicht«, sagte Frieda und blickte auf K.s Hand, welche die
ihre hielt, »vielleicht hat sich nichts geändert; wenn du so nahe bei mir bist und so
ruhig fragst, dann glaube ich, dass sich nichts geändert hat. In Wirklichkeit aber«
sie nahm K. ihre Hand fort, saß ihm aufrecht gegenüber und weinte, ohne ihr
Gesicht zu bedecken; frei hielt sie ihm dieses tränenüberflossene Gesicht entgegen, so,
als weine sie nicht über sich selbst und habe also nichts zu verbergen, sondern als weine
sie über K.s Verrat und so gebühre ihm auch der Jammer ihres Anblicks , »in
Wirklichkeit aber hat sich alles geändert, seit ich dich mit dem Jungen habe sprechen
hören. Wie unschuldig hast du begonnen, fragtest nach den häuslichen Verhältnissen,
nach dem und jenem; mir war, als kämst du gerade in den Ausschank, zutunlich,
offenherzig, und suchtest so kindlich-eifrig meinen Blick. Es war kein Unterschied gegen
damals, und ich wünschte nur, die Wirtin wäre hier, hörte dir zu und versuchte dann
noch, an ihrer Meinung festzuhalten. Dann aber, plötzlich, ich weiß nicht, wie es
geschah, merkte ich, in welcher Absicht du mit dem Jungen sprachst. Durch die
teilnehmenden Worte gewannst du sein nicht leicht zu gewinnendes Vertrauen, um dann
ungestört auf dein Ziel loszugehen, das ich mehr und mehr erkannte. Dieses Ziel war die
Frau. Aus deinen ihretwegen scheinbar besorgten Reden sprach gänzlich unverdeckt nur die
Rücksicht auf deine Geschäfte. Du betrogst die Frau, noch ehe du sie gewonnen hast.
Nicht nur meine Vergangenheit, auch meine Zukunft hörte ich aus deinen Worten; es war
mir, als sitze die Wirtin neben mir und erkläre mir alles, und ich suche sie mit allen
Kräften wegzudrängen, sehe aber klar die Hoffnungslosigkeit solcher Anstrengung, und
dabei war es ja eigentlich gar nicht mehr ich, die betrogen wurde nicht einmal
betrogen wurde ich schon , sondern die fremde Frau. Und als ich mich dann noch
aufraffte und Hans fragte, was er werden wolle, und er sagte, er wolle werden wie du, dir
also schon so vollkommen gehörte, was war denn jetzt für ein großer Unterschied
zwischen ihm, dem guten Jungen, der hier missbraucht wurde, und mir, damals im
Ausschank?«
»Alles«, sagte K., durch die Gewöhnung an den Vorwurf hatte er sich gefasst,
»alles, was du sagst, ist in gewissem Sinne richtig; unwahr ist es nicht, nur feindselig
ist es. Es sind Gedanken der Wirtin, meiner Feindin, auch wenn du glaubst, dass es deine
eigenen sind, das tröstet mich. Aber lehrreich sind sie, man kann noch manches von der
Wirtin lernen. Mir selbst hat sie es nicht gesagt, obwohl sie mich sonst nicht geschont
hat; offenbar hat sie dir diese Waffe anvertraut in der Hoffnung, dass du sie in einer
für mich besonders schlimmen oder entscheidungsreichen Stunde anwenden würdest.
Missbrauche ich dich, so missbraucht sie dich ähnlich. Nun aber, Frieda, bedenke: auch
wenn alles ganz genau so wäre, wie es die Wirtin sagt, wäre es sehr arg nur in einem
Falle, nämlich, wenn du mich nicht lieb hast. Dann, nur dann wäre es wirklich so, dass
ich mit Berechnung und List dich gewonnen habe, um mit diesem Besitz zu wuchern.
Vielleicht gehörte es dann schon sogar zu meinem Plan, dass ich damals, um dein Mitleid
hervorzulocken, Arm in Arm mit Olga vor dich trat, und die Wirtin hat nur vergessen, dies
noch in meiner Schuldrechnung zu erwähnen. Wenn es aber nicht der arge Fall ist und nicht
ein schlaues Raubtier dich damals an sich gerissen hat, sondern du mir entgegenkamst, so
wie ich dir entgegenkam und wir uns fanden, selbstvergessen beide, sag, Frieda, wie ist es
denn dann? Dann führe ich doch meine Sache so wie deine; es ist hier kein Unterschied,
und sondern kann nur eine Feindin. Das gilt überall, auch hinsichtlich Hansens. Bei
Beurteilung des Gespräches mit Hans übertreibst du übrigens in deinem Zartgefühl sehr,
denn wenn sich Hansens und meine Absichten nicht ganz decken, so geht das doch nicht so
weit, dass etwa ein Gegensatz zwischen ihnen bestünde, außerdem ist ja Hans unsere
Unstimmigkeit nicht verborgen geblieben, glaubst du das, so würdest du diesen
vorsichtigen kleinen Mann sehr unterschätzen, und selbst wenn ihm alles verborgen
geblieben sein sollte, so wird doch daraus niemandem ein Leid entstehen, das hoffe ich.«
»Es ist so schwer, sich zurechtzufinden, K.«, sagte Frieda und seufzte. »Ich habe
gewiss kein Misstrauen gegen dich gehabt, und ist etwas Derartiges von der Wirtin auf mich
übergegangen, werde ich es glückselig abwerfen und dich auf den Knien um Verzeihung
bitten, wie ich es eigentlich die ganze Zeit über tue, wenn ich auch noch so böse Dinge
sage. Wahr aber bleibt, dass du viel vor mir geheim hältst; du kommst und gehst, ich
weiß nicht woher und wohin. Damals, als Hans klopfte, hast du sogar den Namen
Barnabas gerufen. Hättest du doch nur einmal so liebend mich gerufen wie
damals aus mir unverständlichem Grund diesen verhassten Namen. Wenn du kein Vertrauen zu
mir hast, wie soll dann bei mir nicht Misstrauen entstehen; bin ich dann doch völlig der
Wirtin überlassen, die du durch dein Verhalten zu bestätigen scheinst. Nicht in allem,
ich will nicht behaupten, dass du sie in allem bestätigst; hast du denn nicht doch
immerhin meinetwegen die Gehilfen verjagt? Ach, wüsstest du doch, mit welchem Verlangen
ich in allem, was du tust und sprichst, auch wenn es mich quält, einen für mich guten
Kern suche.« »Vor allem, Frieda«, sagte K., »ich verberge dir doch nicht das
geringste. Wie mich die Wirtin hasst und wie sie sich anstrengt, dich mir zu entreißen,
und mit was für verächtlichen Mitteln sie das tut und wie du ihr nachgibst, Frieda, wie
du ihr nachgibst! Sag doch, worin verberge ich dir etwas? Dass ich zu Klamm gelangen will,
weißt du, dass du mir dazu nicht verhelfen kannst und dass ich es daher auf eigene Faust
erreichen muss, weißt du auch, dass es mir bisher noch nicht gelungen ist, siehst du.
Soll ich nun durch Erzählen der nutzlosen Versuche, die mich schon in der Wirklichkeit
reichlich demütigen, doppelt mich demütigen? Soll ich mich etwa dessen rühmen, am
Schlag des Klammschen Schlittens frierend, einen langen Nachmittag vergeblich gewartet zu
haben? Glücklich, nicht mehr an solche Dinge denken zu müssen, eile ich zu dir, und nun
kommt mir wieder alles dieses drohend aus dir entgegen. Und Barnabas? Gewiss, ich erwarte
ihn. Er ist der Bote Klamms; nicht ich habe ihn dazu gemacht.« »Wieder
Barnabas!« rief Frieda. »Ich kann nicht glauben, dass er ein guter Bote ist.«
»du hast vielleicht recht«, sagte K., »aber er ist der einzige Bote, der mir geschickt
wird.« »Desto schlimmer«, sagte Frieda, »desto mehr solltest du dich vor ihm
hüten.« »Er hat mir leider bisher keinen Anlass hierzu gegeben«, sagte K.
lächelnd. »Er kommt selten, und was er bringt, ist belanglos; nur dass es geradewegs von
Klamm herrührt, macht es wertvoll.« »Aber sieh nur«, sagte Frieda, »es ist ja
nicht einmal mehr Klamm dein Ziel, vielleicht beunruhigt mich das am meisten. Dass du dich
immer über mich hinweg zu Klamm drängtest, war schlimm, dass du jetzt von Klamm
abzukommen scheinst, ist viel schlimmer, es ist etwas, was nicht einmal die Wirtin
vorhersah. Nach der Wirtin endete mein Glück, fragwürdiges und doch sehr wirkliches
Glück, mit dem Tage, an dem du endgültig einsahst, dass deine Hoffnung auf Klamm
vergeblich war. Nun aber wartest du nicht einmal mehr auf diesen Tag; plötzlich kommt ein
kleiner Junge herein, und du beginnst mit ihm um seine Mutter zu kämpfen, so, wie wenn du
um deine Lebensluft kämpftest.« »du hast mein Gespräch mit Hans richtig
aufgefasst«, sagte K. »So war es wirklich. Ist aber denn dein ganzes früheres Leben
für dich so versunken (bis auf die Wirtin natürlich, die sich nicht mit hinabstoßen
lässt), dass du nicht mehr weißt, wie um das Vorwärtskommen gekämpft werden muss,
besonders wenn man von tief unten herkommt? Wie alles benützt werden muss, was irgendwie
Hoffnung gibt? Und diese Frau kommt vom Schloss, sie selbst hat es mir gesagt, als ich
mich am ersten Tag zu Lasemann verirrte. Was lag näher, als sie um Rat oder sogar um
Hilfe zu bitten; kennt die Wirtin ganz genau nur alle Hindernisse, die von Klamm abhalten,
dann kennt diese Frau wahrscheinlich den Weg, siehst ihn ja selbst herabgekommen.«
»Den Weg zu Klamm?« fragte Frieda. »Zu Klamm, gewiss, wohin denn sonst«, sagte K. Dann
sprang er auf: »Nun aber ist es höchste Zeit, das Gabelfrühstück zu holen.« Dringend,
weit über den Anlass hinaus, bat ihn Frieda zu bleiben, so, wie wenn erst sein Bleiben
alles Tröstliche, was er ihr gesagt hatte, bestätigen würde. K. aber erinnerte an den
Lehrer, zeigte auf die Tür, die jeden Augenblick mit Donnerkrach aufspringen könnte,
versprach auch gleich zu kommen, nicht einmal einheizen müsse sie, er selbst werde es
besorgen. Schließlich fügte sich Frieda schweigend. Als K. draußen durch den Schnee
stapfte längst schon hätte der Weg freigeschaufelt sein sollen, merkwürdig, wie
langsam die Arbeit vorwärts ging , sah er am Gitter einen der Gehilfen todmüde
sich fest halten. Nur einen, wo war der andere? Hatte K. also wenigstens die Ausdauer des
einen gebrochen? Der Zurückgebliebene war freilich noch eifrig genug bei der Sache; das
sah man, als er, durch den Anblick K.s belebt, sofort wilder mit dem Armeausstrecken und
dem sehnsüchtigen Augenverdrehen begann. »Seine Unnachgiebigkeit ist musterhaft«, sagte
sich K. und musste allerdings hinzufügen, »man erfriert mit ihr am Gitter.« Äußerlich
hatte aber K. für den Gehilfen nichts anderes als ein Drohen mit der Faust, das jede
Annäherung ausschloss, ja, der Gehilfe rückte ängstlich noch ein ansehnliches Stück
zurück. Eben öffnete Frieda ein Fenster, um, wie es mit K. besprochen war, vor dem
Einheizen zu lüften. Gleich ließ der Gehilfe von K. ab und schlich, unwiderstehlich
angezogen, zum Fenster. Das Gesicht verzerrt von Freundlichkeit gegenüber dem Gehilfen
und flehender Hilflosigkeit zu K. hin, schwenkte sie ein wenig die Hand oben aus dem
Fenster es war nicht einmal deutlich, ob es Abwehr oder Gruß war , der
Gehilfe ließ sich dadurch im Näherkommen auch nicht beirren. Da schloss Frieda eilig das
äußere Fenster, blieb aber dahinter, die Hand auf der Klinke, mit zur Seite geneigtem
Kopf, großen Augen und einem starren Lächeln. Wusste sie, dass sie den Gehilfen damit
mehr lockte, als abschreckte? K. sah aber nicht mehr zurück, er wollte sich lieber
möglichst beeilen und bald zurückkommen.
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