RAOUL VANEIGEM

DAS BUCH DER LÜSTE


Aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Frank Witzel


Publiziert bei Edition Nautilus


Editorische Notiz: Vorliegendes Werk wurde nach der französischen Originalausgabe "Le livre des plaisirs", erschienen bei ENCRE, Paris 1979, übersetzt. Vom gleichen Autor liegt vor: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen (franz. 1967 / dt. 1972), Ratgeb, Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung (franz. 1974 / dt. 1975), J.-E Dupuis, Der radioaktive Kadaver. Eine Geschichte des Surrealismus (franz. 1977 / dt. 1979), sowie u.a. in: Situationistische Internationale.

Deutsche Erstausgabe
Edition Nautilus
Verlag Lutz Schulenburg
Hassestr. 22 - 2050 Hamburg 80
(c) by Verlag Lutz Schulenburg
l. Auflage 1984
ISBN: 3-921523-71-0
Printed in Germany



Inhaltsverzeichnis

I. DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE ALLER FORMEN DER ARBEIT UND DES ZWANGS

1. DIE WARENWELT IST EINE VERKEHRTE WELT, DER NICHT DAS LEBEN, SONDERN DIE VERWANDLUNG DES LEBENS IN ARBEIT ZUGRUNDELIEGT

2. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH ARBEIT UND ZWANG KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DES ZU ERSCHAFFENDEN GENUSSES

3. DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

4. DIE PERSPEKTIVE DER MACHT UMKEHREN HEISST, DEM GENUSS DIE DURCH ARBEIT UND ZWANG IN BESCHLAG GENOMMENE ENERGIE ZURÜCKGEBEN

5. DER INDIVIDUELLE GENUSS FÜHRT UNMITTELBAR ZUR KOLLEKTIVEN ENTWENDUNG DER PRODUKTIONSMITTEL, SO WIE SEINE ERZEUGUNG UNMITTELBAR ZUR ABSCHAFFUNG DER ARBEIT FÜHRT

II. DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DES TAUSCHES IN ALL SEINEN FORMEN

1. IN DER WARENZIVILISATION WIRD JEDE VERÄNDERUNG ZUM TAUSCH

2. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DEN TAUSCH KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DES KOSTENLOSEN GENUSSES

3. DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

4. DIE INDIVIDUELLE KOSTENLOSIGKEIT LAUERT AUE DIE GELEGENHEIT, ZUR GENERALISIERTEN KOSTENLOSIGKEIT ÜBERZUGEHEN

III. DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DER INTELLEKTUELLEN FUNKTION UND DES STAATES

1. DIE INTELLEKTUALISIERUNG IST DIE LETZTE ENTWICKLUNGSSTUFE DER WARENEXPANSION

2. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UNKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DEN INTELLEKTUELLEN REFLEX KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DER SINNLICHEN INTELLIGENZ

3. DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

4. DAS ENDE DES STAATES UND DAS ENDE DER INTELLEKTUALITÄT SIND UNTRENNBAR

IV. DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DES SCHULDGEFÜHLS UND JEDER GESELLSCHAFT DER UNTERDRUCKUNG

1. DAS LEBEN IST DIE UNSÜHNBARE SCHULD, DEREN STRAFE DURCH DIE WARENGESELLSCHAFT VEREWIGT WIRD

2. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DAS SCHULDGEFÜHL KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DER NEUEN UNSCHULD

3. DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

4. DIE NEUE UNSCHULD SORGT FÜR DEN ÜBERGANG VON DER INDIVIDUELLEN ZUR KOLLEKTIVEN BEFREIUNG

V. DIE GENERALISIERTE SELBSTVERWALTUNG IMPLIZIERT DIE EREIE WIEDERGEBURT DES IN JEDEM EINZELNEN VERDRÄNGTEN KINDES

1. DIE AGONIE DER ALTEN WELT VERWEIST AUF DIE KINDHEIT DER BEGIERDEN

2. DIE PROLETARISIERUNG DER BEGIERDEN IST DAS WAHRE ALTERN. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN SIE KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE WIEDERGEBURT DES KINDES IN JEDEM EINZELNEN

3. DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

4. DIE WIEDERGEBURT UNSERER BEGIERDEN KÜNDIGT DIE GEBURT EINER ENDLICH MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT AN

VI. DIE GENERALISIERTE SELBSTVERWALTUNG SETZT DEN VERKEHRTEN LÜSTEN EIN ENDE

1. DIE MEISTE ZEIT ERLEBEN WIR NUR DIE TÖDLICHE VERKEHRUNG DER LÜSTE

2. AUS DER LANGEWEILE DER ÜBERLEBENSEREUDEN ENTSTEHT DIE LUST ZUR UMKEHRUNG DER PERSPEKTIVE

3. DIE LUST ERSCHAFFT DAS LEBEN

VII. DIE AUTONOME BEEREIUNG DER INDIVIDUEN IST DIE EINZIGE GRUNDLAGE DER KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT

1. DER WILLE ZUR MACHT IST DIE UMKEHRUNG DES WILLENS ZUM LEBEN

2. UNSERE WAHL EINER GESELLSCHAFTSFORM HÄNGT VON DER INDIVIDUELLEN WAHL ZWISCHEN DEM TOD UND DER UNBEGRENZTEN ENTFALTUNG UNSERER LEBENSBEGIERDEN AB

3. DIE AUTONOMIE KENNT NUR EINEN IMPERATIV, UND ZWAR DEN, ALLE IMPERATIVE ZU ZERSTÖREN. DIE ENTFALTUNG DES ICHS WIRD DIE INTERNATIONALE REVOLUTION AUSLÖSEN





Tabula Rasa

In der Morgendämmerung des Lebens verglimmt die lange Nacht der Ware, jenes einsame erbärmliche Licht einer unmenschlichen Geschichte. Ist es nicht genug, daß sich die Leidenschaften im Laufe der Jahrhunderte unter dem schiefen Blick des Todes verneigt haben, daß man die Begierden mit der Kehrseite des Lebendigen verzahnt und den größten Teil der Existenz auf die blutige Gier des Profits und der Macht gegründet hat? Ist es nicht genug, daß Eure Revolutionen einen geistigen Blutfleck auf der Stirn tragen? Auch die Gewalt wird eine neue Grundlage bekommen.

Abgesunken in ein Debakel des Tauschmarkts ist das heutige Überleben, die Produktion des alltäglichen Elends, die perfekte und totalitäre Industrie überhaupt, die wiederum dem unterliegt, was Ihr Krise nennt und was nichts weiter ist als der Zusammenbruch Eurer todbringenden Zivilisation.

Die Warengesellschaft hat nichts Menschliches geschaffen, außer einer parodistischen Gußform, die ihr geholfen hat, sich überall zu verbreiten. Die Zerstückelung, die der Tauschwert allem Lebendigen aufzwingt, duldet nur fragmentierte Menschen, geduldige Embryonen, die im gesellschaftlichen Reagenzglas der Rentabilität verdorren, und verdammte Wesen, die niemals ihr eigener Herr sein werden, weil sie einer Macht gehören, der man den göttlichen Mantel heruntergerissen und das ideologische Fleisch abgezogen hat, bis der skelettartige Mechanismus ihrer Abstraktion zum Vorschein kam: die Ökonomie. Auf sie wurde alles gesetzt in diesem Schicksal, das seitdem gegen uns spielt.

Ist es wahr, daß das Leben seinen Sinn aus dem Tod zieht, daß die individuelle Energie der Arbeit zum Opfer fallen muß, daß niemand dem Urteil der Götter, der Menschen, der Geschichte entgehen kann, daß sich alles früher oder später im Leben rächt, daß Vernunft und Unvernunft den Körper regieren, daß eine Existenz in ihrer Selbstaufopferung, ihrer Verwertbarkeit, ihrem Markenzeichen gerade durch ihr Nichtvorhandensein einen Wert bekommt und daß Autorität und Geld letzten Endes über die Liebesumarmung, den Schluck frischen Weins, den Traum, den Duft des Thymians in den Alpillen Siegen, da sie ihren Preis bestimmen, dann sind das die Wahrheiten einer verkehrten Welt, mit der ich nichts zu tun habe.

Das wahre Leben ist noch nicht zutage getreten. Es wächst unter den Schritten der letzten unvollendeten Menschen, unter unseren Schritten. Da wir so gut gelernt haben, aller Dinge überdrüssig zu werden, haben wir es jetzt satt, nur mit dem äußeren Schein des Lebendigen zu sterben. Am Ende der Verzweiflung hört der Weg auf oder steigt an. Soll ich in Eurer Gesellschaft, in der der Wille zur Vergewaltigung und der Lebenselan zum Todesreflex wird, unwiderruflich allein sein, um dem allem den Genuß, um den nicht gefeilscht wird, die Begierde, die sich nicht auf die Ökonomie zurückführen läßt, und die Kostenlosigkeit der Lust, die dem Gesetz des "Gibst du mir - geb ich dir" entrissen wurde, entgegenzusetzen? Selbst die Mutlosigkeit und der Mangel an Selbstvertrauen, die mir seit meiner Kindheit eingeflößt werden, haben die Kraft verloren, mich davon zu überzeugen.

Wenn der menschliche Fortschritt in der Ware eine Zeitlang den Fortschritt der Ware im Menschen verbergen konnte - macht Euch darüber doch keine Illusionen! - so kann das auf den Zustand der alltäglichen Rechnungen und Bilanzen reduzierte individuelle Verhalten nicht mehr dem Einbruch des Lebens in die Geschichte widerstehen. Über dem Verfall der ökonomischen Übermacht erhebt sich die kollektive Keule des Willens zum Leben.

Die zunehmende Langeweile der Freuden des Überlebens - die die Vergnügen einer verkehrten Welt sind - regt zur Entdeckung und Befreiung der in ihr angestauten Freuden des Lebens an. Um diese Freuden hervorbringen zu können, muß das herrschende System zerstört werden, das sie jedoch nicht zerstören können, ohne sofort die eigene Verwirklichung in Angriff zu nehmen. Die Revolution findet sich nicht mehr in der Ablehnung des Überlebens, sondern in einem Genuß des Selbst, zu dessen Verbot sich alles verschwört, angefangen bei den Anhängern der Verweigerung. Gegen die Proletarisierung des Körpers und der Begierden ist die rückhaltlose Lust, die Lust ohne Gegenleistung, die einzige Waffe, die allen zum Greifen nah ist.

Es war bisher die Norm, gegen den Strom des Lebens zu schwimmen; heute jedoch findet vor unseren Augen die Umkehrung der Perspektive statt, eine Umdrehung, die den Architekten der Verdrehung den Verstand raubt. Sie markiert das Ende des ökonomischen Zeitalters an der Schwelle der generalisierten Selbstverwaltung. Sie sitzt im Angelpunkt der historischen Verhältnisse, so wie sie im Herzen eines jeden sitzt. Die Umkehrung der Perspektive nimmt die Kostenlosigkeit der Genüsse als Grundlage für die Sabotage eines Warenkreislaufs, der die Muskeln lähmt und die Nerven quält, um die Begierde im Namen der Arbeit, der Pflicht, des Zwangs, des Tausches, des Schuldgefühls, der intellektuellen Kontrolle und des Willens zur Macht zu hemmen. In ihr trennt sich das, was mich aus den edelsten Beweggründen tötet, von dem, was mich dazu treibt, ohne Grund zu leben. In ihr weicht die Ablehnung des Überlebens der Bejahung des unersättlichen Lebens.


Die Leute sind so sehr daran gewöhnt zu hassen, zu töten, zu verachten und sich zu fürchten, daß sie versuchen, jeden zu beseitigen, der ihnen sagt, daß sie sich vielleicht täuschen und ihre Haltung nichts weiter ist als Haß auf das eigene Leben. Sie ziehen Drogen vor, die die Verzweiflung beseitigen, und begeistern sich an der Heilung, während sich die Seuche immer weiter in sie hineinfrißt.

Die Emanzipation hat keine schlimmeren Feinde als die, die vorgeben, die Gesellschaft verändern zu wollen, während sie ständig die alte Welt, die sie in sich tragen, hinter exorzistischen Formeln verbergen. Staatsanwälte der Revolution, Radikalitätsschnüffler, Kleinkrämer des Verdienstes und des Verschuldens, gegen solche neurosengepanzerten Gegner wird mit ungeahnter Gewalt all das prallen, was anfängt, im Rhythmus eines Lebens ohne Zwang zu pulsieren.

Ich kenne die Menschen der Verweigerung - war ich doch in vieler Hinsicht einer der ihren. Unter ihrem Pfaffenrock der gegenseitigen Überbietung an Kritik regt sich die profane Macht der finstersten Inquisition. Was für eine Selbstverachtung findet man bei dem, der sich plastisch mit dem herausputzt, was er als Hohlform in die anderen hineinprojiziert!

Wie soll man in einem System, das sich durch die Zerstörung seiner Produzenten und folglich durch die Zerstörung seiner selbst ausbreitet, nicht zum Verbündeten der Ware werden, insofern man darauf verzichtet, seine Begierden von dem sie verkehrenden ökonomischen Einfluß zu befreien, um noch länger den Genuß mit dem Geschrei eines Genußohnmächtigen zu verherrlichen? Diejenigen, die zum Selbstmord neigen, mögen die herrschende Welt noch so sehr tadeln, sie verhalten sich in ihr wie Knechte, da ihre Bereitschaft zum Dienen sogar so weit geht, daß sie den Dünger der Gesellschaft erneuern, indem sie sich auf ihm verwesen lassen. Indem sie so sehr leiden, daß sich nichts ändert, haben sie sich schon eingefunden mitzuleiden, daß sie selbst sich auch in keinster Weise ändern. Sie haben sich den Untergang der alten Welt so sehr zu eigen gemacht, daß sie das De Profundis mit ihrer eigenen Grabrede vermischen.

"Leben", so sagen sie, "das ist sich verbrennen in der Beschwörung der Liebe und der Freundschaft und doch nicht warm werden." Solch altertümliches Geschwätz riecht muffig, darum wird es höher geachtet, ganz gleich ob es nun von einem sterbenskranken Junker oder einem blasierten Bürokraten stammt. Auch der Moder adelt.

Arbeiter der Ordnung und der Unordnung, der Verdrängung und der Abreaktion, das Protokoll Eurer Inexistenz wird durch den selbstzerstörerischen Warenprozeß programmiert. Der Tod wird Euch so hinwegraffen, wie ihr schon das Leben verlassen habt: mit der Melancholie von Buchhaltern, die die alltägliche Bilanz des Elends ziehen, oder mit der Bravour von Komödianten, die sich am kritischen Spektakel ihres exemplarischen Endes erhitzen.

Von der verabscheuten wie verehrten Macht habt Ihr den zu jeder Gemeinheit berechtigenden Hochmut der Ablehnung übernommen; das Leben jedoch macht sich über diese Heuchelei der Besten im Wasserglas der Theorie lustig. Aus der Lust wird die Kühnheit entstehen und mit ihr das Lachen, das weder Befehle, Gesetze noch Maß kennt, das mit der Unschuld eines Kindes all das niederwirft, was noch urteilt, unterdrückt, berechnet und herrscht.

Während der Intellektuelle sich den Kopf darüber zerbricht, wie er durch das Schlüsselloch schlüpfen kann, stößt derjenige, der eine Welt voller Begierden erfühlt, einfach die Tür auf - eine Grobheit sondergleichen für den, der dort nach der Erfüllung des Denkens forscht, wo sich einzig und allein das Leben zu erfüllen sucht. Die fortschreitende Abstraktion des Warenprozesses hat aus dem Kopf den Zufluchtsort des Lebendigen gemacht; doch es bleibt nur der Schatten einer Macht übrig, der von seinem Schädelturm aus über einen Schein von Körper herrscht. Die Verwundungen des Alters, Quelle so vieler Sehnsüchte, sind die Verwundungen der Selbstaufgabe, dieser Aderlaß der Lust, die durch die Prunk- und Herrschsucht und den Willen zur Macht ausbluten.

Die meisten Eurer Wahrheiten haben nur die Stärke der Verachtung, die sie verbreitet hat. Sie zwingen sich mit Züchtigungen auf, seitdem schon Generationen gelernt haben, die Dinge nur mit Ohrfeigen und Demütigungen anzunehmen. Sobald es gewaltsam auftritt, bezwingt das erstbeste Argument den herrschsüchtigen Geist, der nun wiederum ihm Gewalt antun kann. Was aber ist ein Wissen, dem das schweigende Postulat zugrundeliegt, daß man sich selbst den schlechtesten Dienst erweist?

Der einflußreiche Mensch begreift sehr schnell, daß er, gleichsam indem er die anderen beeinflußt, zu einem Phantom in ihren Köpfen wird. Will er nun "zum Wohle seiner Mitmenschen" dieses Gespenst seiner selbst bewahren, so irrt und verläuft er sich zusammen mit ihnen. Das ist auch der Grund, warum ich nicht vorhabe, Euch zu überzeugen, denn es interessiert mich nicht im geringsten, die Verachtung, die Ihr durch die Vermittlung anderer für Euch empfindet, zu vergrößern. Lauscht Ihr auch mit einer noch so großen Gewissenhaftigkeit den Boten Eurer Selbstzerstörung - eine Eigenschaft, die sie Euch mit Zinsen belohnen -, ziehe ich es vor, gelassen darauf zu warten, daß die Lust Euch früher oder später für alles taub macht, was nicht zu ihrer Verstärkung beiträgt.


Wir haben zuviel aus dem Mangel und nicht genug aus der Fülle gekämpft. Mögen die Toten diejenigen begraben, die an sich selbst gestorben sind! Mein Glück zehrt nicht von Tugenden, schon gar nicht von revolutionären. Ich finde meine Lust in dem, was lebt, denn wer auf seine Begierden verzichtet, stirbt am Gift der toten Wahrheiten.

Der fruchtbare Boden entdeckt in allem, in jedem Ereignis und in jedem Menschen eine willkommene Saat, einen willkommenen Regen und Sonnenstrahl. Er bereichert sich genauso an dem, was er nimmt, wie er es verschwenderisch hergibt.

Was ist das für ein Buch, das einen nicht über alle Bücher hinaus mitreißt? Das, was jeden auf sich selbst verweist, wird aus Liebe zur Fülle und nicht aus dem Zwang des Imperativs geschrieben.

Sicherlich entgeht das Buch der Lüste nicht der Lüge der Intellektualität des getrennten Denkens, das über den Körper herrscht und ihn hemmt. Das aber ist lediglich die Lüge, die jeder selbst in sich trägt und die nur durch den vorbehaltlos akzeptierten Genuß aufgelöst werden kann. Die Spuren, die dann noch übrigbleiben, werden Eure Begierden in dem Augenblick ausradieren, in dem sie den Großinquisitor aus Eurem Gehirn gefegt haben!

Von jedem Wesen, jedem Ding und jeder Schöpfung nehme ich das, was mir gefällt, und laß den Rest zurück. Bleibt mir vom Leib, Ihr unbescholtenen Richter! Das ist nichts für Euch. Warum sollte mich jemand ertragen, der sich selbst nicht ertragen kann? Mir ist es egal, was Ihr von dem Buch haltet! Und was Ihr aus ihm macht, ist allein Eure Angelegenheit Ich habe mit Euch keinen Tausch zu machen. Wenn Ihr all das und noch mehr gewußt habt, warum habt Ihr es dann nicht gegeben?

Wer lernt, sich selbst über die Verschwörungen des Schuldgefühls und der Angst vor dem Genuß hinaus zu lieben, weiß, daß ich trotz meiner Irrtümer nicht um ein Haarbreit von meinem Willen abweiche, durch die globale Subversion der Gesellschaft, die ihn umkehrt, eine Gesellschaft zu schaffen, die sich auf den individuellen Willen zum Leben gründet. Darüberhinaus weiß ich, daß wir die gleichen Begierden haben.

Wollte ich je eine andere Gegenwart als die, in der ich die meiste Lust darin finde, das zu sein, was ich bin? Mich so zu freuen, daß meine Freude nicht länger im sumpfigen Unbehagen der anderen versackt? Wenn sie nur wüßten, diese guten Staatsbürger, was für ein Dynamit sie mit jedem Schritt bei sich tragen! Die Lumpen der Demut und der Flitterkram des Größenwahns haben sie so sehr davon überzeugt, nichts zu sein, da ein Nichts sie kleidet, daß ihre Augen für das tot sind, was unter der Gefühlsblockade und seiner kompensatorischen Abreaktion noch an Leben besteht. Wer zerschlägt den Stein, der seit Jahrtausenden auf der individuellen Autonomie lastet? Seit so langer Zeit heißt leben lernen sterben lernen.

"Wenn ich ein Rad baue", sagt der Wagner, "so wird es lose und wenig fest, wenn ich es locker baue. Baue ich es aber fest, so wird es zwar kräftig, aber grob. Gehe ich weder locker noch fest vor, sondern lasse meiner Hand freien Laut, so wird es nach meinem Gefühl gebaut. Das läßt sich nicht mit Worten erklären." So wie die Worte dort anfangen, wo mein Erleben verstummt, so bietet das Erleben eines jeden, wenn ich die Worte mit "freier Hand" aufnehme, eine Chance, mich ihm anzuschließen und mit ihm vorwärtszugehen. Nur der individuelle Wille zum Leben wird aus dem Buch der Lüste das machen, was es für mich ist: ein durch nichts Äußeres aufgezwungener Impuls zum Genuß.

Mir gefällt es, dem Wiener Humoristen lachend zuzustimmen, der erklärt hat: "Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Im allgemeinen sind es dieselben." Mich zurückweisen oder mir nachlaufen - wie erbärmlich! Auf der anderen Seite jedoch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß jeder, der sich selbst unterdrückt, ablehnt und dem Tode zuwendet, meiner Emanzipation ein weiteres Hemmnis entgegensetzt, auf das ich gern verzichten kann.

Jeder hat den Schlüssel. Es gibt keine Gebrauchsanweisung. Habt Ihr erst einmal die Wahl getroffen, nur auf Euch selbst Bezug zu nehmen, dann werdet Ihr Verweise auf Namen - sei es meiner, seien es Eure eigenen -, auf Urteile oder Kategorien ignorieren. Ihr werdet aufhören, jenen Leuten zu gleichen, die das hämische Bedauern, an einer geschichtlichen Bewegung nicht teilgenommen zu haben, immer noch daran hindert, aus ihr etwas herauszuziehen, was ihnen helfen kann, aus sich selbst zu leben.

Es liegt nur an uns, Erfinder unseres Lebens zu werden. Wieviel Energie vergeudet man in der tatsächlichen Arbeit, aufgrund der anderen zu leben, während man sie leicht aus Liebe zu sich selbst dazu verwenden könnte, unser unvollendetes Wesen, dieses Kind, das in jedem von uns eingeschlossen ist, zu vollenden. Ich will zur Anonymität der Begierden gelangen, ich will mich durch meine eigene Fülle überfluten lassen.

Durch die ständige Denaturierung dessen, was noch natürlich zu sein schien, hat die Geschichte der Ware den Punkt erreicht, bei dem man entweder mit ihr verkümmert oder die Natur und Menschheit in ihrer umfassenden Kraft neu erschaffen muß. Mit der Verkehrung, in der der Tod das Leben packt, zeichnet sich unter dem Zusammenzucken der Authentizität eine Gesellschaft ab, in der die Lust selbstverständlich ist.

Ohne Unterlaß entdeckt mein Ich, daß es noch eng mit den Überresten dessen vermengt ist, wodurch es einst unterdrückt wurde, und es macht sich in einem leidenschaftlichen Dialog daran, das Knäuel zu entwirren, um jenen globalen sexuellen Impuls, jenen andauernden Atem des Lebens, den eigentlich nichts ersticken kann, freizulegen. Mein Genuß beinhaltet das Ende der Arbeit, des Zwangs, des Tausches, der Intellektualität, des Schuldgefühls und des Willens zur Macht. Ich sehe keine Rechtfertigung, außer der ökonomischen, für den Schmerz, die Trennung, das Gebot, die Bezahlung, für die Vorwürfe und die Macht. Mein Kampf um Autonomie ist der Kampf der Proletarier gegen die zunehmende Proletarisierung, so wie der Kampf der Individuen gegen die allgegenwärtige Diktatur der Ware. Die Eruption des Lebens ist durch die Bresche Eurer Zivilisation des Todes hindurchgegangen.

Ihr klagt meine Subjektivität an? Wie Ihr wollt - aber paßt nur auf, daß Eure Subjektivität Euch nicht eines Tages auf die Schulter klopft, um Euch in jenes Leben zurückzurufen, das Ihr gerade dabei seid, kläglich zu verlieren. Darin ist meine Naivität Eurer Arglosigkeit unvergleichlich überlegen: Sie ist mit heiteren Ungeheuern überfüllt, während Ihr die Naivität, die Euch daran gewöhnt hat, in der jahrtausendealten Verachtung des Genusses zu leben, Scharfblick nennt.

Ich spüre in mir die Wiedergeburt der Individuen mit einer Freude voraus, die dem Ausströmen des Frühlings der Erde vergleichbar ist. Und sollte ich auch der einzige sein, der so empfindet, so bleibt mir immer noch die heitere Narrheit, den Tod besiegen gewollt zu haben, indem ich die Begierden aus seiner Macht befreite.

"O Du mein Wille! Du Wende aller Not, Du In-mir! Über-mir! Du Wille zum Leben, den ich Schicksal heiße! Bewahre mich vor dem Sieg und seinen Niederlagen und spare mich auf zu unersättlichen Genüssen!"


I.DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE ALLER FORMEN DER ARBEIT UND DES ZWANGS


1.DIE WARENWELT IST EINE VERKEHRTE WELT, DER NICHT DAS LEBEN, SONDERN DIE VERWANDLUNG DES LEBENS IN ARBEIT ZUGRUNDELIEGT

Die Fabrik ist in den Bereich des alltäglichen Lebens eingedrungen. Als bevorzugter Ort der Entfremdung hat sie lange mit ihren Mauern die Gefängnisse des Proletariats und das Vorfeld der bürgerlichen Freiheiten abgesteckt. Diejenigen, die bei hereinbrechender Nacht aus ihr entflohen, konnten in den vergänglichen Feten des Alkohols und der Liebe eine Vitalität neu beleben, die zu erschöpfen dem täglichen Arbeitszwang nicht gelungen war. Zehn Stunden Lärm, Ermüdung und Demütigung konnten diese Körper nicht unterkriegen. Sie waren mit einer Energie gefüllt, die lediglich der soziale Fluch dazu zwang, sich dem Rhythmus und dem Verschleiß der Maschinen anzupassen. Weder das Rentabilitätssoll noch die Knute der Ausbeutung konnten den Impuls der Begierden, die sexuelle Überfülle des Lebens an sich und für sich grundlegend zum Versiegen bringen.

Die immer noch als ökonomische Krise erlebte Krise der Ökonomie ermutigte das Proletariat dazu, sich der Mittel zu bemächtigen, die zu den Vergnügen führen, deren Anwendung sich die Bourgeoisie selbst zugedacht hatte. Der Blick der Hungernden erkannte nicht, daß ein auf Kosten der Macht und des Reichtums gesichertes Leben letzten Endes lediglich ein auf die Ökonomie reduziertes Leben ist. Das Recht auf das Vergnügen wurde zu einem Eroberungszug, während das Vergnügen schon durch die Ware erobert worden war.


Die Toleranz erstreckt sich erst dann auf die verbotenen Vergnügen, wenn diese auf die Seite der Rentabilität gebracht worden sind. Das Expansionsbedürfnis des Kapitalismus hat die Welt in einen gigantischen Markt verwandelt. Indem der Kapitalismus die verschiedenartigsten Erscheinungen des Lebens allmählich auf Warentätigkeiten reduziert, breitet er sich ständig aus und gräbt sich sein Grab, das immer tiefer wird, je mehr die ihn produzierenden Menschen zugrundegehen.

Es ist bekannt, mit welcher Verachtung die aristokratische Klasse der Arbeit, die ihr Überleben sicherte, gegenüberstand. Die Bourgeoisie hat aus der ökonomischen Materie, in der der Feudalismus nur den Auswurf der Götter sehen wollte, ihre Nahrung gemacht und dabei zwangsläufig bewiesen, welches der wirkliche Auswurf ist: der der Religion oder der Ökonomie. Die Bourgeoisie befreite die Arbeit, dank der sie die Macht ergreifen konnte, von ihrem Verruf. Ihre Anmaßung gegenüber dem Proletariat, die Handarbeit der Kopfarbeit unterzuordnen, reproduzierte aber zu ihrem Nutzen das Ritual der Hierarchie. Ihr Wissen gründete einen neuen Tempel der Macht. Wurden früher die Vergnügungen, die die Verbote übertraten, mit Buße, Messen und Kasteiungen bezahlt, so schlägt die Bourgeoisie nun als erste ihren Freikauf durch Arbeit vor. Munter entheiligt sie die Sünde, indem sie sie zu Geld macht und mit dem Recht auf Profit identifiziert.

Sogar das Verbrechen des Müßigganges wird von dem Augenblick an vergeben, in dem es zum Konsum anregt. Hier fängt das alte Gegenmittel zur Arbeit an, sich selbst in Arbeit zu verwandeln. Gibt es eigentlich ein wirksameres Mittel, die Leute in die Fabriken des Lohnwesens zurückzuschicken, als den Zugang zur Fabrik, in der die Lust ratenweise hergestellt wird, zu fördern?

Nicht von ungefähr fällt die demokratische Erschließung des Vergnügens mit der Eroberung neuer Märkte zusammen, auf denen der Genuß Komfort und das Glück Aneignung heißt. Jedoch enthüllt die Bourgeoisie damit die einzige Sünde, die unsühnbar ist, nämlich die, nicht zu bezahlen. Der Genuß ohne Gegenwert ist das absolute ökonomische Verbrechen.


Die scheinbare Befreiung der Lüste drückt eigentlich ihre wirkliche Proletarisierung aus. So wie das durch die Arbeit erworbene Brot einen bitteren Nachgeschmack von Schweiß und Lohn hat, so sind die durch Handel erworbenen Vergnügen noch schlimmer als die Langeweile, die sie produziert. Der Betrug der Überlebensfreuden schließt sich der Lüge von den abstrakten Freiheiten an. Die Geschichte, die uns mit jeder Drehung am Rad des Fortschrittes so weit geführt hat, ist nicht die Geschichte unserer Begierden; es ist die Geschichte einer todkranken Zivilisation, die kurz davor ist, uns unter der Last ihres Mangels an Leben zu begraben.

Denn die Lüste waren von jeher nur durch ihre Abwesenheit vorhanden. Nachdem die Normen des Profits alles das in die Finsternis der Nacht, des Schlafgemachs, des Traums und der Innerlichkeit zurückgedrängt hatten, was in den klaren, ordentlichen Tag der Arbeitszeit nicht hinein wollte, haben sie schließlich den starken und eigensüchtigen Lichtkegel ihrer Wissenschaft auf die geheime Welt der Begierden geworfen. Die Unmöglichkeit, sie zu vernichten, hat das ökonomische Bedürfnis gelehrt, sie wenigstens rentabel zu machen. Die in Zwang und Arbeit umgewandelten Gesten und Verhaltensweisen, die lange Zeit außerhalb des unmittelbaren Machtbereiches der Ökonomie geblieben waren, zeigen zur Genüge, daß der Warenprozeß sich nur durch die Aneignung des Lebens entwickelt und nur das entdeckt, was er ausbeuten kann, und daß nichts Menschliches ihm fremd bleibt, wenn die Menschheit sich selbst immer fremder wird.

Am tiefsten Punkt, den das Elend des Überlebens heute erreicht hat, existiert die Wirklichkeit der verkehrten Welt. Der Mensch ist das einzige Tier, das dazu fähig ist, seine Begierden zu realisieren, indem er die Welt verändert; bisher hat er jedoch lediglich seine Lebenskraft gegen die Produktion und Akkumulation von Waren getauscht. Seit Jahrtausenden funktioniert das System, das die Geschichte gelenkt hat, auf der Basis des gesellschaftlichen Zwangs, unser geschlechtliches Potential in Arbeitskraft zu verwandeln. Das Einsaugen frischen Blutes in die vereisten Adern der Ökonomie und der Macht ist genauso alt wie das Erscheinen der Priester und der Könige, genauso wandelbar wie die Klassengegensätze und genauso fortschreitend wie die Geschichte der Ware.

Die entstehende Menschheit soll durch den Druck der feindlichen natürlichen Umwelt zwangsläufig auf den Tausch, die Arbeitsteilung, die Klassengesellschaft und die Zivilisation der Ware gesteuert worden sein. Meinetwegen! Für uns geht der Weg nicht weiter, und der Mangel an Leidenschaften bringt es mit Ironie noch so weit, daß er uns mitten in einem Überfluß tötet, der imstande ist, alle unsere Lebensbegierden zu nähren.

In einer Welt, die nur die Kostenlosigkeit absolut verbietet, ist alles erlaubt außer dem Genuß. Für die Religionen war jede Lust Sünde. So übertrugen sie den verstümmelnden Blick der unabdingbaren Produktion in den Himmel der Ware. Aber der Profit geht so weit, bis sich die Lüste von der Sünde befreit haben: sie werden gesühnt, indem man sie kauft, doch ist ihre scheinbare Freiheit nur eine noch größere Hörigkeit gegenüber der auf ihre irdische Wahrheit zurückgeführten Ökonomie. Wie das Lohnwesen sind sie zum Selbstkostenpreis eines Proletarierlebens zu haben.

Ohne eine wirkliche Befreiung der Lüste wird es keine Befreiung des Proletariats geben.


Die Ökonomie herrscht, indem sie dem Körper seine sexuelle Totalität amputiert. Das erzählt die Legende der Götter und ihrer Kastration. Osiris, Zagreus, Dionysos, Christus, Huitzilopotchli verkörpern die Verdrängung der sexuellen Kraft durch die Ökonomie, die, indem sie zur autonomen Macht wird, überall den Vorrang der Arbeit und ihrer Teilung wirken läßt. Sagt nicht der alte religiöse Mythos, daß die göttlichen Gestalten "im Fleisch absterben und im Geist wiedergeboren werden"? Dadurch ist der Mythos selbst die Darstellung der Ökonomie als absolutes Modell der verkehrten Welt.

Wenn man den märchenhaften Rechnungen der Macht Glauben schenken soll, erleben Jupiter und Jesus unfühlbare Paarungen auf dem Gipfel des Olymps oder Golgathas, und die reine Abstraktion ihres himmlischen Genusses soll uns dafür trösten, hienieden in diesem Jammertal nur die Tränen einer durch die Sorge um Leistung jäh unterbrochenen Lust zu besitzen.

Hat nicht die in das primitive Leben eindringende entfremdete Arbeit die sexuelle Welt zerstückelt und die Einheit zersplittert, die im Zeitalter der Sammler von den Individuen in sich selbst und untereinander erlebt wurde, bevor Jagd und Ackerbau die Sklaverei und die Klassengesellschaft mit sich brachten?

Mir liegt eigentlich wenig daran, daß es einen der Warenzivilisation vorausgehenden gesellschaftlichen Zustand, ein durch die Weiblichkeit gekennzeichnetes und mythisch mit dem Goldenen Zeitalter identifiziertes Pflanzenzeitalter gegeben hat. Wir werden niemals wieder dorthin zurückkehren. Der Wechsel der Epochen findet hier statt, auf der letzten Schwelle des Unerträglichen, wohin uns eine Geschichte, die untrennbar mit dem Verfall des Willens zum Leben verbunden ist, zusammen mit der kompensatorischen Sehnsucht nach der Vergangenheit geführt hat.

Wenn es stimmt, daß die Sexualität nicht alles ist, so leider nur deswegen, weil sie überall in ihren vereisten, totalitären und verkehrten Formen auftaucht. Bemühen sich nicht himmlische Beschäftigungen wie Politik, Numismatik, Handel und Angeln darum, sie zu verjagen? Sie reitet im gestreckten Galopp des Negativen zurück, beladen mit Verachtung, Verstimmung und Haß. Warum sonst ist der Konkurrenzkampf der Trusts, der Krämer und ihrer Nationen so grausam, wenn nicht deshalb, weil die vor die Tür verdrängte Sexualität von hinten durch das Fenster wiederkehrt, wobei sie jedoch nicht mehr das Leben, sondern den Tod mitbringt? Und wie läßt sich sonst die blutige emotionale Pest erklären, mit der die Kämpfe des Proletariats um Befreiung verwüstet werden? Die angestaute Sexualität wendet sich gegen sich selbst, um mit Wut das zu zerstören, was sie nicht erzeugen kann. Das, was im Schatten der Religionen gelebt hat, trägt einheitlich das schwarze Mal der verkehrten sexuellen Sonne. Immer noch zu sehen, wie die erotische Glut im Bett der Traueranspielungen zelebriert wird, läßt einen glauben, das Gift der toten Götter habe nicht aufgehört, uns zu vergiften.

Gegen die Anhänger einer mit Angst vermengten Lust und gegen die finsteren Genießer eines Orgasmus, den man rituell "kleinen Tod" getauft hat, haben die von Reich beeinflußten Jahre zum Glück die genitale Befriedigung als eine Quelle des Lebens und der sexuellen Entfaltung begrüßt. Trotzdem bedeutet die Identifizierung des Genitalen mit der globalen Sexualität, von der es lediglich ein Bruchstück ist, daß man noch einmal auf das Pferd der partiellen Befreiung setzt, um am Ende des Rennens den verdienten Preis einer noch größeren Entfremdung zu ernten.

In einem gewissen Sinn haben die religiösen und moralischen Tabus und Verbote den Orgasmus gegen die Gefahr einer Rekuperation durch die Ware geschützt. Nachdem das Genitale durch die parzellierende Befreiung, die die Bourgeoisie der Gesellschaft und den Körpern der Individuen zugeführt hatte, ans Tageslicht gebracht worden war, endete es in den Händen der Spezialisten der sexuellen Ökonomie. Vom Kampf um die Kostenlosigkeit des Lebens getrennt und von der Umkehrung der Perspektive isoliert, geriet es in die Hände eines Unterdrückungssystems, das die Eroberung der zersplitterten Sexualität vorantrieb, um sich damit eines der letzten Stützpunkte des Widerstands zu bemächtigen.

Unter dem Deckmantel der Befreiung gelangt das Genitale zur Rentabilität. Wie die meisten Leidenschaften und ein immer größer werdender Teil des Lebens tritt es fröhlich in die allumfassende Fabrik ein: es geht arbeiten. Ist das etwas anderes als Kastration?

Ins Museum mit der Kastration des Mannes, dem Alptraum, der mit seinen Kitschpostkarten der Männlichkeit, des ostentativ aufgerichteten Phallus, der Vendôme-Säule und der letzten Patrone die patriarchalische Macht quält! Und keiner soll versuchen, sie durch die Orgasmusstockung, den unglücklichen Riß in der weiblichen, männlichen oder kindlichen Genitalität zu ersetzen! Am Ende einer Entwicklung, in der die Ökonomie das Lebendige, das sie fest umschlungen hält, erstickt, gibt es keine andere Kastration mehr als die konkret erlebte Trennung zwischen den Individuen und ihrem eigenen Willen zum Leben.


2.DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH ARBEIT UND ZWANG KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DES ZU ERSCHAFFENDEN GENUSSES

Im Herzen der Warengenüsse existiert nur die Ohnmacht zum Genuß. Sich seiner zunehmenden Kraftlosigkeit bewußt, betrachtet das Leben die Geschichte seiner Auszehrung und entdeckt, daß es am Scheideweg einer unmittelbaren Wahl steht - entweder Trost durch den Tod oder die globale Umkehrung der verkehrten Welt. Die Zeit ist vorbei, in der der erstere die Illusion der zweiten unterstützte und die Jagd nach der Vernichtung sich das Alibi des Gemeinwohls und des Glücks lieh.

Betrachte ich die Ausdauer, mit der das menschliche Geschlecht so ehrenhafte Mittel wie Kriege, Sklaverei, Folter, Verachtung, Massaker, Seuchen, Geld, Macht und Arbeit zur Selbstvernichtung gebraucht hat, erscheint mir das, was heute immer noch nicht tot ist, wie das Erdbeben des Unreduzierbaren. Auf diesen letzten lebendigen Glanz, den von nun an nichts mehr verdeckt, den jedoch alles auslöschen kann, will ich eine radikal neue Gesellschaft gründen.

Es gibt keine Mystik des Lebens, eine Mystik gibt es nur in der Abwesenheit des Lebens. Es gibt keine Gründe für das Leben, es gibt nur das Recht des Warenimperialismus, der das Leben umzingelt und mit jedem Anmarsch dessen Unreduzierbarkeit verdeutlicht.

Das Wort "Leben" verliert in dem Maße seine Zweideutigkeit, in dem die Warenstruktur der angeblichen menschlichen Beziehungen überall zum Vorschein kommt. Seine Wirklichkeit harmoniert nicht mit dieser Liebe, deren Freiheit Ihr im Detail kauft und die in die Fabrik geht, wie sie gestern ins Bordell, ins Verderben, ins Kloster, in die Familie ging. Das Leben ernährt sich nicht von diesen Begierden, die vom Höchstgebot der Konkurrenz bis auf die Knochen der Rentabilität und der Leistung abgenagt werden. Es läßt sich nicht auf was weiß ich für Zuckungen der Vagina, des Phallus, des Afters, des Magens, des Genicks oder der Klitoris reduzieren. Jede sexuelle, gastronomische, politische, soziale, intellektuelle, linguistische oder revolutionäre Ökonomie ist ihm scheißegal, da es jeder Produktionsnorm entgeht. Es ersetzt nicht die alten Verbote durch die Notwendigkeit, sie zu brechen. Es hat weder Ziel noch Zweck. Es ist das, was der Ökonomie entgeht und sie durch seine Kostenlosigkeit zerstört.

Indem das Leben in die Geschichte eindringt und im Zusammenfluß einer sterbenskranken Gesellschaft mit einer in den Individuen entstehenden Autonomie hervorbricht, ist es in seiner Fremdartigkeit selbst eine neue Wirklichkeit. Was schadet es, wenn ihre Entdeckung sie zerbrechlich macht und den Irrfahrten des individuellen Gewissens und der durch die Verwirrung der eigenen Apathie und Verweigerungen aufgewühlten Entscheidungskraft aussetzt? Die umhertastende Befreiung führt viel mehr Wunder mit sich, als sich die Warenzivilisation je zwischen Himmel und Erde hat träumen lassen.


Die Gedanken des Todes sind die Gedanken der herrschenden Welt. Je mehr das Leben verkümmert, desto mehr setzt der auf die Seltenheit der Genüsse rechnende Markt auf sein Angebot an Überlebensfreuden, deren An- und Verkauf sich sogleich in Zwang und Arbeit verwandelt, sodaß ihre Ablehnung selbst wohl oder übel in die Zahlungsbilanz eingeht.

Mit welch einer schönen Seele klagt Ihr die bürokratisch-bürgerliche Klasse an, die Aasgeier der Wareneroberung und das Trauergepräge einer Gesellschaft, die sich selbst in ihrer Jagd nach dem Profit und der Macht zugrunderichtet! Räumt diesen Leuten zumindest ein aufrichtiges Siechtum ein. Sie erregen sich am Preis der Dinge, sie akzeptieren ihr Elend als die Schicksalsmacht des Geldes und halten ihre Gemeinheit, ihren Haß auf das Lebendige, ihre Justiz, ihre Polizisten, ihre Freiheit zu töten, ihre Zivilisation für ihr Eigentum.

Ihr aber, die Ihr behauptet, zum anderen Lager zu gehören, die Ihr auf den Zusammenbruch der Ware setzt, das Ende des Staates und die Ankunft einer klassenlosen Gesellschaft erwartet; Ihr, die Ihr zwischen Hauptgericht und Nachspeise das Lied der Rache anstimmt, in dem man schon Stiefel marschieren hört - worin unterscheidet Ihr Euch von Euren Feinden, um wieviel geringer ist der Verwesungsgeruch denn, den Ihr verbreitet?

Erzählt mir nicht, daß Ihr die letzten Tage der alten Welt schon im voraus bejubelt. Geduldig oder ungeduldig auf das letzte Zusammenzucken einer Gesellschaft zu warten, die uns schnappt und in den Strudel ihres langen Todeskampfes reißt, das ist der Zeitvertreib eines Kadavers. Ihr habt Euch so vor Sehnsucht nach dem Fest verzehrt, daß Euch jetzt nur noch das Skelett Eurer Todeslust bleibt. Ihr verbringt mit Eurer Prophezeiung der Apokalypse genauso viel Zeit wie ein Funktionär mit der Programmierung seiner nächsten Beförderung. Wie bei ihm, so ist es dem Markt der Langeweile auch bei Euch gelungen, Euch teilnehmen zu lassen.

Verächter und Lobredner der alten Welt, zwar sind Eure Worte nicht dieselben, doch blast Ihr in dasselbe Horn. Eure politischen Kirchen, Familientreffen und Wirtstafeln hallen von einem einzigen heldenhaften und schwachsinnigen Chorgesang wider - der Hymne der Selbstmordkandidaten.

Das Lager der offiziellen Revolution ist das Asyl der Bürokratie. Dort stecken die Theologen des großen Tages der Revolution durchtrieben das Territorium der Engel und Teufel ab, entwirren die Nachzügler des nächsten Aufstands das Knäuel der Leitlinien, halten die Puritaner, die sich endlich entschlossen haben, das Leben voll auszunutzen, da nur die Lüste etwas kosten, mit den Staatsanwälten, die die Tugend der Zuwiderhandlung preisen, die Pflicht zur Verweigerung predigen, Radikalitätsabzeichen verteilen und das Elend der Umwelt öffentlich anklagen, gute Nachbarschaft. Den Richtern antworten die Anwälte des Alltags, und da Verachtung auf Verachtung antwortet, steigt aus diesen gemeinsamen Versammlungen ein Geruch empor, der dem Gestank der Zentralkomitees, Generalstäbe und Polizeiämter ebenbürtig ist. Dort entstehen die ruhmreichen Dulder des Elends und die Verlorenen der terroristischen Dämmerung. Denn der Wurf, bei dem man sein Leben aufs Spiel setzt, indem man einem Justizbeamten oder irgendeinem anderen Schädling das Leben raubt, ist nichts weiter als der Vorläufer der großen Endentwertung, in der der Tod kostenlos sein wird. Das elendeste Überleben zieht aus der falschen Kostenlosigkeit und dem einfachen Spektakel des Nichts eine unerwartete Steigerung seines Preises. Alle Tode werden im voraus mit Wucherzinsen bezahlt.


Keiner kann die verkehrte Welt mit dem Anteil an Verkehrung, den er in sich trägt, stürzen. Wir haben die Ökonomie viel zu sehr mit einem ökonomistischen Verhalten bekämpft, dessen Ablehnung uns als Alibi diente. Man kämpft nicht bewußt gegen die Proletarisierung, indem man sich unbewußt proletarisiert.

Durch den dem Warenwachstum innewohnenden Fortschritt der Intellektualität angeregt, projiziert jeder bereitwillig in die Kritik der alten Welt die Hellsichtigkeit hinein, die er auf das eigene individuelle Schicksal anzuwenden unterläßt. Schon bestätigt sich die Ironie der verkehrten Welt darin, daß die besten Wachhunde der revolutionären Theorie zu den besten Wachhunden der Macht werden, ohne beim Bellen auch nur die Stimmlage zu wechseln.

Wir haben im Werdegang der Ware, in einer Dialektik des Todes gelebt, die keine andere ist als die Geschichte der sich von menschlicher Substanz ernährenden Ökonomie - die Geschichte eines Reiches, das gleichzeitig in dem Maße wächst und verkümmert, in dem die Menschen, die seine Macht produzieren und ertragen, allmählich auf einen reinen Tauschwert reduziert werden. Hier treffen wir uns also alle auf der Tribüne am Ende der höchsten und letzten Entwicklungsstufe eines Reiches, dessen Ende wir beiwohnen, verurteilt mit ihm zu sterben, wenn wir weiter in der Falle des Warenreflexes gefangenbleiben und die heutzutage offensichtliche Möglichkeit versäumen, eine Dialektik des Lebens zu gründen, eine Entwicklung, in der das Menschliche endlich völlig der Ökonomie entkommt.

Der Tod zieht die Fluchtlinien der Macht so deutlich, daß alle diejenigen, die nicht darauf verzichtet haben zu leben, anfangen, sich leidenschaftlich für das Gefühl einer radikal anderen Perspektive zu begeistern. Diese Perspektive hat ihren Ausgangspunkt bei den einzelnen Individuen, der unreduzierbaren Subjektivität, diesem Erlebten, woran sich der Aufruf zur Arbeit und Unterwerfung die Zähne ausbeißt.

Das Leben bricht stoßweise aus jenen steifen und lächerlichen Bauern, die wir alle auf die verschiedenste Weise auf dem Schachbrett der Macht und des Profits sind, hervor. Dort schlägt die Umkehrung der verkehrten Welt Wurzeln - die Schaffung einer Gesellschaft, der der individuelle Genuß und die Zerstörung dessen, was ihn hemmt, zugrundeliegen. Dort, in unserer unmittelbaren Gegenwart, setzt das Reich der Kostenlosigkeit durch die Vernichtung der Ware ein. Dieses Reich gehört nicht zu den Fiktionen des unterdrückten Wesens. Es kündigt weder das Goldene Zeitalter noch irgendein verlorenes Paradies an. Es ist eine Welt im Werden, in der jedes Element früher oder später zu seinem Gegenteil wird, stirbt und wieder lebendig wird. Dieses Werden hat jedoch mit der Warenzivilisation nichts gemein. Und es sollte ein für allemal klar sein, daß Menschen und Dinge sich in einer Gesellschaft, die das Leben auf die Produktion toter Dinge reduziert, nicht auf dieselbe Art und Weise ändern wie in einer Gesellschaft, in der die Geschichte vom individuellen Willen zum Leben ausgeht.


3.DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

Das Ende des Proletariats impliziert das Ende der Proletarisierung des Körpers. Hinter dem Elend der arbeitenden Klasse erahnten die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts das Werden des totalen Menschen und die Entstehung eines Zeitalters der Freiheit, die mit dem Ende der Klassengesellschaft zusammenfallen sollten. Heute wissen nur die Bürokraten, diese modernen Philosophen, noch nicht, daß das Proletariat eine bloße Abstraktion ist, solange dem Kampf des Proletariers um die klassenlose Gesellschaft nicht der Kampf gegen die Proletarisierung des eigenen Körpers zugrundeliegt.

Ihrer Mythen entblößt und durch das Elend ihres Spektakels entlarvt, ist die Ökonomie nur noch die Krankheit des Willens zum Leben, Krebs des Lebendigen. Indem sie sich immer tiefer in einen mehr und mehr zerstückelten Körper einnistet, erfindet sie eine Magendarm-, Genital-, Augen- und Rückenmarkökonomie, eine Ökonomie der Organe, der Funktionen und der Reflexe, die, da sie sich die herrschende Welt zum Muster genommen hat, ihre Normen der Leistung, des Profits, der Sparsamkeit, der Geldausgabe, des Willens zur Macht und des Tausches aufzwingt.

Und während sich ihre ungeheure Abstraktion der Gesten, der Muskeln und der Verhaltensweisen bemächtigt, wird sie durch das in Schach gehalten, dessen sie nicht habhaft werden kann. Es gibt keine einzige Übelkeit, keine einzige Befriedigung oder Bewegung des Körpers, die nicht den ständigen Konflikt zwischen dem Verlangen, alles zu genießen, und der körperlichen Zersplitterung in Produktivitätszonen zum Ausdruck bringt.

Der Klassenkampf findet ohne Trennung auf der Straße und in mir statt.

Mit Zwang erreicht, wird das Beste zum Schlimmsten. Die meisten arbeiten mit tugendhafter Beteuerung der Ablehnung an ihrer eigenen Proletarisierung. Niemals zuvor ernährte sich das Verlangen nach Freiheit so sehr von Zwangsvorschriften. Ihr fröhlich Libertären, die Ihr mich dazu auffordert, selbständig zu sein, beschimpft zwar die Autorität, während Ihr nicht aufhört, Euch selbst Gewalt anzutun; Ihr rühmt die Faulheit, aber Ihr schämt Euch, nichts für die Revolution zu tun. Euer Haß auf die Ware verdeckt einen noch tieferen Haß - nämlich den, der Euch überkommt, wenn Ihr im Spiegel des abwesenden Lebens seht, wie Ihr dem immer ähnlicher werdet, was Ihr bekämpft. Was Euch am Endkampf interessiert, ist, mit Euch selbst Schluß zu machen.

Die Ablehnung der herrschenden Gesellschaft ist genauso langweilig und zwanghaft geworden wie deren Duldung, da beide Haltungen demselben Herrn gehorchen. Ihr Pfaffen des Negativen und Helden der radikalen Reinheit, die Welt kann mittlerweile ganz gut allein untergehen. Da sich die Ware durch die eigene Verneinung vorwärtsbewegt, wird sie mit Eurer Kritik umso fetter, denn sie entsteht die meiste Zeit aus Euren ökonomischen Reflexen: dem Zwang zur Darstellung, dem Wirken des Willens zur Macht, dem Schuldgefühl der Abrechnung, der Abreaktion des Mangels an Leben.

Keine Lehre kann gut sein, denn sie will Achtung einflößen. Befehlen macht mich zum Kopfarbeiter, Gehorchen zum Handarbeiter, und ich will weder das eine noch das andere sein. Wo Zwang herrscht, herrscht die Arbeit, und wo Arbeit herrscht, ist keine Lust. All das, was mich daran hindert, ohne Gegenleistung zu genießen, gehört zur verkehrten Welt, selbst wenn es die Ablehnung einer solchen Welt wäre.


Erzwungene Lust, verlorene Lust. Die Idee, man solle um jeden Preis genießen, ist auf dem Weg, die alten Verbote mit denselben Folgen zu verkleistern. Sie greift im rechten Augenblick denjenigen unter die Arme, für die die Revolution eine Pflicht, die Radikalität eine Prüfung und das Leben ein Spektakel ist.

Während die alten Maulwürfe der Kritik am Zusammenbruch der alten Welt arbeiten, machen sich die Befreier der Liebe an die Verbesserung der sexuellen Ökonomie. Die verbotene Lust wird durch die obligatorische Lust ersetzt. Man stellt sich dem Genuß wie einem Examen - mit Aussicht auf Erfolg oder Mißerfolg. Trinken, Essen, sich der Liebe widmen, gehören von nun an zum Zierrat des guten Rufs. Gebt hier das durchschnittliche Stundentempo Eurer Orgasmen für den Beweis Eurer Radikalität an!

Seitdem die Lüste in der Fabrik des Alltags arbeiten, ist es mit den Sünden der Ausschweifung vorbei. Die Tabus sollen übertreten werden - das verlangt der Fortschritt der Ökonomie! Was gibt es Besseres als die obligatorische Befreiung, um das grundsätzliche Verbot, den Ausschluß jeden Genusses, der für sich beansprucht, dem Zwang, der Arbeit und dem Tausch zu entgehen, wieder zu stärken?

Dort, wo der Genuß die Ökonomie nicht zerstört, wird die Befreiung nur aufgespart: Jede Freiheit verdeckt eine Unterdrückung, jede Unterdrückung gibt sich als Freiheit aus.

Die Asketen des schönen Lebens haben sich den Bürokraten der klassenlosen Gesellschaft angeschlossen, die Genießer des Elends verbünden sich mit den Verächtern des Überlebens. Rings um die Lüste läuft die Konkurrenz auf Hochtouren. Die Rückkehr zur Vergangenheit versucht, mit Hilfe der Sehnsucht dem wieder zu neuem Glanz zu verhelfen, was sich nur noch auf seinen Preis stützen kann. Nur weil die Sexualität, kaum von der Zwangsläufigkeit befreit, Kinder zu erzeugen, in die Schlingen orgastischer Höchstleistungen gerät, rühmt man jetzt Minne, Tändeleien, schmachtende Anbetung und was weiß ich was noch für antiquierte Keuschheiten? Die Verkehrung der alten Lüste ist aber genauso stark wie die Verkehrung der groben Mittel des heutigen Zeitvertreibs. Ist es nicht genug, daß wir gesehen haben, wie Gruppen, die der Familie und dem Staat entschlossen feindlich gegenüberstanden, sich auf Sippenmoral beriefen und die Mystik der Solidarität, des Bruchs und der Ehre wieder aufwärmten? Die Künstler des Rückschritts und die Modernisten der Rekuperation gehören demselben Milieu an - dem Milieu der Geschäfte. Was liegt mir an Euren gerichtsärztlichen Unterscheidungen und Euren Schubladen mit den Etiketten: Heterosexualität, Homosexualität, Perversion, Sadismus, Koprolalie, Normalität, Anormalität und so weiter und so fort? Der Genuß hat keine Grenzen, und ich werde mich gegen all das verwahren, was versucht, ihn zu begrenzen. Wenn das Begehrenswerte hinter dem Notwendigen zurücksteht, meide ich es wie die Arbeit. Ich finde keine Lust am Todesreflex, in dem sich, wie ich sehe, lediglich Kaufmännisches finden läßt. Mögen sich die Krätzekranken der Macht aneinander reiben mit ihrem Juckreiz, zu beherrschen und beherrscht zu werden, zu betrügen und betrogen zu werden, zu leiden und leiden zu lassen. Ich will nichts von der Wonne der Proletarisierung wissen. Das, was meine Zerstörung anstrebt, gibt mir klar genug zu verstehen, daß die Lust nur in der zunehmenden Bejahung des Lebens zu finden ist.


Die Arbeit ist die Verkehrung der Kreativität. Während die menschlichen Verhaltensweisen dazu neigen, sich die Warenmechanismen zum Vorbild zu nehmen, hat die Geschichte den Teil, der offiziell den Schöpfern übriggelassen wurde, ständig ausgelaugt. Von der Industrialisierung, dem Ende des Handwerks, dem Kulturmarkt und der Warenverhärtung ausgewrungen, verdorrt all das unter dem ideologischen Seidenstoff der Bürokraten, was die schöpferische Leidenschaft noch für sich beanspruchte - ob Künstler, Handwerker, Zauberer, Dichter, Komponist oder Visionär.

Die Kreativität geht durch die Walzenstraße der Arbeit wie jede andere Erscheinung des Lebens auch. Nachdem sie vom Warensystem in dem Maße zurückerobert wurde, daß sie jetzt unmittelbar seinen Interessen dient, läßt sie deutlich sehen, daß sie nur um den Preis der Verdrängung und der Verkehrung als Mitbewerberin geduldet wurde. Sie konnte niemals mit voller Beteiligung und auf das Leben hin gerichtet existieren.

Die Sehnsucht nach der Vergangenheit sollte uns die Armut und den Reichtum der Gegenwart nicht verbergen! Wie ergreifend die Werke einiger Musiker, Maler, Graveure, Schriftsteller und Bauherren für mich auch geblieben sein mögen, so sehe ich in ihnen nur allzu gut das Merkmal einer aufregenden Niederlage und eines unfreiwilligen Verzichts. Sie sind Restsplitter einer Explosion von Energie, die weder durch den intellektuellen Panzer, die Erfordernisse des Überlebens, das Geld noch den Willen zur Macht hätten gehemmt werden sollen. Mich bezaubert der sexuelle Impuls, der beharrlich aus ihnen strahlt, sobald man sich ihnen nähert - das Verlangen, noch weiter zu gehen und die Welt der verkehrten Schöpfung zu stürzen.

Was ist das: Genie, immer wiederkehrender Dämon, Geist der Inspiration? Ungeheuer, denen die Organisation der Arbeit eine marginale Freiheit, eine falsche Zwecklosigkeit gelassen hat, die die Kostenlosigkeit des Lebens parodiert. Vielleicht hat es in den Zeiten vor der Einführung des Ackerbaus eine Kreativität gegeben, eine die Naturkräfte abwehrende Praxis des gesamten - individuellen wie gesellschaftlichen - Körpers, deren Erinnerung durch die Zauberkunst, die Alchimie, die Kunst und die erfinderische Geistesgestörtheit wachgerufen wird. Sicher ist, daß die Notwendigkeit zu produzieren die Kreativität verdrängt, zerstückelt und zu ihrer Negation verdreht. Es ist die Mißgeburt, die die alchimistische Praxis mystisch wieder zum Leben zu bringen versucht; es ist die sinnliche Praxis, die darauf angewiesen wird, ins Exil des Kopfes zu gehen, während sich die Kopfarbeit von der Handarbeit befreit; es ist das Unerklärliche, aus dem das wissenschaftliche Unbewußte seine Fundstücke schöpft und das durch die Ökonomie rekuperiert wird.

Von nun an gleicht das Ende der tolerierten Kreativität - das Ende aller Kunstformen - die Leidenschaft der Schöpfung dem kostenlosen Genuß des Lebens an. Die Warengesellschaft hört nicht auf ihre Freiheitskirchen auf den Stein dieses grundsätzlichen Verbotes zu bauen. Ein Bastelmarkt rechnet auf den Ekel vor der Zwangsarbeit und die Verführungskraft des Kreativen, um aus jedem einzelnen seinen eigenen Arbeitgeber zu machen. Die Kunst der Glasmalerei, des Kochens, des Destillierens, die Kunst, einen Strauß zu binden, zu erzählen, zu singen, auszuspannen und zu träumen verschafft der Schöpfungslust, die durch den Produktionszwang auf die Arbeitslosigkeit angewiesen war, Arbeit.

Die Vorstellung, man müsse schöpferisch sein, um dem Überlebensschmerz zu entgehen, vollführt die Entleerung im Namen dessen, was sie aufheben könnte. Wenn es stimmt, daß die Leute - darunter diejenigen, die sich für glücklich ausgeben - von einer tückischen Unzufriedenheit aufgezehrt werden, und wenn keiner mehr bestreiten will, daß dieses Unbehagen vom Mangel an einer globalen Kreativität herrührt (damit meine ich den Mangel an einer Konstruktion des Lebens gemäß den Begierden), so wird bald alles nach Wunsch gehen, denn jetzt kommt die Zeit, in der jeder aufgefordert wird, sein eigenes Glück zu produzieren.

Mit dem Fußpfad der Tricks und Schliche hat der Gauchismus die Seitenstraße der Arbeit eröffnet. Ursprünglich konnten diese Kniffe für ein Selbstverteidigungsmittel des Genusses gehalten werden: sie lehrten, möglichst wenig zu arbeiten, das nötige Geld zu nehmen, ohne sich sonderlich anzustrengen, Befehle zu umgehen, Chefs lächerlich zu machen und den Staat zu bestehlen. Alsbald aber verwandelte sie der Verfall des Arbeitsmarktes in eine Nebenarbeit. Sie wurden zu einer Art, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne jedoch dabei aufzuhören, Geschäft zu sein. Die Mayonnaise der Autonomie ziert eine Wirklichkeit, in der jeder sein eigener Boß sein will, um sich ohne Mittelsperson auszubeuten.

Daß dieses Gesetz der Tricks und Schliche zwangsläufig in den Gefängnissen, Fabriken, Kasernen und den Ländern des Ostblocks herrscht, zeigt analog, inwieweit unsere Welt Gefängnis ist. Es hat keinen besseren Verbündeten als die Unterdrückung, die es rechtfertigt.

So groß ist das Elend des ökonomistischen Verhaltens, daß es das für Genuß hält, was bloß aufgesparte Arbeit ist - wenn es den Humor nicht so weit treibt, daß es bei der Jagd nach Hilfsmitteln mehr Energie verschwendet als bei der Arbeit.

Jede Fessel ist grauenerregend. Erwartet nicht von mir, daß ich zwischen der Fessel wähle, bei der man Schrauben anzieht, und der, die einen von der Pflicht zum Anstand, vom Versprechen zum Vertrag und von der Furcht vor den anderen zur Herrschaft über die anderen treibt. Ich will die Ware nicht mit dem bekämpfen, was sie mir an Leben wegnimmt, sondern mit dem, was das Leben ihr wieder abnimmt, indem es sie zerschlägt. Eine andere Kreativität gibt es nicht.

Aus dem tendenziellen Fall der Lüste entsteht das Verlangen nach einem echten Leben. Daß intensiv leben soviel bedeuten soll wie "sich tot zu leben", war schon Grund genug, die grundsätzliche Unmenschlichkeit der verkehrten Welt zu hinterfragen. Vielleicht sollte man aber warten, bis der Überschwang, der paradoxerweise dazu bestimmt war, sich in der Leidenschaft der Selbstzerstörung auszuleben, bei der stetigen Arbeit, in der ein jeder zum Tauschobjekt wird, Tag für Tag in der Sorge um das Überleben verschwindet.

Früher stürzte man sich in die Vergnügungen wie in einen hoffnungslosen Kampf. Jetzt hingegen stürzen sich die Vergnügungen auf uns, um uns das zu entreißen, was noch an Leben in uns ist, damit wir langsam vor Langeweile ausbluten.

Nichts kann den Schmerz des Überlebens heilen. Auf Stümpfen wachsen keine Zähne. Die Freuden des Überlebens bilden die letzte Entwicklungsstufe jener unheilbaren Krankheit: des auf den Tod gerichteten Lebens; die letzte Unannehmlichkeit des verkehrten Lebens.

Hier entdeckt aber die alte Fatalität des uneingeschränkten Todes ihren historischen Betrug, da die das Leben einfrierende Abstraktion von nun an selbst im Lauf der Geschichte ihres Absterbens das soziale Wiederaufleben des Willens zum Leben erneut ans Licht bringt. Der illusorisch mit dem Schicksal der Welt identifizierte ökonomische Imperialismus ist am kritischen Punkt seiner Offensive angelangt. Wir können ihn zerstören, weil jeder sich des Konfliktes bewußt wird, der in ihm zwischen dem Willen zum Genuß und den Pseudo-Befriedigungen durch die Waren, die den Willen reizen, ohne jedoch aufzuhören, ihn zu verbieten, stattfindet. Ein solches Bewußtsein ist unmittelbar körperlich.

Das psychosomatische Territorium ändert sein Profil im ständigen Zusammenstoß des Verlangens nach Leben und seiner ökonomischen Fälschung. Die durchkreuzten Genüsse wirken wie so viele Nachklänge der Warenkastration auf die gesamten Organe ein. Es gibt keine einzige Krankheit, die nicht eine Störung des Willens zum Leben zum Ausdruck bringt. Kummer mit dem Herzen, Kummer mit den Zähnen, Liebeskummer - niemals hat eine Analogie, so wie die der Kinder, Träumer, Liebenden und Wahnsinnigen, treffender in der absoluten Lächerlichkeit der Medizin und ihrer Todesrituale darauf hingewiesen, wie Herz-, Geschlechts-, Magen-, Blasen-, Rückenmark-, Lungen-, Darm- und Zellenleiden (der berühmte Streit um den Krebs) zu heilen sind. Und niemals hing eine solche Heilung so deutlich von der Befreiung des Genusses durch die Vernichtung der Warenzivilisation ab.

Der Überlebensschmerz zehrt die bürokratisch-bürgerliche Klasse und das Proletariat mit gleicher Beharrlichkeit aus und doch mit einem Unterschied: die erste Gruppe denkt in der Perspektive des Heilmittels, mit anderen Worten in der Organisation der Krankheit. Für sie gibt es keine andere Heilung als den Tod, den sie mit dem Tod des gesamten Menschengeschlechts gleichsetzt. Die zweite Gruppe hat sich lange in eben diese Falle locken lassen. Sie hat ihren proletarischen Stand mit den Mitteln verneint, die ihr von einer herrschenden Klasse verkauft wurden, die auf dem Weg war, sich selbst unbewußt zu proletarisieren.

Führt Befreiung zur Proletarisierung, so ist sie lediglich der Deckmantel der Unterdrückung. Ein Kranker wird unheilbar, sobald er die Krankheit akzeptiert und sein Willen zum Leben sie wie ein parasitäres Einwachsen duldet, das nur durch eine von außen angewandte Behandlung aufgelöst oder entfernt werden kann. Da der Warenprozeß, den die herrschende Klasse verwaltet und durch den sie gleichzeitig verwaltet wird, ein Todesprozeß ist, ist auch sein Heilmittel ein Todesprozeß. Die wohl oder übel von ihr befürwortete Therapie ist genau das, was sie tötet. Ihre Endlösung gegen die Krankheit des Überlebens besteht in einer Apokalypse der Weltware.

Für die Proletarier hingegen ist die Liquidierung des Warensystems nur eine Folge der Befreiung der Genüsse. Sie können direkt zum Ende der Proletarisierung, dem Ende des Überlebens, gelangen, da sie nicht die eigene Entfremdung verwalten. Sie erfahren die Lebenslast als Unterdrückung der herrschenden Klasse, und nichts kann sie im Grunde genommen daran hindern, sobald sie den Konflikt zwischen kostenlosem Genuß und Ökonomie erleben, Arbeit, Zwang, Intellektualität, Schuldgefühl und den Willen zur Macht über Bord zu werfen.

Nicht um weniger zu leiden, sondern um besser zu genießen, will ich kämpfen.


4.DIE PERSPEKTIVE DER MACHT UMKEHREN HEISST, DEM GENUSS DIE DURCH ARBEIT UND ZWANG IN BESCHLAG GENOMMENE ENERGIE ZURÜCKGEBEN

Das, was die Lust unterdrückt, wird durch die Lust zerstört werden. Sabotage, Absentismus, freiwillige Arbeitslosigkeit, Krawalle, wilde Streiks, Verbreitung der Kostenlosigkeit - die Schläge gegen die Warengesellschaft werden immer häufiger und es freut mich, daß weder Parolen noch irgendwelche Anregungen ihre Auslöser sind. Der Wille zum Leben hat nichts mit den Handelsreisenden der Verweigerung und der Radikalität zu tun. Er allein reicht aus, um das zu untergraben, was ihn unterdrückt und verfälscht.

Der Genuß richtet die Arbeit genauso sicher zugrunde, wie die Arbeit den Genuß. Wenn Du Dich nicht damit zufrieden gibst, vor Ekel zu sterben, dann laß es damit getan sein, so zu leben, daß Du die widerwärtige Notwendigkeit zu arbeiten, zu befehlen, zu gehorchen, zu verlieren, zu gewinnen, etwas darzustellen, zu urteilen und beurteilt zu werden abweist.

Ich appelliere nicht an Eure Mühe, mir geht es um die Ungezwungenheit. Obwohl die Wege des Genusses unter der Tyrannei der Warenverhältnisse geheim bleiben, so weicht doch der Boden dort auf, versinken und verfallen dort die mächtigen Gebäude des Staates, des Profits, der hierarchisierten Macht, diese Quellen so vieler Schrecken und aussichtsloser Zusammenstöße. So wie der Dschungel die Betonstädte überwuchert, so wird die Suche nach dem grenzenlosen Vergnügen das bezwingen, was die heldenhaften Anstürme des Proletariats nicht erschüttern konnten - und zwar aus gutem Grund.

Ein wenig arbeiten, um weiter zu überleben; die Glacéhandschuhe der Legalität anziehen, um den Staat zu bestehlen; sich davor fürchten, ein kleines Mädchen auf der Straße zu streicheln; es nicht wagen, den Polizisten niederzuschießen, der mich anhält - das sind die Einengungen, das sind die gesellschaftlichen Knüppel, die mich gewaltsam von mir entfernen. Aber die Macht packt mich nicht vierundzwanzig Stunden täglich am Kragen. Warum sollte ich das ökonomistische Verhalten, das sie einige Stunden lang von mir verlangt, den ganzen Tag praktizieren? Warum mich von einer Fabrik zur anderen begeben; meine Wirkungskraft durch Polemik rentabel machen; mich um meinen Kurs an der Börse der Meinungen sorgen; mich durch Liebesverträge binden; mir ein Tempo aufladen und mich nach meiner Leistungsfähigkeit messen; aus dem verdrängten "Ich will" ein abreagierendes "Man muß" machen; für mein Vergnügen bezahlen und mich mit dem Kleingeld der Aggression für eine unvermeidliche Frustration entschädigen?

Die bewilligte Disziplin macht die Stärke der Staaten aus, und sie wiegt niemals so schwer, wie wenn sie sich auf die Verweigerung beruft. Aber die Hellsichtigkeit ist noch tiefer gedrungen. Sie spürt den Feind auf dem Weg der Gewohnheiten auf. Wie käme ich dazu, die Lust, die ich am Schreiben eines Buches gehabt habe, das dazu fähig ist, sie zu verlängern, in einen lästigen Schreibdienst, eine Arbeitsleistung, eine Abgabefrist und einen Stundendurchschnitt zu verwandeln? Ich sollte mich um Eure Meinung, um Wirksamkeit und Verständlichkeit des Textes kümmern? Könnte ich mich nur damit zufriedengeben, meine Begierden zu erhellen und von ihrer Verkehrung zu befreien, zur Kostenlosigkeit zu gelangen und eine Zusammenfassung davon auf den Buchmarkt zu werfen, wo es genügt, sie zu stehlen, das zu behalten, was gefällt, und das Übrige auszuspucken.

Man arbeitet nur zur eigenen Zerstörung. Ein Minimum an Kasernierung reicht mir schon, um jede Gelegenheit zur Desertation zu ergreifen und jede Gelegenheit zur Desertation zu schaffen. Ich habe mich durch die Lossagung von all dem, was mich langweilt, gewinnen lassen. Die Liebe zu den Vergnügen ohne Gegenleistung führt mich spontan dazu, mich für die Warengesellschaft völlig nutzlos zu machen, wobei mir ihre eigene Nutzlosigkeit umso offensichtlicher wird.

Der Genuß kann der Ware nur unter der Bedingung entgehen, daß er sie zerstört, aber er kann sich nur dann an ihre Zerstörung machen, wenn er ihr zumindest für kurze Zeit entgeht. Nicht diejenigen, die am meisten gehungert haben, haben die Hungerrevolutionen gemacht - und genauso werden auch nicht diejenigen, die am wenigsten genießen, die Revolutionen der generalisierten Selbstverwaltung machen.

Jede Versuchung zu leben ist ein Versuch. Konnte ich mich für einen Augenblick vor der Gewalt der Ware retten, so sehe ich besser, wie ich sie zerschlagen kann. In meinen Unterschlupf gelangen nur meine Vergnügen; dort entgleite ich den Händen des Zwangs und lebe nur mir und dem mir Verwandten. Um das Ergebnis mache ich mir keine Sorgen.

Wenn der Kampf gegen das Elend zum Kampf um die Überfülle der Leidenschaften wird, findet die Umkehrung der Perspektive statt. Erwägt nicht jeder, aus seinen wirklichen Genüssen seine tägliche Nahrung zu machen? Spürt Ihr nicht, wie die Lüste rund um Euch herum die alten Zwänge zu produzieren, Geld zu verdienen, zu erziehen, zu konsumieren, dem Prestige und der Beförderung nachzujagen, zu befehlen und zu gehorchen, bis ins weiche Wasser der Kostenlosigkeit gleiten lassen, in dem das Leben wieder aufblüht? Es ist letzten Endes so leicht, der Arbeit, der Angst, der Belohnung und der Strafe den Rücken zu kehren, den Spiegel der Rollen zu zerbrechen und dahinter die einzige echte Wirklichkeit des Lebens zu entdecken - die Ausstrahlung einer Liebesumarmung, das Hochgefühl der Kreativität, die zufällige Begegnung, die Änderung des organischen Rhythmus, die von der Schalheit der Ware befreite Würze der Dinge. Wer bei sich auf den Grund geht, der weiß, wie er die Welt auf der anderen Seite der sie versperrenden Ruinen aufbauen kann.

Zu Unrecht hat man die Wirkungslosigkeit der Salonrevolutionäre verspottet, denn es hat keine einzige Revolution gegeben, deren Schicksal nicht in den intellektuellen Kreisen besiegelt worden ist; zum Unglück derer, die sie mit ihrem Blut angefangen hatten.

Das Bett hat den Salons, Cafe's, Sekten und Familienversammlungen wenigstens voraus, daß es nicht sonderlich dazu anregt, große Reden zu führen, zu schulmeistern, zu rekuperieren, am Ruhm der Schlachten zu arbeiten und mit Proklamationen Krieg zu führen. Es verführt vielmehr zum Träumen, Faulenzen, Liebkosen und zu einem Genuß, der einen taub macht für Befehle und Angst und begierig auf eine Wollust ohne Ende. Und dazu noch der Vorzug, daß diejenigen, die aus dem Bett springen, um nach den Waffen zu greifen, endlich wissen wozu!

Anstatt Revolte und Radikalität zu predigen, gebt lieber jedem Proletarier genug Zeit, um sich selbst wieder ins Leben zu rufen, um den Zwang loszuwerden und um hinter all dem ihm aufgezwungenen Willen das zu entdecken, was er wirklich wünscht. Überlaßt ihn seiner Lust und seiner Unlust, seinen Neigungen und Abneigungen, dem Schwung und der Trägheit, dem Auf- und Abschwellen der Erregung, laßt ihn in Ruhe und laßt's in Ruhe treiben!

Gepackt von der nicht zu bremsenden Leidenschaft für den Genuß, kann niemand umhin, in sich eine gleiche Gewalt zu entdecken, die ihn dazu bringt, seine Lüste zu befriedigen und all dem den Hals zu brechen, was sie hemmt. Die Revolution wird die Hochflut des Lebendigen zum Leben hin sein. Und es wäre doch gelacht, wenn eine solche Sturmflut die Stuckwände der Hierarchie, des Staates und der Warenzivilisation unberührt ließe.

Es kommt nur darauf an, die Prioritäten umzukehren, der Perspektive des Profits und der Macht den Blickwinkel des Genusses entgegenzusetzen und aufzuhören, gegen den Strich an unsere Vergnügen heranzugehen. Die Umkehrung der Perspektive ist nicht die Umkehrung der verkehrten Welt, sondern ihr Bewußtsein und ihre anfängliche Praxis. Jeder geht dabei von sich aus, schafft seine eigene Autonomie und entdeckt daß er mitten in einem Kampf zwischen dem Willen zum Leben und der Macht selbst steht, die diesen Willen in einen Todesreflex verwandelt. Mit einem Mal wird dann der Klassenkampf in den Individuen selbst gegenwärtig, so wie er ständig in der Gesellschaft gegenwärtig geblieben ist und wird durch folgende, gleichzeitig persönliche und kollektive Frage erhellt: auf welche Befreiung kann jemand hoffen, dessen Funktion es ist, Arbeit und Zwang aufzuzwingen?


Über das auf das Genitale reduzierte Sexuelle hinaus kündigt sich die Erfindung einer globalen Sexualität an. Seitdem der Tauschmarkt den Lüsten ihre letzten Geheimnisse geraubt hat, um sie in den Kategorien der Leistung, des Erfolgs oder des Mißerfolgs, der Spezialisierung und der Hierarchie zu klassifizieren, ist die früher leicht durch das Klistier der Frömmigkeit erleichterte Furcht vor der Sünde der Angst vor der Gegenleistung, der Besorgnis, den Vertrag nicht zu erfüllen, und der fixen Idee, die Gemütsregungen in einem Gleichgewichtszustand halten zu müssen, gewichen.

Als letzte Stufe der Zersplitterung und des Schwindens der sexuellen Energie hat das Genitale den Orgasmus bis zum Universalmuster der Befriedigung und der Unbefriedigtheit erhoben. Gibt es tatsächlich ein besseres Abbild für die uns beherrschenden Mechanismen: eine Maschine, die die erotischen Spannungen durch die raffinierte Zusammenarbeit von erogenen Hebeln, von Rückmeldungen, Kugellagern, Reglern, Schmierungen und Entleerungen anhäuft und auf Null reduziert, wobei das Ganze seinen Höhepunkt in einem Kraftaufwand, einem Selbstverlust und einem Verbrauch der Lebenskraft erreicht, denen die Technik der Zurückhaltung, der Sparsamkeit und der rekuperierenden Arbeit einen illusorischen Ausgleich anbietet.

Die auf den Orgasmus reduzierte Sexualität trägt als unauslöschbares Zeichen der ökonomischen Kastration die Ohnmacht zum Genuß in sich.

Wenn es dagegen in der Liebeslust eine Fülle, eine strotzende Sinnlichkeit und ein unvergleichliches Hochgefühl gibt, so läßt es sich dadurch erklären, daß die Macht der Ware dort weniger stark ist als bei der Lust zu trinken, zu essen, zu sehen oder zu reisen. Die Liebe sträubt sich dagegen, auf die genitale Funktion und ihre ergänzenden Keuschheiten reduziert zu werden. Sie hat sich der ökonomischen Einwurzelung so gut entgegengesetzt, daß sie eine der immer seltener werdenden Zonen ist, in denen das Unaussprechliche immer noch herrscht. Und dieses Unaussprechliche ist der Beweis für die Anwesenheit des Lebens, das nichts ist, wenn es nicht alles wird.

Jede Befriedigung ist eine sexuelle, sie geht von dem globalen sexuellen Impuls aus. Wird sie aber von den übrigen Befriedigungen getrennt, so reproduziert sie schnell die Trennung vom Leben und erliegt dem Todesreflex.

Gegen die parzellierende Reduzierung der Vergnügen behauptet sich von nun an der Wille, die Vergnügen in ihrer sexuellen Einheit von neuem zu schaffen und von ihrer Verkehrung zu befreien, um sie dem Lebendigen zurückzugeben. Wer den unstillbaren Durst auf Genuß einmal empfunden hat, weiß, daß die Lebenskraft eine unerschöpfliche Quelle ist. Eine Lust verlangt nach einer anderen; man kann zwar ein einzelnes isoliertes Vergnügen überbekommen, jedoch nicht die vielfachen Begierden, die durch die vielfältig befriedigten Freuden hervorgerufen werden. Dann kann ein einziger Zustand der Fülle zehn Hemmungen auflösen, dann kann die Zeit dicht werden, anstatt zu verfließen, kann ein Augenblick des Lebens die Ewigkeit enthalten.

Das Leben ohne Gegenleistung ist alles, was mich noch begeistern kann. Es wird Euch nicht gelingen, mich dazu zu bringen, es unter die verstohlenen und zufälligen Glücksfälle einzuordnen - eine Flucht, eine Kinderei, das Reich des Traumes, bevor man zum Nützlichen, zur Wahrheit der Arbeit, zur Vernunft der Fügung zurückkehrt. Es ist die einzige Wirklichkeit, an der mir etwas liegt, da es die einzige zu schaffende Wirklichkeit ist.


Das Leben geht verloren, wenn es nicht erschaffen wird. Die gesellschaftliche Abbröckelung hat die Individuen zur Grundlage dessen gemacht, was gegen sie unternommen werden kann. Von nun an steht es ihnen zu, entweder der Warenreduzierung zu erliegen oder eine von jeder Form der Macht, des Profits und des Tausches freie Gesellschaft auf ihre Begierden zu bauen.

Worin liegt der Voluntarismus? In einer Zwanglosigkeit, bei der meine Lust zu genießen zusammen mit meinem Genuß wächst; in einer Leichtigkeit, bei der meine Arbeit in dem Maße abnimmt, in dem meine Lust zum Genuß größer wird; in einem Vergnügen, bei dem ich umso mehr danach trachte, die Bedingungen eines ununterbrochenen Vergnügens zu schaffen, desto weniger ich arbeite, oder aber in der Ablehnung des Staates, des Spektakels und der Ware, so wie sie die Staatsanwälte der Revolution und der Vertreter der Theorie fleißig verbreiten?

Jeder Genuß ist schöpferisch, sobald er dem Tausch entgeht. Wenn ich in der Liebe zu dem, was mir gefällt, nicht eine Lebenszone aufbaue, die für die Verwesung durch die Ware möglichst wenig anfällig ist, wie sollte ich dann Kraft genug haben, die alte Welt zu zerstören? Und wie sollte ich meine Begierden vor der herrschenden Konditionierung schützen, wenn ich nicht jedes Nachgeben des Staates und jede soziale Krise dazu mißbrauche, um der Ware und ihren Verbündeten die härtesten Schläge zu versetzen?

Die Kostenlosigkeit ist die absolute Waffe des Genusses, und sie liegt dem Übergang der individuellen Aktion zur kollektiven Praxis zugrunde. So wie die Verweigerung des Überlebens die Triebkraft der 68er Bewegung gewesen ist, so wird das endlich eingeforderte Leben die Zeit der generalisierten Selbstverwaltung einleiten.


5.DER INDIVIDUELLE GENUSS FÜHRT UNMITTELBAR ZUR KOLLEKTIVEN ENTWENDUNG DER PRODUKTIONSMITTEL, SO WIE SEINE ERZEUGUNG UNMITTELBAR ZUR ABSCHAFFUNG DER ARBEIT FÜHRT

Vielzuviel hat der Rhythmus der Warengesellschaft den Körper dazu bestimmt, den Tanz der Angst, der Verachtung, der Demütigung und der Rache, den Tanz des Raubtieres, des Jägers, des Polizisten, Terroristen und Bürokraten zu tanzen. Ahnt Ihr jetzt nicht den unvorhersehbaren, katzenartigen Gang der Partisanen des maßlosen Lebens, der Guerillakämpfer des Genusses, der Poeten einer Autonomie, die sich plötzlich zu einer nicht zu unterdrückenden Kraft verbündet haben?

Genauso ansteckend wie die Warenverhältnisse ist auch der Wille zum Leben. Es ist soweit, daß wir der Zivilisation des Todes den Todesstoß geben, und zwar nicht durch den Zwang der Dinge, sondern durch den ihn auflösenden Genuß.

Die Krisen vermehren sich, die Schläge, die das alte Staats- und Wirtschaftsgebäude erschüttern, lassen sich nicht mehr zählen. Man könnte fast glauben, ein mächtiges Gelächter würde genügen, um es niederzuwerfen.

Um der Lust willen erschaffen - verbreitet sich nicht gerade das in den Stätten, die zum Muster für die Organisation unseres alltäglichen Lebens geworden sind: den Fabriken der industriellen Produktion? Durch immer ungezwungenere Sabotageakte wird eine Montagewerkstatt in einen Spielplatz und ein Lager in ein Zentrum zur kostenlosen Verteilung verwandelt, während Führerworte und Agitationsreden mit einem Lachen begrüßt werden. Wer wagt es von nun an, sich der Fabriken zu bemächtigen, um dort eine andere Form der Arbeit zu organisieren?

Es gibt nichts durch Arbeit Erzeugtes, das nicht der Kreativität von Millionen von Proletariern gestohlen worden ist. Wie könnt Ihr Euch dann wundern, wenn aus der systematischen Zerstückelung der Fabriken Werkstätten der Schöpfung entstehen, und wie könnt Ihr daran zweifeln, daß aus den Ruinen dieser ausgedörrten Gebärmutter der Ware das entstehen könnte, womit wir unsere Wohnungen und unsere Vergnügen errichteten, unsere Träume, unsere Abenteuer, unsere Musik und unser Umherschweifen - Erde, Wasser, Luft und Feuer?

Ich kenne die Grenze zu genau, wo der Reiz eines Gegenstandes zerbricht. Wie einnehmend dieses Trinkglas auch sein mag, so trägt doch jede seiner Verführungen den Stempel der Rentabilität. Selbst dann, wenn es gestohlen wurde, ist es mit dem Schandmal des Preises behaftet, in ihm herrscht das Grundgesetz der Verdorbenheit, ein Mangel, der es ganz und gar besudelt. In die Freude daran, es auszutrinken, zu betrachten und zu streicheln, mischt sich der klebrige Nachgeschmack der Ware.

Von nun an soll sich für mich der kleinste Gegenstand den Blicken des Profits entziehen, da es ja wohl das mindeste ist, daß die Entwendung der vom Kapitalismus geerbten Techniken radikal das beseitigt, was bei einem schönen Glas die Kostenlosigkeit meines Vergnügens stört. Nichts kann man genießen, was aus der Arbeit oder dem Zwang entstanden ist.

Mir gefällt es, dem Vorzeichen eines solchen Willens zur Entwendung im Rückgriff auf die ökologische Technologie nachzuspüren. Nicht, daß die Sonnenenergie, die Regeneration des Bodens, das Ende der tiefen Feldbestellung oder die Erforschung der Pflanzenempfindlichkeit den Erfordernissen des Kapitals, der Erneuerung der Ware und dem Antiverschmutzungsmarkt entgehen könnten, doch hinter dem zynischen Geschäftsfieber einer Wirtschaft, die aus allen Schüsseln ißt, kommt so etwas wie das weit zurückliegende Verlangen zum Durchbruch, von neuem eine Natur zu schaffen.

Niemals hat die Natur wirklich existiert. Ursprünglich der göttlichen Macht gleichgestellt, herrschte sie durch das Göttergesetz, also durch die Zauberer und Priester. Mit der Entwicklung der Produktionswirtschaft wurde sie Gegenstand der Arbeit und Ausbeutung. Letzten Endes teilt sie mit dem Proletariat das bedauernswürdige Vorrecht, zwar als Objekt, jedoch nicht als Subjekt anerkannt zu werden.

Wie hätten die Gesetze des Profits und der durch sie überlebenden Gesellschaft ihr eine Spezifität zugestehen können - keine getrennte Existenz, sondern ein mit den heute von uns geforderten Genüssen fest verbundenes Leben? Wie hätte die Zivilisation der Arbeit sie nicht der Feindschaft beschuldigen sollen, da die Arbeit selbst sie wie eine Feindin, das heißt verkehrt, behandelte - in der Perspektive der Rentabilität und der bis zur Zerstörung getriebenen Ausbeutung?

Es sieht jedoch so aus, als ob eine gewisse Seite der Natur der systematischen Denaturierung der Ökonomie entsprechen würde. Auch wenn die in der Wiege der Rentabilität zur Welt gekommenen großen Erfindungen - Rad, Schiff, Kompaß, Bett, Kochkunst, Dialektik und was Ihr sonst noch wollt den Geboten des Kapitals auch noch so hörig sein mögen, so ist es doch möglich, daß sie vielleicht aus einer Ironie des Lebens herrühren, aus dem panischen Finger der im Unterbewußtsein vergrabenen sexuellen Totalität. Man kennt mittlerweile die Rolle, die die sehr wichtige Beziehung Frau - Kind in der Architektur, der Schiffahrt und vielen Entdeckungen gespielt hat, die einzig der Notwendigkeit der Produktion angerechnet wurden.

Der Humor der vergessenen Kindheit pfeift aus Leibeskräften auf jenen wissenschaftlichen Ernst der sich durch die ernsthaften Rechnungen des Profits zusammenfassen läßt. Der Wille zum Leben wird jetzt den angeblichen Wunderwerken der Warenzivilisation wieder ihren Platz als harmlose Schöpfungen zuweisen.

Arbeit und Zwang zeigen nur die Wege der Ohnmacht. Eine Bewegung fängt an, in der als Gegenschlag Menschen und Dinge es lernen, sich von den Schlacken der Ware zu befreien, um ihre Menschlichkeit zu erzeugen. Alles beschäftigt sich spürbar damit, möglich zu werden, da wir allmählich erahnen, daß es eine Art und Weise gibt, die Dinge und Umstände durch das Verlangen zu packen, das sie mit dem Leben verknüpft und wodurch sie sich selbst anbieten. Die individuelle Kreativität wird das vollbringen, was der Imperativ kollektiv niemals in die Tat umsetzen konnte. Das ist die Grundlage der Versammlungen der generalisierten Selbstverwaltung.



II.DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DES TAUSCHES IN ALL SEINEN FORMEN


1.IN DER WARENZIVILISATION WIRD JEDE VERÄNDERUNG ZUM TAUSCH

Die Geschichte der zivilisierten Menschen war bisher lediglich die Geschichte der Ware, die sie produzieren und die sich selbst zerstört, indem sie sie zerstört. Diese Geschichte hat ihren Ursprung im Brauch des Tauschhandels. Sie organisiert sich zusammen mit der Agrarwirtschaft und findet ihre Endbestimmung im industriellen Zeitalter. Dort erreicht die Ökonomie den äußersten Grad ihrer Ausdehnung und Verkümmerung, indem sie das Leben auf der Erde und in den Herzen der Menschen in dem Maße knapper macht, in dem das Leben den Warenverhältnissen ein menschliches Gesicht verleiht. Gerade dieses menschliche Gesicht strebt heute der Sozialismus an!

Selbst wenn den Individuen nur noch die elende Produktion ihres zunehmenden Elends übrigbleibt, findet sich doch noch eine Ideologie des Fortschritts, um ihnen einzureden, die Selbstverwaltung dieses Elends zu beanspruchen. Damit enthüllt dieser letzte Schwindel alle diejenigen, die ihm bereits vorausgegangen sind. Wenn durch jede Stufe der ökonomischen Entwicklung das Blut durchsickert, das für Befreiungen vergossen worden ist, die zur Modernisierung der Sklaverei geführt haben, so heißt das eindeutig, daß alle Befreiungskämpfe sich nach der Notwendigkeit des Wirtschaftsaufschwungs gerichtet haben.

Die sozialen Errungenschaften haben immer wieder nur ein schon im voraus feststehendes Ergebnis bestätigt und ihre Siege waren immer die der Ware. Während man glaubte, für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zu kämpfen, kämpfte man eigentlich für den ökonomischen Imperialismus, für die schmerzvolle Entbindung einer neuen Warenform, für die Einführung eines Agrarsystems, für den freien Verkehr der Güter, für die Industrieproduktion, für den Konsumzwang.

Hier öffnen die Veränderungen neue Türen, die in eine endgültig verschlossene Welt führen. Wie könnte eine Organisation, der der permanente Austausch der Lebenskraft gegen Arbeitskraft zugrundeliegt, eine Veränderung des Lebens dulden, die keine Veränderung der Arbeit wäre?



Ohne die individuelle Befreiung ist der Klassenkampf die Triebkraft der Warenselbstzerstörung. Die bürokratisch-bürgerliche Klasse und das Proletariat sind die beiden objektiven Abstraktionen derselben, nur anders erlebten Entfremdung. Sie bringen im neunzehnten Jahrhundert die widersprüchliche Bewegung ans Tageslicht, durch die der Warenprozeß sich gleichzeitig verstärkt und abschwächt.

Die herrschende Klasse ist die Trägerin der Warenexpansion. Das Proletariat, das danach strebt, die Bourgeoisie und sich selbst als Klasse zu liquidieren, ist der Zerstörungsfaktor der Ware. Indem die herrschende Klasse aber an der Warenexpansion arbeitet, arbeitet sie auch am eigenen Verfall. Sie funktioniert wie eine Klasse, die zwangsläufig das ärmer macht, was in ihr an Menschlichkeit noch übriggeblieben ist. Sie hat keinen anderen Ausweg als den Tod und deshalb richtet sie sich vollkommen nach dem Werdegang des ökonomischen Systems.

Das Proletariat dagegen ist nicht zwangsläufig auf die Abstraktion angewiesen, die allmählich jede menschliche Substanz aus dem Bourgeois und dem Bürokraten saugt. Verzichten aber die Proletarier darauf, die Ökonomie zu zerstören, weil sie darauf verzichten, eine auf ihrem Willen zum Leben beruhende Gesellschaft zu schaffen, so schließen sie sich wiederum in jenem Negativen der Ware ein - in jenem Proletariat, das sie von sich selbst abstrahiert. Sie werden zu den Trägern der Warenselbstzerstörung und arbeiten an der Erneuerung der Ware, an der Verkümmerung des Lebendigen und an der allgemeinen Proletarisierung.

In diesem Sinne gibt es einen selbstmörderischen Kampf des Proletariats und sein Projekt einer klassenlosen Gesellschaft sieht wie ein Friedhof aus, woran die besten Verteidiger des Proletariats nicht unbeteiligt sind.

Im neunzehnten Jahrhundert nimmt die betriebliche und betriebsame Mentalität die voll Hochmut und Unterwürfigkeit steckende militärische Mentalität des Ancien Régime in sich auf, findet jedoch keinen Geschmack daran. Sie verbraucht sie mit jenem abnehmenden Appetit, der dem Willen zum Leben durch die Fortschritte der Ware aufgezwungen worden ist (ist es nicht bezeichnend, daß jede ausschlaggebende Entwicklungsstufe der Warenexpansion ihren Ausdruck in der gesellschaftlichen Wehmut, der Neigung zur Trauer und einem selbstmörderisch eifrigen, unsinnigen Blutvergießen findet?). Sie dauert noch an und verfährt mit dem Menschlichen wie mit einem Ding von Wert - wie mit einem Kapital, jedoch im Gegensatz zur feudalen oder despotischen Verschwendung mit den geringsten Kosten. Sie konnte den demokratischen Lorbeerkranz dank jener politischen Kunst erringen, die heute auf die Kunst des Regierens reduziert worden ist und von der man sagt, sie kümmere sich um einen, wenn man sich nicht um sie kümmere.

Es gibt keine andere Politik als die jakobinistische, leninistische und autoritäre. Wie könnte es auch anders sein? Sie ist bloß die ökonomische Einsicht in die menschlichen Angelegenheiten, die vom feudalen Prunk zum Staatsapparat weiterentwickelte Praxis der Macht. Lange Zeit hat sie Verwirrung gestiftet, indem sie den bewußten Proletarier dem politisierten gleichgesetzt hat. Sie hat die Individuen von ihrem Kampf ums Leben abstrahiert und aus ihnen Bauern auf dem Schachbrett des ökonomischen Imperialismus gemacht. Durch das ökonomistische Verhalten, das sie im Namen des Scharfsinns verbreitet, trägt sie die Schuld an dem Scheitern des zaghaften Versuchs einer anarchistischen Selbstverwaltung in Spanien, sowie daran, daß der Wille zum Leben niemals der Mittelpunkt des Bewußtwerdens gewesen ist.

Wir haben nur den Tauschhandel des Überlebens kennengelernt; mittlerweile wird unter der Parole "Veränderung des Lebens" als politischem Deckmantel das Schlimmste durchgeführt.


2.DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DEN TAUSCH KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DES KOSTENLOSEN GENUSSES

Der Tausch ist die kürzeste Verbindung von einer Falle zur anderen. Im Dschungel der Städte kann man lange Züge von Stahlkäfigen sehen, in denen traurige Figuren mit dem Kopf wackeln. ihre unveränderliche Bewegbarkeit zeigt einem das Bild der Veränderung in der Kontinuität. Da ergreift plötzlich bei einem Gedränge oder zufälligen Zusammenstoß das Tier die Gelegenheit und bricht aus seiner geschäftigen Stumpfheit aus: es erhebt ein markerschütterndes Geschrei, fuchtelt mit den Armen und läßt sich zu Gewalttätigkeiten hinreißen, zu denen es keiner von denen, die mit ihm verkehren, für fähig gehalten hätte. Der Autofahrer ist das ungetrübte Phantombild jenes Individuums, das so weit in der Ware eingewickelt ist, daß es mit ihr eine Einheit bildet.

In jedem versteinert langsam das Menschliche. Das Herz verwandelt sich in einen Motor, die Haut wird zur Karosserie und die Gesten eignen sich die Eigenschaften eines Mechanismus an. Dann schlägt der Erstbeste wie ein Ertrinkender ziellos um sich und geht zugrunde, indem er versucht, all diejenigen mitzureißen, die gerade in Reichweite vorbeigehen.

Der Tausch lähmt das Lebendige. Genügt nicht das Gefühl, wie eine Ratte in die Falle geraten zu sein, um jene Anfälle der ohnmächtigen Wut hervorzurufen, jenes Hin- und Herzerren der Freiheit, mit dem man sich nur noch weiter festfährt, diese emotionale Pest, die einen für all das blind macht, was nicht die Dunkelheit des Todes hat?

Selten sind die Augenblicke, in denen man nicht fühlt, wie sich die kalte Hand der Ware um einen schließt, und in denen man nicht spürt, wie das Leben in den Fugen des Profits und der Macht zerfließt. Unter all unseren Schritten gehen Falltüren auf. Wer der Familie entgehen konnte, stolpert in die Zweierbeziehung; wer vor der Einsamkeit flieht, tritt zur Gruppe über. Man springt von der Schule in die Werkstatt, von der Kaserne in die Partei, von der Gesellschaft auf den Friedhof. Man schlüpft aus der Rolle und in die Funktion, von einem Alter in das andere, vom Opfer zum Verzicht, wobei der erste Schritt genauso schwer ist wie der letzte. Es gibt in mir kein Unbehagen, das nicht unausbleiblich aus einem Warenverhältnis herrührt.

Ihr sagt, die Leute ändern sich und werden anders, sie werden sich selbst untreu und verbessern sich, sie üben Verrat, können sich selbst übertreffen und einen enttäuschen. In der Tat tun sie nichts anderes, als sich herumzuschlagen. Alle fliehen vor einer Falle, um in die nächste zu geraten, werden jeder Partei untreu, da alle sie verzehren, suchen nach sich selbst in der Verweigerung, sich zu finden, und verfluchen ihr umherschweifendes Exil, ohne jedoch dabei aufzuhören, sich selbst aus dem Lebendigen auszuweisen.


Die Selbstzerstörung der Warengesellschaft schreitet durch eine Reihe von Verdrängungen und Abreaktion voran. Alle solchen Dinge wie Soldaten, Bürokraten und diejenigen, die Autorität innehaben, wissen, wie Körpermuskeln blockiert und aufströmende Begierden gehemmt werden. Sie wissen weiter, daß das Tor des Willens zum Leben und der zwanglosen Libido mit dem Vorhängeschloß des Zwerchfells durch die Notwendigkeit verschlossen ist, mit gutem Beispiel voranzugehen, sein Ansehen zu behaupten und Achtung einzuflößen.

Jedesmal, wenn der gesellschaftliche Zwang - die jeder Gemeinschaft von der Ökonomie aufgeprägte Rationalität der Anständigkeit - uns am Ohr zieht, werden ein Bulle, ein Militär, ein Pfaffe in uns wach. Beurteilt man die Leute nach ihrem normalen Verhalten, dann ist der Posten der alten Welt bei denjenigen nicht weniger wachsam, die am lautesten ihre Verachtung für die Chefs zum Ausdruck bringen.

Wenn der in seinem tugendhaften Panzer steif gewordene Körper sich den Schein der dinglichen Unempfindlichkeit ausleiht, bemächtigt sich ein Todestanz unserer Gesten: die Bewegung der Lüste zerbröckelt zu Fragmenten des Hasses, zu Ticks der Frustration und zu einem Juckreiz der Verachtung. Von dem Augenblick an, von dem der proletarisierte Körper sich dessen bewußt geworden ist, weiß er, daß es eine grundsätzliche Verdrängung gibt, aus der alle sonstigen entstanden sind und von der all die Abreaktionen, die den Rücklauf regulieren, herstammen. Auch sind wir zur Endphase einer Geschichte gelangt, in der die Variationen der Ware durch die Zeit einen Zustand der Klarheit und der Materialität erreicht haben, die die permanente Unterdrückung des Lebens durch die Ökonomie enthüllt.

Das Geheimnis, in das eingehüllt die Psychoanalytiker den menschlichen Organismus zu einer Zeit gefunden haben, in der die Ware noch nicht ans Ende ihrer Materialisierung gelangt war, hat jede Kraft verloren und läßt mit zunehmender Lächerlichkeit die Maschine zur Herstellung der verkehrten Welt erkennen, die fortwährende Bewegung des Tausches, jene ansaugende und auspumpende Maschine, die aus der sexuellen Energie des Körpers die Arbeitskraft schöpft, durch die sie verdrängt wird.


Das Verdrängte wird verkehrt und reagiert sich auf gleiche Weise ab. Zur Vermehrung und unaufhörlichen Erneuerung gezwungen, entledigt sich die Ware ständig der Formen, die ihre Weiterentwicklung hemmen. Aus einer dieser Verwandlungen, die je nach ihrer Bedeutung vom revolutionären Sprung bis zu den Verzerrungen der Mode reichen, entstand die Psychoanalyse. Sie hat die Kompliziertheit des individuellen Konflikts zwischen dem Willen zum Leben und dem Todestrieb, dem "Lustprinzip" und der gesellschaftlichen Notwendigkeit entdeckt, wobei sie aber die Einfachheit des Tausches verschleiert und die neue Unterdrückung verdeckt, die aus der Abweisung der alten entstanden ist.

Wenn sie einerseits die Morbidität der Verdrängung tatsächlich entlarvt, so fördert sie andererseits eine Abreaktion, die als kompensatorische Erleichterung der Spannungen und Wiedereingliederung in das normale soziale "Leben" der herrschenden Gesellschaft einen doppelten Nutzen bringt.

Obwohl es genauso viele Abreaktions- wie Frustrationsarten gibt, stimmen die verschiedenen Zweige der psychoanalytischen Wissenschaft in ihrem Byzantinismus wenigstens in dieser elementaren Wahrheit überein: sie machen sich bezahlt, sowohl durch Geld als auch durch Macht. Ob sie gelehrte Glossen über den verdrängten Sadismus schreiben, den sich der Chirurg, die Familienmutter, der Polizist und der Mörder, jeder auf seine Art und Weise, zuschulden kommen lassen, oder sogar in diesem Sadismus einen der Aspekte des verkehrten Genusses sehen - wie sollten sie, ohne sich selbst untreu zu werden, akzeptieren, daß die Verkehrung des Lebens durch die Notwendigkeit, Profit und Prestige zu erzeugen, gerade die grundsätzliche Verdrängung ist?

Die Barbarei unserer Zeit ist nicht geringer als die der mongolischen Horden - sie ist nur bürokratisierter und demokratisch besser verteilt, sie steht dem wie eine mühsame Abreaktion gebilligten Tod näher. Das verkehrte Leben hat seine Maßlosigkeit eingebüßt. Das Wechselspiel von Verdrängung und Abreaktion untersteht immer noch der gesellschaftlichen Selbstregulierung, aber es handelt sich um eine erschöpfte, sterbenskranke Gesellschaft. Die alten Verbote reproduzieren sich und lassen sich gleichzeitig übertreten; wozu immer mehr ein bloßer Redeschwall reicht. Die Empörung über die Verbrechen des Staates beruhigt sich bei der Nachricht, einige Polizisten seien niedergeschossen worden, das ständige Hin und Her der Emotionen erhält die Blockierung des Körpers aufrecht, während unsere Ohnmacht, den Willen zum Leben über die programmatisch gegen ihn ausgerichtete Ebbe hinausbrechen zu lassen, vom Gedanken an die große Abreaktion zehrt.

Die emotionale Pest ist das Perpetuum Mobile der Nicht-Aufhebung. Durch das Gefühl, gelähmt zu sein, wird man wiederum gelähmt die Flucht aus der Falle reproduziert die Falle und die Jagd nach Veränderung ist die beste Garantie dafür, daß sich nichts ändert. Angst, Streß, Furcht, Schamhaftigkeit, Verachtung, Aggressivität und Wille zur Macht stammen alle aus einem unterdrückten Willen zum Leben, den sie wiederum unterdrücken. Die Empfindung, jeden Augenblick in der Falle von Anständigkeit, Rollen, Funktionen und Umständen zu stecken, erstickt jede Möglichkeit einer Aufhebung und wirklichen Veränderung im Keim.

Es gab eine Zeit, in der sich die Volksführer, Redner und Machtkäufer hervorragend jene emotionalen Anwandlungen zunutze machten, die jeden wie mit einem krankmachenden Dunst umhüllen. Ihr Kleinkrämerschamanismus schöpfte daraus die Illusion einer unmittelbar bevorstehenden Umwälzung und eines Reiches der Gerechten. Der Zorn, den sie unter den Mengen hervorriefen, war nicht der des sprudelnden Lebens, sondern das Aufbäumen eines gefangenen Tieres, die Abrechnung des "Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein", die Abreaktion, bei der man sich zu herabgesetzten Preisen für die Verachtung entschädigt, die man zum vollen Preis über sich ergehen lassen mußte. Indem der Zorn den Körper in seiner falschen Befreiung einschließt, zerstört er die Gefängnisse, nur um neue aufzubauen.

Die großen emotionalen Seuchen sind vorbei. Die selbstzerstörerische Hysterie des Faschismus und des Stalinismus hat das Ende der Illusionen von Veränderung gekennzeichnet, denen die Ohnmacht zum Genuß zugrunde lag. Die Materialität des Tausches neigt dazu, die Skala der Emotionen, denen die Selbstablehnung zugrundeliegt, auf die Langeweile zu reduzieren.

Seitdem das Elend des gesellschaftlichen Spektakels den Deckmantel seiner großen nationalen und internationalen Ideologien verloren hat, rufen Pathos, Vibrato der Stimme und die ergreifende Rohrflöte des Agitators oder Politikers nichts anderes mehr als Lachen hervor. Dem Helden- und Führerkult mangelt es unheilbar an Mystikern und Trommlern. Die Gewißheit: jeder Augenblick ist dem andern ähnlich, alle Stätten sind sich gleich, ein Abenteuer wiederholt sich unermüdlich und man badet in allen Breitengraden im selben Gewässer des Profits und unter derselben Sonne der Ware - das ist genug, um aus der Langeweile das Bewußtsein des Tausches und aus der emotionalen Pest eine Variante der selbstmörderischen Neigung zu machen, das Gefühl, man stürbe schneller, wenn man um sich schlägt und es gäbe sonst keine Veränderung, auf die man warten könne.

Gegenüber dem Tod gibt es kein Alibi mehr. Wie könnte man tiefer in die Verzweiflung, weiter ins Überleben hineingehen? Entweder müssen wir mit dieser Welt zusammen sterben oder uns selbst wieder ins Leben rufen, indem wir sie neu erschaffen.

Niemals waren die Umstände günstiger, damit diejenigen, die Partei fürs Leben ergriffen haben, die letzten Spiegel des Scheins zerbrechen und zur anderen Seite der verkehrten Dinge übergeben können. Die Zeit der Seelenprüfer geht zuende, es beginnt das Zeitalter der Tänzer, das Ballett der Kunst zu ficken und gleichzeitig die alte Welt umzuschmeißen.

Vor mehr als zehn Jahren hat die Geschichte bewiesen, daß es zum Umsturz der Warenzivilisation einen einzigen Angelpunkt gibt und zwar die Endstufe ihrer Selbstzerstörung. Heute behaupte ich, daß dieser Umsturz mit einem einzigen Hebel erfolgreich zu bewirken ist: mit der Befreiung des individuellen und kollektiven Genusses.


3.DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

Ich übernehme die Verantwortung für nicht und bin für niemanden da. Was zum Teufel hätte ich in der Tretmühle der Warenverhältnisse zu suchen? Ihr macht Euch über die absurden Konflikte, die ethnischen Kämpfe, Religionskriege und politischen Schweinereien lustig, über die gesellschaftlichen Rivalitäten und die Familienfehden, aber Ihr erhebt die Stimme, den Kopf und die Faust, um ein Teilchen Autorität zu behaupten und das Markenzeichen, dem Ihr Euch hingegeben habt, durchzusetzen.

Ich mache mir nichts aus jenen Beziehungen, jenen Gruppen und jenen kränkelnden Gemeinschaften, in denen man brüderlich fest geschlossen den Ellenbogen in den Magen des Nachbarn stößt und die Freundschaftsäußerungen Verträge zur gegenseitigen Verpflichtung sind; in denen die Lust zu trinken, zu ficken, zu sprechen und zu essen nach dem Kodex der öffentlichen Darstellung bezahlt wird, niemals etwas kostenlos geschieht, man sich schämen würde, Sympathie oder Antipathie zu empfinden, ohne diese auf eine radikale Theorie zu stützen; in denen die Gründe für das Beste wie für das Schlimmste gemeinsam damit beschäftigt sind zu ignorieren, daß sie die Gründe der verkehrten Welt sind.

Erwartet weder Versprechen noch Vertrag von mir, erwartet überhaupt nichts. Ich bin keine Verhaltensvorschrift, kein Maßstab des guten oder schlechten Gewissens, kein in irgendeinem Erfolg oder Mißerfolg gefaßter Plan. Ich bin nichts in Euren Berechnungen - rechnet weder auf mich noch mit mir.

Ich erhebe keinen Anspruch darauf, all den Fallen des Tausches zu entgehen. Wenn Eure Gesetze, Eure Richter, Eure Ordnungs-, Rechtfertigungs- und Zahlungsdienste, Eure Befehle, Eure Rollen und Eure Anständigkeit mich eine Zeit lang dazu zwingen, mich auf der Kehrseite meiner Begierden aufzuhalten, so kann ich dennoch zuhören und nichts hören, zusehen und nichts sehen, sprechen und nichts sagen, handeln und nichts tun, da sein und doch für keinen da sein.

Achtet darauf, daß Ihr die Ablehnung des Tausches und das Umgehen der Fallen nicht mit ich weiß nicht was für einem Elfenbeinturm verwechselt. Der Garten, den ich anbauen will, ist derjenige meiner Lebensfreuden, und er kann nur angebaut werden, wenn er sich über die ganze Erde erstreckt.

Außerdem ist es nicht die Tugend der Verweigerung, die mich weit entfernt hält vom Sumpf Eurer Polemik, von Euren Konkurrenzreflexen, von Euren Verbrechen und Vergnügen, die bezahlt werden müssen. Nur die Kostenlosigkeit strebe ich an, jene Nutzlosigkeit meines Genusses ohne Gegenleistung. Aus dem Willen zur Entfaltung meiner Lebensbegierden, welcher Art sie auch sein mögen, von der unbedeutendsten bis zur leidenschaftlichsten, schöpfe ich ein spontanes Selbstverteidigungsmittel gegen die Proletarisierung durch den Tausch.

Die Besitzergreifung der Menschen und der Dinge widert mich nicht in ihrer Form als Ungerechtigkeit oder Grundlage der Klassengesellschaft an. Mir reicht es schon, daß sie meine Begierden begrenzt, einschließt, terrorisiert und aus ihnen Güter macht. Die Menschen der Verweigerung sind die Wächter des Mangels an Leben. Ihre Verurteilung des Rassismus, der Eifersucht, des Geizes, des Eigentums und der Hierarchie ist jedoch letzten Endes nur eine Beschwörungsformel, in der ihre Unfähigkeit, durch sich selbst, außerhalb jeden Vergleichs und ohne fremdes Urteil zu existieren, einen Trost findet. Wer dem Genuß gegenüber aufmerksam sein kann, der ignoriert Vaterland und Grenzen, Herren und Sklaven, Gewinn und Verlust. Die sexuelle Überfülle genügt sich selbst, sie trägt in ihrem Raum und ihrer Zeit genug Schwung, um das zu zerbrechen, was sie hemmt.


Die Erschöpfung des Tausches führt zur globalen Veränderung. Die Freuden des Überlebens arbeiten am Überleben des sie erzeugenden Systems. Ihr Elend drückt die unerträgliche Langeweile aus, zu der der generalisierte Tausch, die Allgegenwart der Ware und die krebsartige Besitznahme des Lebens durch die Ökonomie führen.

Zu der Zeit, in der die Ware kaum unter der religiösen Verschleierung hervorbrach, hatten Reise und Abenteuer einen Platz in der Kunst, das Schicksal mit den Göttern und ihnen zum Trotz aufzubauen. Freuden und Prüfungen ließen das Leben auf seinen unausweichlichen Endpunkt zuschreiten, auf jenen Tod, den man aus Trotz anstrebte, indem man ihn gleichzeitig durch List zu vermeiden suchte. Die Reibungen des Lebens bezahlten die Übergangsgebühr von diesem Jammertal in jene andere, paradiesische und höllische Welt: eine echte mystische Freske unserer heute entmystifizierten Überlebensfreuden.

Der Tod hält nicht mehr Wache am Fenster des Jenseits. Er steigert stufenweise den Mangel an Leben, durch den der Körper langsam auf den zum Zustand einer Ware zusammenschrumpft.

Warum sollte man sein Bett verlassen? Unter jedem Klima herrschen dieselben verbotenen und verkehrten Genüsse. Doch das Bedürfnis nach Bewegung besteht weiter, auch wenn es von einer zunehmenden Anzahl verlorener Illusionen umgeben ist. Diejenigen, die am Sonntag hinausgehen, um den Wald zwischen zwei Betonwänden zu bewundern, die über die Ozeane fahren oder sich bei einigen gastfreundlichen und Tauschhandel treibenden Pygmäen über die Unmenschlichkeit der industrialisierten Stämme hinwegtrösten, haben am Ende so sehr das Gefühl, tausendmal das oberflächliche Leben eines immer gleichen Films erlebt zu haben, daß ihnen kaum mehr etwas anderes übrig bleibt als die Leidenschaft, alles zu verändern: hier und jetzt.

Warum sollte man bis zur Erschöpfung der Zeit der Geographie und des gesellschaftlichen Schwulstes fliehen, während um uns herum der Wille entworfen wird, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich das Leben nach dem Spiel der Leidenschaften ändert? Die Beweglichkeit der Begierden wird seltsame Veränderungen bewirken, schon kann man die Vielfältigkeit der Liebschaften unter den Schwüren, die man nicht austauscht, entdecken, und bald erhebt sich die individuelle Architektur auf den Ruinen dessen, was beim Aufbau bezahlt werden mußte. Wir werden die Freude genießen, ein Haus für jeden Einfall, für jeden Traum und jede Kindheitserinnerung zu haben.


Die Neigung zur Verwandlung entsteht aus der Abneigung gegen die Rolle. Die Mode, der Anstand, der Preis, das Kennzeichen des Neuen und des Abgetragenen, das Besondere und das Banale haben der Kleidungskunst immer wieder einen Repräsentationskodex aufgezwungen, der sich wenig mit der launischen Lust zur Selbstverwandlung vereinbaren ließ. Zu der alten Trauer, das zu tragen, was nur eine hierarchische Uniform war, kommt heute noch eine solche Verarmung des Spektakels hinzu, daß die Kleidung das Zusammenschrumpfen der Rollen, die auf bloße Funktionen innerhalb eines sozial-bürokratischen Organisationsplans reduziert werden, über sich ergehen lassen muß.

Ein Arbeitskittel kleidet sowohl einen Direktor als auch eine Literatin oder einen Arbeiter. Das Austauschbare lehrt uns, daß jeder seinen Preis, ob gut oder schlecht, auf dem Alltagsmarkt hat. An der Börse, in der das Leben verlorengeht, ist der Kursverfall genauso viel wert wie der Kursanstieg. Wenn das Geld Glück oder Unglück bringen soll, dann ist es nur das Glück oder Unglück der Ware.

Aus der Nacktheit des Königs macht die Rentabilität ein neues Kleid. Wozu denn die Masken? Wir behielten sie früher, um irgendeine kleine Freiheit, eine eilig und geheim begangene Überschreitung, eine kleine Ladung Ausschweifungen zu verheimlichen, die zur Schau zu stellen von nun an zum guten Ton gehört. Alle Rollen sind abgenutzt; durch ihr äußeres, schon so oft zusammengeflicktes menschliches Aussehen tritt das funktionelle Knochengerüst, der körperliche Mechanismus zutage, der die ökonomischen und wiederum vermenschlichten Mechanismen reproduziert.

Es gab eine Zeit, in der der Polizist, der die Uniform auszog, eine Chance hatte, in sich eine übriggebliebene Spur von Menschlichkeit zu entdecken. Wenn aber die Uniform eins wird mit dem Muskelpanzer, wenn die Funktion eines Chefs, eines Sklaven, eines Stars zur Proletarisierung des Körpers gehört, wenn der Tausch des Lebendigen gegen gesellschaftliche Formen unmittelbar durch die Osmose der Empfindungen und dessen geschieht, was diese in ihrem Gegenteil erstarren läßt, auf welche Befreiung außer der plötzlichen Flut des Willens zum Leben und der Vielfältigkeit der geduldig dem Leben zurückgegebenen Begierden kann man dann noch hoffen?

Ihr beschuldigt die Kinder des Wankelmuts und der Haltlosigkeit, da sie sich nur zögernd die oberflächliche Blechware aneignen, die Ihr als Verpackung und zur eigenen Anpassung an die Größe der gesellschaftlichen Regale benutzt. Und doch juckt es Euch nicht, jene verrosteten Panzer zu zerschlagen, die Euch zu einer Art Ruhm auf Kosten des Lebens verholfen haben? Wollt Ihr nicht in dem Kind, das Ihr gewesen seid, das entdecken, was Ihr habt sein wollen - das, was man wirklich werden kann, wenn einmal die gesellschaftliche Form, die uns auf ihre Grundfunktion des Produzierens reduziert, beseitigt worden ist?

Das, was festlegt, ist zwangsläufig hassenswert. So oft habt Ihr versucht, mich in Euer Register einzutragen: Ihr wolltet mich an einem Ende fassen - an irgendeinem, sei es ein Name, eine Erkennungsnummer, ein Beruf, eine Staatsangehörigkeit, ein Lohn oder ein Ruf -, um mich auf Eurem Schachbrett hin und her zu schieben. Die auf der Befreiung des Genusses beruhende Autonomie jedoch macht sich über die Klassifizierungen und die ihnen entsprechende konfusionistische Gleichgültigkeit lustig. Schnaubend beschwört sie die tausendfach schillernden Seiten herauf, die die unreduzierbare Eigenheit eines Individuums, seiner Begierden und seiner Leidenschaften ausmachen, sobald es entschlossen ist, sie zu erleben, anstatt sich vor ihnen zu fürchten. Die Rolle war die letzte Warenverkehrung der zukünftigen Verwandlungen.


Wir haben zuviel auf den Mangel und zuwenig auf den Überfluß gesetzt. Die Liebe ist deswegen blind, weil sie nicht mit den Augen der Macht sieht. Hofft nicht, sie könne urteilen und regieren, denn sie weiß nicht um das Tauschverhältnis. Sie ist sich selbst genug. Als Füllhorn der Sexualität drückt sie in einer Welt der Kastration den Willen zum Leben und dessen prächtige Wildheit am besten aus.

Wenn sich trotzdem die Liebenden, die sich gestern anbeteten, plötzlich in Haß und Verachtung trennen, so rührt das nicht von irgendeinem ewigen Gesetz des Verfalls, von irgendeiner Fatalität der Ermüdung her. Der Grund ist in der reduzierenden Stufenleiter des Tausches zu suchen, die die Leidenschaften älter, die Regungen des Herzens stumpfer, die Schwungkraft schwächer und die Liebe kleiner macht, indem sie die Begierden auf dem Kopfkissen der Gewohnheiten einschlummern läßt.

Dazu genügt eine vorübergehende Ermüdung, eine Erschlaffung des Willens zum Leben, dessen sinusförmiger Rhythmus in jedem Individuum ein anderer ist. Für denjenigen aber, der es versteht, den Appetit nicht zu verlieren, quillt gerade aus der Ruhe der Liebe und aus ihrer Stille noch einmal die Leidenschaft hervor. Anstatt auch im Herzen der Sättigung auf alles begierig zu bleiben, berufen sich jetzt die Liebenden auf die Pflicht, sie verlangen Beweise und versuchen, die Zuneigung leistungsfähig zu machen. Es werden allmählich Normen aufgestellt, deren gewissenhafte Einhaltung verlangt wird, die weder die leichtsinnige Vergeßlichkeit, die Ungeschicklichkeit oder die Ungebührlichkeit noch die launische Lust akzeptiert - alles wird zum Vorwand für Vorwürfe und Strafen. Da sie die Veränderung, in der sie sich wiederfinden würden, nicht herbeischaffen wollen, borgen die Liebenden sich die Krücken der Gesellschaft, die ihnen die Großherzigkeit abnimmt. Die kalte Vernunft vertreibt die Verrückheit des Überflusses und sorgt dafür, daß den Dingen Rechnung getragen wird. Dann ist es so weit: Die schleichende Zeit der geforderten und abgelegten Rechenschaft ist gekommen, die Zeit der Pflichten, welche die zuerkannten Rechte mit Zinsen abzahlt und Kuß auf Kuß den Schlag auf Schlag des gehetzten Prestiges andeutet.

Bei der beiderseitigen Besitzergreifung und Abschätzung der Zuneigung überzeugt sich schließlich jeder, daß "die Augen geöffnet wurden", daß die angebotenen guten Eigenschaften bloß ausgeliehen waren, die Großherzigkeit schlecht belohnt wurde und die Neigung keineswegs gerechtfertigt war. Die Liebe beklagt sich darüber, unter Verzicht auf Rückerstattung verausgabt worden zu sein, das Bedauern nimmt den Tatbestand des Bankrotts auf, während die Leidenschaft zur Niedertracht, die Zuneigung zum kleinlichen Tauschgeschäft und die Freundschaft zur Denunziation wird: eine hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Sache - eine Sache der Familie, des Paares und des Tausches.

Wie soll man in einer Welt leben, in der alles bezahlt werden muß? Das Wenige an Genüssen, was Euch zum Verschenken übriggeblieben war und was Ihr Euch noch gönnen konntet, wollt Ihr jetzt austauschen, durch Rechnungen abschätzen und auf der Waage des Kräfteverhältnisses abwiegen.

Wir haben zugesehen, wie diejenigen, die Anspruch auf die Revolution erhoben, um mit der Kleinlichkeit der bürgerlichen Sitten Schluß zu machen, die alten Formen des Tausches so gepriesen haben, als ob sie nicht gleichfalls widerwärtig wären. Was für eine Kostenlosigkeit liegt in jenem Potlatch, bei dem der Spender die Geschenke, die er verschwenderisch um sich herum verteilt, als Macht, Dankbarkeit und Einfluß zurückgewinnt! Und stellt nicht immer wieder die Brüderlichkeit des Blutes, der gegenseitigen Hilfe und der Solidaritätsideologie die auf das Opfer zurückgeführte Gabe dar, das verzinsbare Darlehen, mit dem die Religion die Kostenlosigkeit erstickt hat?

Sogar der befriedigende Diebstahl am Staat, an einem Boß oder einem Kaufmann bezahlt das allgemeine Verbot der Kostenlosigkeit mit Kleingeld. Wann werden wir wissen, daß alles uns gehört, wann werden wir anerkennen, daß es keinen Grund - außer dem ökonomischen - gibt, damit irgendetwas dem Gebrauch der Lebensfreuden entzogen werden sollte?

Ich will keine Vergnügen mehr, die mich über das abwesende Leben hinwegtrösten sollen. Das, was aus Mangel geschieht, ist schon im voraus mißglückt, da es kein Elend gibt, das sich nicht kaufen oder verkaufen läßt.

Der Preis tötet das Leben. Gefällt Dir ein Gegenstand? Warum solltest Du dann nicht das zerbrechen, was seine Kostenlosigkeit verbietet? Ihr Krämer jeder Schattierung, hört Ihr nicht, wie überall auf den Straßen diese Warnung erklingt: "Zerschlagt was Ihr bezahlen müßt!"

Mit unersättlichem Durst aus der "Schale des Lebens" zu trinken, ist die beste Garantie dafür, daß sie niemals versiegt. Das wissen die Kinder, die alles nehmen, um es dem erstbesten anzubieten. Ihre Landschaften werden noch durch den sinnlichen Überschwang beseelt, bevor das ökonomische Gebot auftritt und mit dem Countdown des Erlebten anfängt; bevor sie die Gegenseitigkeit lernen und eingeweiht werden, eine Gabe zu verdienen, das zu verlangen, was ihnen zusteht, einen Gewinn zu belohnen, den Wertverlust zu bestrafen und denjenigen zu danken, die ihnen Stück für Stück den Reiz eines Lebens ohne Gegenleistung nehmen.

Desgleichen geschieht mit denjenigen, die leidenschaftlich lieben, diesen Kindern, die sich selbst wieder entdeckt haben. Die Liebenden geben alles und nehmen alles vorbehaltlos an. Ohne irgendetwas zu erwarten, wetteifern sie miteinander, wer am meisten anbietet. Dadurch wird die Liebe immer kräftiger und schöpft sogar aus ihrer Schlaffheit und ihrer Erschöpfung neue Genüsse. Ihre Intensität ist ohnegleichen, sie kennt weder Maß noch Preis. Sie macht dadurch satt, daß sie diejenigen niemals sättigen kann, die einen endlosen Durst nach den Lüsten haben.

Wenn der Zufall einer Begegnung mir Deine Liebe und Dir meine Liebe anbietet, reduziere die Harmonie unserer Begierden bitte nicht auf einen Tausch. Nur schlechte Verhaltensweisen werden ausgetauscht. Muß ich geliebt werden, um zu lieben? Habe ich denn so gut gelernt, mich so wenig selbst zu lieben? Wer nicht mit den eigenen Begierden angefüllt ist, der kann nichts geben. Wer nach dem Gesetz des "Gibst Du mir, so geb ich Dir!" vorgeht, geht langsam in die Richtung der Langeweile, der Müdigkeit und des Todes.

In dem Augenblick, in dem ich auf nichts warte und nichts schuldig bin, kann ich alles. Was es auch sein mag, was Du auch von mir haben willst, Du läufst Gefahr, mich ohne Mittel zu finden. Ich habe demjenigen mehr anzubieten, der sich nichts von mir erhofft. Endlich alles nehmen und alles ohne Wertmesser oder Wertskala geben, ohne Vergleich oder Waage, auf der das Für und Wider, die Rechte und Pflichten, die Irrtümer und die Wahrheit gewogen werden. Handle so, daß Du immer anbietest und nie nachfragst.

Was die scheinbar unerfüllbaren Begierden betrifft, so Würde ich auch dann nicht auf sie verzichten, wenn ich tausend Gründe dafür hätte. Ich will jede Leidenschaft lebhaft und gegenwärtig in mir behalten. Eines Tages wird sie schon die Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung entdecken, während der Verzicht all das verdirbt, was er berührt.

Zum Leben ja zu sagen ist nicht mehr der Traum, der durch eine tausendjährige Nacht in einen ewigen Schlaf eingeschlossen wurde. Vor der Vorherrschaft der Lebensbegierden weicht der Vorrang der Ökonomie. Allmählich bildet sich um mich und um jedes nach Autonomie suchende Individuum die kollektive Kraft des Lebens, die das Leichentuch der alten Welt sein wird.

Was aber, wenn der Tod dazwischen kommt? Was macht das schon - ich will nichts davon wissen.


4.DIE INDIVIDUELLE KOSTENLOSIGKEIT LAUERT AUE DIE GELEGENHEIT, ZUR GENERALISIERTEN KOSTENLOSIGKEIT ÜBERZUGEHEN

Das Glück wird nicht bezahlt; es wird der Gesellschaft, die es verkauft, entrissen. So sehr sind wir darauf konditioniert, mitten in den süßesten Freuden den Rückschlag, das Losgehen des Unglücksrades und die zu bezahlende Rechnung zu erwarten, daß das unglückliche Endergebnis jeder Subversion schon im Abenteuer selbst mit einbegriffen ist. Der Geist der Niederlage und der Verzweiflung ist jedoch heute so weit gekommen, daß er sich selbst wie irgendein fehlerhafter Warenkreislauf in den Schwanz beißt. Die Leidenschaft der Zerstörung hat aufgehört, eine schöpferische Leidenschaft zu sein, sie ist nur noch ihr Ersatz.

Am Ende der Hoffnungslosigkeit, zu der die Industriegesellschaften uns geführt haben, bahnt sich die Kostenlosigkeit ihren Weg. Wenn streikende Kassiererinnen die Kunden von ihrer Rolle befreien und ihnen dazu verhelfen, ohne Gegenleistung zu nehmen und zu geben, wenn Arbeiter sich daran machen, den Lagerbestand ihrer Fabriken zu verteilen, wenn die Leute sich weigern, Miete, Strom oder Fahrpreise zu bezahlen, wenn die Plünderer nicht mehr in der Wut der Abreaktion handeln, sondern das lustige Spiel der Verteilung des Überflusses spielen, muß man sich dann nicht fragen, ob die Proletarisierung durch den permanenten Tausch nicht ihre radikale Liquidierung einleitet?

Die ungezwungene Neigung zur Kostenlosigkeit gehört außerdem zur Arbeitertradition. Sollte ich, was mein eigenes Leben und die gesellschaftliche Entwicklung anbelangt, die geographische und zeitliche Landkarte des Willens zum Leben zeichnen, so würde ich neben den Fallen, in die ich gerate, die Augenblicke der erlebten Intensität unterstreichen, die vor der Warenbestrahlung geschützten Stätten, sowie die Orte, in denen es mir für den Augenblick einer Lust gelungen ist, die ökonomische Hydra lahmzulegen. Die Städte in Prat Llobregat, wo an einem Morgen im Jahre 1932 das Geld verbrannt wurde, würde ich dort eintragen, die katalanischen und aragonesischen Kollektive, in denen im Jahre 1936 schon die generalisierte Selbstverwaltung entworfen wurde, und die heutzutage von einer neuen Unschuld verbreitete Zahlungsverweigerung. In den Niederungen würde ich auch die Siege der Bürokratie, die durch die herrschende Klasse besetzten Gebiete, die Brutstätten von Bankiers und Politikern, die Zonen einer zunehmenden Proletarisierung vermerken. Aus dieser Karte würde man herauslesen können, wie sich die Kostenlosigkeit nach und nach um die Forderungen des individuellen Genusses herum organisiert und wie beide sich gegenseitig trotz der Todesschatten der Macht und des Profits zu einer unvergleichlichen Bewegung des Lebens anregen.

Polizeireviere, Kasernen, Gefängnisse, Steuerbehörden, Banken, Fabriken anzustecken und das Geld zu verbrennen - daran freut mich weniger das Ergebnis als die Richtungsänderung, die in solchen Handlungen ihre Umrisse zeigt: die angedeutete Richtung, das zu zerbrechen, was daran hindert, alles genießen zu können, und nichts zu dulden, was die Lust hemmen könnte. Die Zeit der Zerstörung aus Abreaktion ist vorbei, sie stellt nur noch die Huldigung dar, die von denjenigen, die zum Selbstmord neigen, einer Gesellschaft des Todes dargebracht wird, das Almosen des gauchistischen Mitglieds einer Wohltätigkeitsvereinigung für seine Armen.

Die Befreiung des Genusses trägt die allumfassende Kostenlosigkeit, die die Warenzivilisation zugrunderichten wird, in sich. Mir liegt weniger an der roten Morgendämmerung als an dem Lebensfunken, der sie erglühen läßt.


III.DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DER INTELLEKTUELLEN FUNKTION UND DES STAATES


1.DIE INTELLEKTUALISIERUNG IST DIE LETZTE ENTWICKLUNGSSTUFE DER WARENEXPANSION

Die Fortschritte der Intellektualität drücken den Fortschritt der Organisation als Vorrangsbedürfnis der Ökonomie aus. Vom neunzehnten Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben zwei Grundgedanken den Warenimperialismus beherrscht - die technische Weiterentwicklung und die Eroberung neuer Märkte. Zusammen mit der Entstehung des Staatskapitalismus tritt die Notwendigkeit einer allgegenwärtigen ökonomischen Organisation in den Vordergrund.

Die Ware investiert ihre Macht in die Verwaltung ihrer Mittel, bei der sie die eigene Produktion und den eigenen Verbrauch in einem geschlossenen Kreis anstrebt. Dazu verurteilt, ihre eigene Abstraktion bis zum Ende auszuführen, vollstreckt sie selbst das Urteil, indem sie ihren Tod und denjenigen der Gesellschaften, die sie produzieren, plant und bürokratisiert.

Die Bürokratie ist die konkrete Form jener Abstraktion, die den Individuen die menschliche Substanz aussaugt und sie darauf reduziert, nur noch Schatten der Ware zu sein. Sie ist die praktische Beziehung, die der Staat zu sich selbst unterhält, das heißt zu dem von ihm annektierten, kontrollierten und gelenkten Teil des Lebens.

Diejenigen, die durch ihren Zustand als Staatsbürger mit dem staatlichen Räderwerk identifiziert wurden, beschreiben die Bürokratie gern als einen absurden Auswuchs, einen durch eine geeignete Behandlung zu operierenden Bruch, als etwas Lächerliches, das durch eine bessere Organisation der Dinge zu vermeiden wäre. Nun ist die Bürokratie aber eigentlich die Verwirklichung des Staates als des vom Lebendigen getrennten Denkens und nichts anderes. Und was ist schon ein so getrenntes Denken, wenn nicht das Produkt der Arbeit, die jeder gesellschaftlich und auf Kosten des eigenen Lebens zu leisten gezwungen wird?

Seitdem die Ware aufgehört hat, sich hauptsächlich durch Kriege und Kolonisation zu verbreiten, verwaltet sie die von ihr eroberten Provinzen des Lebendigen durch immer forderndere Ausbeutungsverfahren. Je konkreter ihr Organisationsbedürfnis wird, desto greifbarer ist ihre Abstraktion.

Der menschliche Fortschritt in der Ware gewährt allen die Gedankenfreiheit, während der gleichzeitige Fortschritt der Ware im Menschen nur die Freiheit gewährt, nach dem getrennten Denken zu handeln. Die Arbeit des Denkens ist das Denken, das arbeiten läßt. Das also liegt unseren Freiheiten zugrunde!

Jeder, der aus seinem Leben weiter eine es allmählich trockenlegende Arbeitskraft schöpft, gelangt zu dem Punkt, die eigene lebendige Anwesenheit bei sich zu verlieren und nur noch ein Bild zu sein, das in dem gespenstischen Film, der ihm die Formen des Erlebten verleiht, auf der Leinwand des toten Denkens abläuft. Und viele stecken noch im Kampf um die Befreiung der Bilder.

Die intellektualisierte Befreiung stellt nur einen neuen Sprung in die Proletarisierung dar. Der Totalitarismus der Ware wird durch den Kopf verbreitet.


Die intellektuelle Partei bildet die Reservearmee der Bürokratie. Unter dem Vorwand und mit dem Privileg, nicht arbeiten zu dürfen, übte die Aristokratie eine Autorität aus, die letzten Endes bloß eine intellektuelle Arbeit war. Im Gegenteil dazu betrachtet die Bourgeoisie das teuer erkämpfte Recht zu regieren als den Sieg der Intelligenz über das Materielle und als die Überlegenheit des Kopfes über die Hand. Ihre Herrschaftsfunktion trägt kein göttliches Zeichen mehr, sondern nimmt für sich in Anspruch, denkende "Natur" zu sein. Je weiter die kybernetisierte Macht die Handarbeit in sich aufnimmt (so wie die Industrie das Kleingewerbe verdaut hat), desto selbstverständlicher wird es, daß die über das ganze Gebiet der Verhaltensweisen verbreitete Arbeit die Form der Kopfarbeit annimmt.

Die intellektuelle Funktion ist die Waffe der Herren. Der Sklave, der von ihr Besitz ergreift, wird von ihr ergriffen. Ihre befreiende Vernunft reproduziert die Sklaverei. Sie hat all die Verbrechen des Staates gerechtfertigt: ihr gehören die Götter, die Hierarchie, die Religion und die Moral, sowie all das, was die Knechtschaft bewahrt.

Von ihr stammen aber auch die aufrührerischen Mythen von Prometheus und Luzifer. So konnte die intellektuelle Funktion zweckmäßig die Götter lächerlich machen, an dem Bankrott des Heiligen arbeiten, die Macht der Herren, der Bosse und der Bürokraten aushöhlen. Sie hat an allen Revolten teilgenommen und auf alle Aufrufe zur Freiheit geantwortet. Verdient sie nicht ihren Rat, in dieser Ordnung der Dinge, durch die sich die Perspektive der Macht definieren läßt, gleichzeitig das Beste und das Schlimmste zu sein?

Von dem Augenblick an jedoch, an dem sie ihre Teilnahme an der widersprüchlichen Entwicklung der Ware kundtut, verliert sie jede Zweideutigkeit. Während sie in den Agrargesellschaften religiös und antireligiös gesinnt war, wird sie ideologisch und antiideologisch, wenn die greifbare Abstraktion des Geldes und der Macht sich über das ganze Gebiet der menschlichen Tätigkeiten erstreckt. Niemals hört sie auf, das Warensystem, an dessen Selbstzerstörungs- und Verstärkungsbewegung sie sich anschmiegt, gleichzeitig anzugreifen und zu festigen.

Letzten Endes gewinnt die bürokratisch-bürgerliche Klasse genauso viel damit, die subversiven Ideen - insofern sie vom Willen zum Leben getrennt bleiben - zu unterdrücken wie sie zu dulden. Das "revolutionäre" Denken wird als Mittel benutzt, um den Zustand der Unterdrückung, der durch das herrschende Denken erhalten wird, abzureagieren; während seine Beschaffenheit als Kopfarbeit aus ihm sogar die raffinierteste und fortschrittlichste aller Unterdrückungen macht, nämlich die, die im Namen der Befreiung ausgeübt wird.

Ihr, die Ihr auf die Fortschritte der Intellektualität rechnet, um das Bewußtwerden der Massen zu beschleunigen, schlagt dem traditionell zwangsweise zur Handarbeit verurteilten Proletarier genaugenommen vor, sein Los dadurch zu verbessern, daß er zum Kopfarbeiter wird. Ohne es zu wissen, sprecht Ihr die Sprache der Automatisierung, der Kybernetik, des Spektakels und der selbstverwalteten Entfremdung.

Die schlimmste Intellektualität ist diejenige, die sich selbst nicht akzeptieren will, die die Partei des Körpers gegen den Kopf ergreift, die dunklen und verdunkelnden Kräfte des Ich dem hellen Licht der Vernunft entgegensetzt und die Handarbeit der Kopfarbeit vorzieht, so als ob es sich dabei nicht um zwei Momente derselben Diktatur der Arbeit handelte. Diejenigen, die von der proletarischen Muskelkraft die Bestätigung der Richtigkeit ihres radikalen Denkens erwarten, unterscheiden sich nicht von den Offizieren, die das Soldatenvolk losmarschieren lassen. Auf zynische Art beschwört ihre Verachtung des Intellektuellen die absolute Verachtung, die sie für sich selbst hegen. Sie huldigen in bester stalinistischer und faschistischer Tradition dem zweideutigen Kult der Hand- und Kopfarbeit, jener gehörnten Gottheit, die sich unter dem Namen von Theorie und Praxis bis in die radikale Scharfsichtigkeit hineingeschlichen hat.

Unaufhörlich wächst die intellektuelle Partei innerhalb des Proletariats. Sie bildet die Reservearmee der Bürokratie. In ihr ersetzt das geistige Pack mit seiner Orthodoxie und Ökumene, seinen Ketzereien und Exkommunikationen vorteilhaft das Pfaffenpack. Indem man abwechselnd die zu kritischen Kritikern umgestalteten studentischen Nullen und eine Handvoll Denker lobt und tadelt, die die revolutionäre Theorie auf dem freien Feld der Geschäfte weiden lassen, versucht man vergeblich zu verheimlichen, daß die intellektuelle Funktion in jedem einzelnen wirkt und uns proletarisiert, indem sie uns den fortschrittlichen Keil der absterbenden Ware in den Kopf schlägt.

Die intellektuelle Funktion als die einzige Form der Intelligenz zu akzeptieren, heißt daran arbeiten, die Lebensbegierden zu verdrängen und sich noch mehr zu unterdrücken. Die Illusion, die aufgrund der Schläge entstehen konnte, die sie dem Kapitalismus einst versetzt hat, ist vorbei. Die Folgen ihrer heutigen Schläge sind schwerwiegender, da sie jeden dazu anregen, von sich selbst zu abstrahieren und das Projekt der Warenselbstzerstörung konkret auszuführen. Sie macht aus der Befreiung das armselige Überlaufen einer jämmerlichen Verdrängung.

Wenn die intellektuelle Funktion die wesentliche Waffe der herrschenden Klasse ist, so trifft sie doch das Proletariat, eine Klasse ohne anerkannte Macht, als ein fremder, ungebetener Gast - als der Geist, der jene Handarbeit leitet, durch welche die Proletarier ursprünglich definiert wurden. Erst dann, wenn das Proletariat versucht, sich der Macht zu bemächtigen, anstatt sie zu zerstören, verwandelt sie sich in ein abstraktes Klassenbewußtsein, dessen Deutung den Bürokraten und Steuermännern der proletarischen Befreiung zukommt.

Aber genauso wie die Befreiung sich selbst verleugnet, indem sie auf der reduzierenden intellektuellen Stufenleiter marschiert, bietet der gegen die zunehmende Proletarisierung plötzlich ausbrechende individuelle Wille zum Leben jedem eine radikal unterschiedliche Waffe an, um die vom Genuß getrennten Tätigkeiten loszuwerden.


2.DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UNKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DEN INTELLEKTUELLEN REFLEX KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DER SINNLICHEN INTELLIGENZ

Die Intellektualität wächst auf Kosten des Willens zum Leben. Da sich die Arbeitsteilung in der Teilung des Körpers reproduziert, hat die Trennung in Herren und Sklaven aus dem Kopf den Behälter für das getrennte Denken gemacht. Die Erscheinung der beiden Klassen von Kopf- und Handarbeitern hat aus ihm den Sitz der Macht gemacht, die die Sexualität kontrolliert und in die übrigen Teile des Körpers verdrängt.

Folgt man dem Kult der abgeschnittenen Köpfe, so haben anscheinend die Priester und Häuptlinge der Urzeit konkret die Trennung des Körpers erlebt. Ich weiß nicht, was der natürliche Tod ist, aber der uns bekannte Tod wurde in der Wiege der hierarchischen Macht zusammen mit der ökonomischen Kastration ins Leben gerufen.

Lange Zeit herrschte die Sitte, diejenigen Verurteilten zu enthaupten, die zur herrschenden Klasse gehörten, während die aus den unteren Klassen - jenen libidinösen untersten Schichten, die den "arbeitenden Körper" des Staates bilden - stammenden Verbrecher öffentlich in den Hals gewichst und erhängt wurden, bis sie sich durch einen umgekehrten Orgasmus der schändlichen Substanzen, die sie ausmachen - Sperma, Urin, Exkremente - entleeren. Mit diesen groben Sitten sind heute noch die Folterknechte im weißen Kittel, Psychiater, Erzieher oder Elektrodensetzer, vertraut. Die zunehmende Abstraktion, die über uns herrscht, greift heutzutage raffinierter nach unserem Kopf und saugt die menschliche Substanz aus uns aus. Die neurotische Rationalität mit ihren Krisen der "tierischen" und absurden Abreaktion drückt unserer Epoche des humanistischen Gulags das Kennzeichen einer äußersten Zerrissenheit des Körpers auf. Das psycho-zerebrale System hat sich nach dem Vorbild des Warensystems entwickelt. Es überträgt die abstrakte Organisation der Ökonomie in Machtmechanismen und bildet den Katalysator für die Tauschreaktion, in der das Leben zu Arbeit verwandelt wird. So wird der Kopf zu jenem Ort, in dem der Körper sich selbst entfremdet.

Je offener sich die Herrschsucht mit einer Arbeit identifiziert, desto mehr führt der Kopf das Wort des Staates bis zur äußersten Grenze der unkontrollierten Lebensrandbezirke.

Die Gesellschaft wird auf einen Markt reduziert, auf dem die Lust zur Arbeit wird, die Arbeit auf eine Intellektualisierung hinausläuft und der Muskelpanzer, durch die Verdrängung der sexuellen Impulse, den Kopf außerhalb dieses Kampfgewühls hält und ihm die Aufrechterhaltung der Ordnung anvertraut. Wie sollte die Normalität einer solchen Welt von einem Neurosenverzeichnis zu unterscheiden sein?

Zwischen dem kontrollierenden, regierenden und organisierenden Kopf und den die Befehle ausführenden und die aufstrebenden Begierden blockierenden übrigen Körperteilen entgeht der "Klassenkampf" nur selten der Falle des Tausches, er schlägt sich mitten in der fundamentalen Unbeweglichkeit einer Welt herum, die durch die Ökonomie beherrscht wird. Das ist das Gleichgewicht des Terrors, bei dem sich jeder Teil das Recht auf Aufstand und Unterdrückung anmaßt.

Es kommt vor, daß der Körper sich Luft macht und nach seiner Freizeit, seiner Freiheit, seinem Karneval und seinen Meutereien verlangt. Was macht das schon, wenn er weiter dazu fähig ist, sich zu verhärten, seine Begierden zu verdrängen und ihre Energie zum Nutzen der Arbeit auszusieben.

Auch der Kopf nimmt sich seine Freiheiten, schweift aus, verirrt sich, phantasiert und identifiziert sich mit der Eifrigkeit des Volkstümlers mit dem Körper. Was bestehen bleibt, ist die Trennung.

Ob sie das in uns schlummernde apokalyptische Tier bewacht oder es in einer Orgie der Ausschweifung und des Blutes befreit, die intellektuelle Funktion reproduziert nur die Entwicklung der Ware, die sich selbst zerstört, indem sie das Leben zerstört. Ein Leben, das sie wissenschaftlich mit der Krankheit identifiziert und von dem sie uns um jeden Preis heilen will.

Um über sie zu regieren, dulden die Neurotiker der Macht nur Neurotiker an der Macht. Je mehr wir die Arzneien, die uns die harten und die weichen Köpfe einmütig verordnen, wieder ausspucken, desto besser werden die Methoden, die uns dazu bringen, sie einzunehmen. Kaum droht die Gefahr einer Verallgemeinerung des Verlangens nach dem Genuß, schon verbreitet sich die psychosomatische Ideologie, die lehrt, daß "das Organische und das Psychische eine Einheit bilden, deren zwei Faktoren sich nicht trennen lassen", wodurch die Ursache dieser Trennung und die Mittel ihrer Bekämpfung leichter ignoriert werden können.

Ebenfalls verbreitet sich der Empfindungskult in dem Maße, in dem die Empfindung stufenweise auf eine Abstraktion und ein Geistesbild reduziert wird. Während das Leben hohl wird, bis es nur noch eine leere Form ist, blüht der Sensualismus auf seinem Grab, das der gewinnsüchtige kleine Mann besucht, um den Geruch von frisch gemähtem Heu und reifem Obst zu loben. Je mehr der Genuß eine Angelegenheit des Kopfes ist, desto mehr wird vom Schwanz gesprochen.


Die aus dem Kopf stammende Befreiung enthält ihre eigene Fäulnis. Ich nenne nicht denjenigen einen Intellektuellen, der mehr den Kopf als die Hände gebraucht, sondern den, der daran arbeitet, seine Lebensbegierden zu verdrängen. Die Intellektualität wird nicht am Grad des Wissens, der Gelehrtheit, der Wissenschaft, der Urteilskraft oder der Intelligenz gemessen. Sie grenzt den Denker, Künstler, Ideologen, Kritiker, Organisator, Bürokraten und Chef nicht vom gelernten oder ungelernten Arbeiter, Boxer, Analphabeten, Bauern, Schlachter, Rohling und Militär ab. Sie ist in jedem gegenwärtig, da sie die Verankerung der Ökonomie im Individuum zum Ausdruck bringt, sowie sie die Kultur im weitesten Sinne des Wortes der Gesellschaft aufzwingt.

Die intellektuelle Funktion gehört den Verdrängungs- und Abreaktionsmechanismen an. Unvermeidlich trägt sie das Merkmal der Falle, der Nicht-Aufhebung, der emotionalen Pest, der Veränderung in der Unbeweglichkeit. Sie nimmt den Genuß nur umgekehrt wahr, unter dem Blickwinkel der Ohnmacht zum Genuß, den sie nur als Täuschung zur Verschleierung des wirklichen Mangels an Leben ansieht.

Der Intellektuelle ist das durch die Gehirninflation der Ware und durch die Arbeit, die das vom Leben getrennte Denken produziert, proletarisierte Individuum. Er gelangt zum Verständnis der Menschen und der Dinge mittels eines durch Druck und Ventil funktionierenden Trichters und diese Art Verständnis gehört zur herrschenden Welt, zur sich selbst leugnenden und verstärkenden Ware. Er begreift alles nur aus Notwendigkeit, Zwang und einem äußeren Grund weil es wahr ist, weil man es muß, weil das die zwingende Wirkung ist, die aus jenem, von ihm gleichzeitig verehrten und verwünschten Himmel der Ideen hervorgegangen ist.

Auf die intellektuelle Funktion bauen heißt zwangsläufig, den Begierden zu widersprechen, den Willen zum Leben zugunsten des Willens zur Macht, dessen Verkehrung er ist, zu unterdrücken.

Da das Proletariat den schwersten Teil der Arbeit ertragen muß, ist es besser als die die Arbeit organisierende und aufzwingende herrschende Klasse gewappnet, um mit der Intellektualität Schluß zu machen. So erbt der proletarische Stand zwar das Privileg, die Chefs einstimmig abzulehnen, eine solche Ablehnung, wenn sie nicht aus dem Willen zum Leben jedes Einzelnen entspringt, reproduziert aber dann das herrschende Prinzip und ölt nur das Räderwerk der Bürokratie.


Die herrschende Sprache ist die auf die Sprache des Körpers angewandte ökonomische Reduzierung. Die Ökonomie hat ihre Sprache erzeugt, indem sie die Arbeit erzeugte, ohne die sie nicht existieren kann und gemäß der sich die Gesellschaft nach und nach gestaltete. Die Verwandlung des Lebens in eine Produktivkraft drückt sich zwangsläufig gemäß den abstrakten Formen aus, die uns unserer Menschlichkeit entleeren. Jeder offiziellen Kommunikation liegt die Verkehrung der Begierden zugrunde, sie verewigt unsere radikale Entfremdung. Es gibt jedoch eine Infra-Sprache, welche die Ökonomie so zu rekuperieren versucht, wie sie die immer noch unkontrollierten Lebenszonen erobern muß. Die Worte der Macht tanzen um die schwarzen Löcher der herrschenden Sprache einen verwirrten Tanz. Sie versuchen, noch aus dem Gewinn zu schlagen, was sie weder definieren, begreifen noch nennen können, indem sie es als Unmotiviertheit, das heißt als Absurdität, ungeschickten Entwurf, Rarität, legendäres Jenseits und Ungebührlichkeit dulden.

Die alte patriarchalische Macht hat den Abgrund, aus dem die gefährlichen Impulse des Sexuellen heraufkommen, zunächst mit dem weiblichen Mund identifiziert, für den der Genuß immer noch ein Singen und eine Hymne Pans ist, deren weit zurückliegende Erinnerung die Musik und die Poesie erhalten.

Die Kraft der sinnlichen, körperlichen Sprache wird im Laufe der Geschichte geringer. Ursprünglich ist die Frau die unheilvolle Büchse, in die die Macht sich bemüht, das Unfaßbare einzuschließen.

Wird sie nicht von den Märchen, der Literatur und den Religionen als diejenige bezeichnet, die zu viel spricht und nichts aussagt? Anstatt Worte zu wechseln, verschwendet sie sie. Die redselige, geschwätzige Frau, als indiskrete und untreue Vertraute, versinnbildlicht den dunklen, den Beweggründen des Intellekts trotzenden Teil der Menschlichkeit, der die Sprachersparnis, durch die die Ökonomie zum Ausdruck kommt, ablehnt. Die alten Rituale wußten die ungezähmten Worte aufs Beste durch das Heilige zu rekuperieren. So stößt die auf dem Orakelstuhl sitzende Pythia, mit offenem Geschlecht über dem rissigen, Schwefelqualm ausdunstenden Boden, Worte und Schreie aus, die die Priester ihren Kunden verdolmetschen. Auf gleiche Art tanzen die nackten Hexen bis zur orgastischen Verzückung unter dem Mond - dem Mund des Himmels - und geben Prophezeiungen von sich. Später werden dann die Männer mit großzügiger Herablassung den Frauen eine Eigenschaft zurechnen, auf deren Mangel sie bei sich selbst stolz sind, nämlich die Intuition, dieses geheimnisvolle Ohr, das die okkulten Schwingungen der Dinge auffängt, eine Art Kommunikation, die man selbstverständlich nach den Kriterien der ökonomischen Sprache für unterentwickelt hält.

Lange Zeit haben die Frauen zusammen mit den Künstlern, den Kindern und den Irren das Privileg genossen, schreien, singen, weinen und gestikulieren zu dürfen, irgendetwas zu reden und das auszuplaudern, was man nicht sagen darf. Seit sie dank der Industrialisierung das unschätzbare Recht errungen haben, in den Fabriken zu arbeiten, einen Lohn zu verdienen, ein Unternehmen zu leiten und eine Fliegerstaffel zu führen, während die Künstler zu Funktionären der kulturellen Werbung wurden, bleiben nur noch die Kinder und die angeblichen Geisteskranken übrig, um verschwommen die Spiralen dieser der Macht entkommenen Sprache auszudrücken.

Die Intellektualität vollendet das Aussieben der Sprache durch die Ökonomie. Vom alltäglichen Gespräch bis zu den tief in der emotionalen Pest steckenden, steifen Gesten werden wiederum Ausdruck und Kommunikation zu einer Arbeit, einer zwingenden Lebensweise, einer Abstraktion des Erlebten. Der kritische und negierende Aspekt der intellektuellen Funktion hat die Lüge der herrschenden Sprache so gut entlarvt, daß er sich schließlich als Wahrheit hat durchsetzen können. Aber ist nicht die durch die Intellektualität errungene Wahrheit das spontane Geständnis der Warenselbstzerstörung?

Was ist eine intellektuelle Wahrheit wert, die sich darauf versteht, ihre Grundlüge, ihre Beschaffenheit als Arbeit, als Trennung und Kastration zu verheimlichen? Sie ist nichts anderes als der Blutfleck der verkehrten Welt und der Todesbegierden.

Die Sprache, die durch ihre Stille und ihre falschen Angaben "schwieg", wird modern, indem sie zur Sprache des Geständnisses wird. Zwar wird das Unbewußte ans Tageslicht gebracht, aber es geschieht zugunsten einer neuen Unterdrückung - die interpretierten und kommentierten Gesten bilden den Stoff für neue Anklagereden. Jeder wird lesbar, damit er besser beurteilt werden kann. Man soll sich nicht länger in den Menschen täuschen! Man soll alles sagen! Warum auch nicht! Die Zeit der Aufrichtigkeit und der Transparenz läßt einen sogar die alte gespaltene Zunge, die Heuchelei des Puritaners und des revolutionären Bürokraten bedauern. Dort war die Trennung offensichtlich, während die intellektuelle Wahrheit die Einheit des Lebens in ihrer perfekten Abstraktion wiederherstellt. Die Diktatur der Worte für jedes Erlebnis ist schlimmer als die Diktatur des Schweigens, da das Leben mit der Sprache, die ihm aufgezwungen wird, nichts gemein hat.

Ob sie die herrschende Welt billigt oder nicht, die auf die Intellektualität reduzierte Sprache ist niemals etwas anderes als eine Arbeit und ihre Verweigerung eine Arbeit der Verweigerung. Wie radikal sie auch sein mag, sie läßt sich nicht von der bei uns Wurzel schlagenden und uns zerstörenden Ware trennen. Diese Sprache entlarvt sie, schlimmstenfalls indem sie ihre Unterdrückungsfunktion verschleiert und bestenfalls indem sie das umreißt, wofür es keine Worte gibt - den Gqnuß, der in sich das Ende der Intellektualität trägt.

Die hier benutzte Sprache verheimlicht nicht ihren grundsätzlichen Verruf. Sie weiß, daß die Kritik, die sie gegen sich selbst richtet, dem Warenprozeß nicht entgeht. Daher will sie sich nicht aus eigenem Antrieb zerstören. Sie hält notwendigerweise an der Schwelle des Lebens, von dem sie ihre zukünftige Zerstörung erhofft, an. Sie verspricht sich die eigene Vernichtung von dem sinnlichen Überschwang eines jeden und von der individuellen Verwirklichung der Begierden. Es bleibt uns sonst gar keine andere Chance, mit den Worten und den Zeichen, die über den Körper und die Gesellschaft regieren, Schluß zu machen.

Wenn die Einheit des Fühlens einmal die Oberhand über das getrennte Denken gewinnt, wird nichts mehr benannt, was den Namen nicht zerstört.


Die Intellektualität spricht die Sprache der Kastration. Es genügt, den meisten Unterhaltungen zuzuhören, um nichts weiter als erteilte oder suggerierte Befehle, Polizeiberichte, Anklagereden von Staatsanwälten oder Lobreden von Verteidigern wahrzunehmen. In diesem verbalen Herumfuchteln des Prestiges und des Interesses das letzte Wort zu haben, verheimlicht nicht einmal mehr, daß man das allerletzte Leben hat.

Die aus der Verdrängung der Begierden stammende Grausamkeit wird durch Gespött, Polemik, Sticheleien und Knüppelhiebe abreagiert, die keine anderen Gründe haben als diejenigen der das Menschliche erschöpfenden Ökonomie. Die Sprache ist von einer solchen Fatalität durchdrungen, daß sie in erster Linie jede grundsätzliche Infragestellung des Warensystems lähmt.

Je länger Ihr der Sprache des Willens zur Macht zubilligt, den Lebensimpuls in einem Muskelpanzer einzuschließen, desto mehr richtet Ihr Euch selbst im Zufluß der negativen Emotionen zugrunde, müßt Ihr jenen menschenverächtlichen Verschleiß des Tausches erleiden, der von jeder Begegnung ausgeht. Ob Ihr über einen Film, einen Freund, ein Abenteuer, einen Feind oder irgendetwas Belangloses sprecht, es sind nur anerkennende oder herabsetzende, aus dem eigenen Verzicht stammende Feststellungen, selbstgefällige oder gekränkte Kompensationen, die so gut es geht das durchbohrte Faß Eurer Frustrationen zupfropfen. Wozu denn die faulen Politiker der Tugend, die Journalisten der Lüge und die radikalen Stars des revolutionären Spektakels geißeln? Mit derselben Sprache gegen sie bewaffnet, schließt Ihr Euch ihnen in Wirklichkeit an. Eine gemeinsame Kastration der Lebensbegierden vereint Euch in guten und in schlechten Zeiten.

Wenn ich für die anderen spreche, während die anderen für mich sprechen, wie sollte das Leben nicht zugunsten der Sprache, die mich zu einem anderen macht, verlorengehen? Wie sollte ich nicht den Faden der Begierden aus der Hand gleiten lassen, um nach dem unentwirrbaren Knoten ihrer Verkehrung zu greifen?

Die erzieherischen Reden, die dem Kind schon an der Wiege gehalten werden, leiern die Lehre der Finsternis und des Schreckens herunter. Die Geschichten des Todes, der Krankheit, des Unglücks, der Katastrophe und des alltäglichen Elends geben den Ton an, mit dem die Aufrufe zur Revolte und die Aufforderung zur Resignation, das Schuldgefühl und seine Exorzismen moduliert werden. Über das ganze Leben herrscht der Terrorismus der Familiensprache. Diese emotionale Pest, dieses pathetische Gurren, diese eisige Ironie, die in den Reden, den Tischgesprächen, den Streitereien, den Trennungen und den Versöhnungen ihr Unwesen treiben - diese Kopfsprache, in der das Sexuelle mit einer ungeheuren Verkehrung eingesetzt wird, hat unter den vielfältigen Klängen, Gesten und Ausdrücken einen einzigen Sinn - die ursprüngliche Kastration.

Nun muß aber doch heute jene Sprache, die jeden von sich selbst abstrahiert, ihn am Hals aufhängt, vergleicht, mißt und nach dem Belieben der herrschenden Syntax austauscht, durch das eigene Elend getroffen werden und das enthüllen, was ihr Diesseits und ihr Jenseits ist - den Willen zum Leben, dem keine anerkannte Sprache eigen ist. Wir wollen jene intellektuelle Funktion, die uns durch den Kopf lenkt, in die Enge treiben, ihr das Alibi der Selbstkritik nehmen und sie vor den Toren des Unsagbaren niederknien lassen, damit ihr nichts anderes übrigbleibt als auszurufen: "Wer lebt da?" Aus diesem letzten Schrei entsteht dann ihre Vernichtung.

Wer wirklich wünscht, in einer Welt, die ihn liebt, sich selbst zu lieben, verliert allmählich seine intellektuelle Existenz, er ist nichts mehr in der Kategorie der Sprache, da er, indem er genießt, zu arbeiten aufhört. Ein eifersüchtiger, autoritärer, geiziger Mensch mag sich bemühen, vernünftig zu sein, und sich all das Gehässige in seinem Verhalten vorhalten - er wird es nicht ändern, im Gegenteil, er wird daran festhalten, aber mit den masochistischen Qualen des schlechten Gewissens und der sadistischen List der Lüge. Entdeckt er durch die Selbstanalyse hinter jener Mischung aus Angst und Wollust, die er empfindet, die in ihr verkehrten Lebenslüste, so ist er an die Grenze der Umkehrung der Perspektive gelangt. Hier hört die Selbstzerstörung der intellektuellen Funktion auf, hier endet das "Buch der Lüste". Hier steht es jedem einzelnen zu, sich entweder mit der eigenen Scharfsichtigkeit zufrieden zu geben und daran zu sterben oder der Anregung seiner Begierden die Energie, die gewöhnlich zu deren Unterdrückung gebraucht wird, zuzuteilen. Es steht jedem zu, sich durch die intellektuelle Funktion vernichten zu lassen oder sie in dem völlig freien Laut, den er den Begierden läßt, aufzulösen. Es ist die letzte Anwendung der Intellektualität, auf das hinzuweisen, was sie nicht erfassen kann - auf das Leben, das die Intellektualität immer mehr einengt und das sie zerstören wird.


3.DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

Die intellektuelle Funktion ist die den Lebensbegierden entnommene und gegen sie gerichtete Intelligenz. Gegenüber Euren Reden und Gestikulationen sitzt das Lebendige und lacht über so viele Anstrengungen. Während die Stimme hochtrabend redet und die Muskeln ihre Effekte unterstreichen, rächen sich die unterdrückten Begierden wie Zuhörer, die sich plötzlich bewußt werden, von einem Volksredner angeführt zu sein. Das errötende Gesicht parodiert die Erektion, die Finger, die den Ring hin und her drehen, sagen, eine kurze Liebesumarmung ist mehr wert als eine lange Rede, die Füße kreuzen sich und gehen auseinander, als ob sie die Anregung der Finger billigen würden, während der Bauch bei den großmäuligen Äußerungen des Willens zur Macht ironisch gurgelt. Hört bei Eurem Gesprächspartner auch das ferne Echo, das gegen ihn spricht!

Die Welt des Sich-Darstellens ist ein Theater der Neurose. Die Ticks des Prestiges, das schockierte Auffahren, die verachtende Unterlippe, das militärische Auge, die harten Gesichtszüge, der gesetzte Ton sind so viele Türen, die vor den Lebensbegierden zugeknallt werden, so viele Schlingen, die sich um den Genuß schnüren, so viele zukünftige Abreaktionen durch Bücklinge, Demütigungen, Trägheit, Schlappheit und Selbstzerstörungswut. Würde ein einziger Augenblick des echten Glücks nicht ausreichen, um diesen erbärmlichen Nebel zu vertreiben?

Wir haben die Verzweiflung so weit getrieben, daß vor uns nur noch das Leben liegt. Spürt Ihr nicht, wie die Lüste immer fläufiger die Diktatur des Geldes und des Kopfes abschütteln? Seit langem zwinkert uns die Sexualität in den Wortspielen, den Einfällen des Blickes, dem Nach- und Gleichklang zu. Abzählreime, Landschaften, unbeschreibliche Zeichen und Botschaften reihen die Perlen einer verdrängten Erotik auf. Es gibt nichts, das sich nicht paart und einander liebkost, doch durch den Schirm der Verdrängung dringt nur die schlüpfrige Anspielung des Puritaners, die elende Geilheit der frustrierten Liebe.

Ursprünglich ist die Intelligenz - ich finde Gefallen daran, es zu glauben - zugleich Hand und Werkzeug der Begierden, die Scharfsinnigkeit ihrer dunkel angestrebten Befriedigung gewesen. Die Wege der sinnlichen Hellsichtigkeit sind dermaßen durch die Handelsstraßen der Arbeit und des Profits durchkreuzt worden, daß sie wie weggewischt sind. Mußte sich nicht die instinktive Elementarpraxis der ersten Zeit gleichzeitig mit dem durch ihre Kreativität erzeugten Werkzeug entwickeln, da die Verwandlung der Menschen in Herren und Sklaven Gleichschritt hielt mit der ökonomischen Rekuperation der Werkzeuge, die im Spiel der Begierden erfunden wurden?

So kann man bei der Familie sehen, wie sie die sinnliche Intelligenz des Kindes kastriert, um sie auf die Arbeit, die Erziehung und die Produktion anzuwenden. "Überlege!", sagt der Spiegel des Willens zur Macht zum Kind. "Sei vernünftig!", lehrt die ökonomische Vernunft. "Wo hast Du nur Deinen Kopf?", beunruhigt sich der Intellekt, indem er die Kontrolle über den Körper einnimmt. Wenn sie der globalen Sexualität entrissen wird, tritt die gleich bei der Erregung der ersten Begierden wachsende sinnliche Scharfsinnigkeit den Dienst des generalisierten Tausches an; sie wird zu jener Intellektualität, welche die Lebensimpulse unterdrückt, lenkt und verkehrt.

In jenem meßbaren, prüfbaren und nach seiner Leistungsfähigkeit beurteilten Produkt, das Ihr Intelligenz nennt, sehe ich nur die Verdrängung der Leidenschaften und die Erziehung zur Produktivität. Die wirkliche, aus der Selbstbefriedigung der Begierden hervorgehende Intelligenz macht sich nichts aus ihr. Wenn es weiter stimmt, daß jeder die Dummheit seiner Verdrängung hat - denn es gibt keine andere Dummheit - dann ist die Intellektualität erst recht die Dummheit der fühlenden, sinnlichen, empfindungsfähigen Intelligenz.


Der Vorrang des Genusses leitet das Ende des getrennten Denkens ein. Die intellektuelle Funktion arbeitet, die Intelligenz der Begierden erschafft. Ich will keine andere Scharfsinnigkeit als diejenige, die aus der Suche nach den Lüsten entsteht, sich vom Dorn zur Rose verfeinert und den Gartenbau der sexuellen Üppigkeit mit der Einordnung der unzähligen Befriedigungen betreibt. Was liegt mir an Euren Büchern, Euren gelehrten Abhandlungen, Euren Künsten und Geistesverzierungen? Was liegt mir an der Erkenntnis, der Neugier, der Wissenschaft und dem Bewußtsein, wenn sie nicht dazu beitragen, meinen Genuß zu vervollkommnen, meine Leidenschaften zu befreien und meinen Willen zum Leben zu nähren? Jedesmal, wenn Gruppen sich nicht aufgrund der Verwirklichung und der Harmonie der individuellen Begierden, sondern aufgrund einer gemeinsamen Denkweise gebildet haben, mußte die Warengesellschaft nicht einmal den kleinen Finger rühren, um das zu rekuperieren, was in ihnen ausgearbeitet wurde. Die Gedanken, wie leicht sie auch in allen Köpfen sein mögen, haben niemals die Umlaufbahn der Macht verlassen. Alle tragen die eigene Fäulnis in sich, solange sie nicht wissen, daß allein der Genuß sie zerstören kann, indem er sie aufhebt.

Die intellektuelle Funktion stirbt nunmehr an Hypertrophie. Bei der äußersten Abstraktion, die sich der Lüste bemächtigt hat, wird der Umkehrungspunkt in dem Augenblick erreicht, in dem ich danach strebe, keine andere Sprache zu haben als diejenige, die meinen Genuß teilt - wie bei jenen Weinsorten, die man beriecht und kommentiert, bevor man sie kostet.

Ich will die Reihenfolge der Prioritäten umkehren und die Arbeit des Denkens dem unterwerfen, was sie so lange als nichtsnutzige Lappalien beschimpft hat. Ein Traum, eine flüchtige Erinnerung, ein Eindruck, ein vergängliches Glück, eine betörende Liebkosung - das will ich zusammen mit der ganzen in ihnen enthaltenen Scharfsichtigkeit erfassen. Dort stehe ich mitten in meiner individuellen Geschichte und dort bereite ich bewußt die heute historisch mögliche Beseitigung des Staates und seines allgegenwärtigen getrennten Denkens vor.

Es gibt eine Alchimie, deren geheimnisvoller Eingeweihter jeder Mensch zu sein spürt, und die durch die Vorschriften der Wissenschaft verschleiert worden ist. Sie sucht nach einer Ausstrahlung, die sich nicht auf die tödlichen Strahlungen der Ware reduzieren läßt: die Ausstrahlung des Lebens.

Wie kann man sich von der Vernunft überzeugen lassen, wenn die Lust da ist? Die Antenne der Begierden fängt nur das auf, was sie auffangen will. Ich bin allzu leidenschaftlich mit dem allumfassenden Genuß beschäftigt, als daß mich noch die Worte aufhalten könnten, die Worte, die versuchen, mich festzunageln, mich zu definieren, zu beurteilen und gemäß der wechselnden Beleuchtung der herrschenden Macht und ihrer Ersatzmächte größer oder kleiner zu machen.

Wer seinen Weg auf der Suche nach all den Vergnügen, die keinen Preis haben, geht, der lernt schnell, die Fallen zu vermeiden - er entzieht sich mühelos jedem "Du sollst!" und "Du darfst nicht!", das einen alltäglich mit tausend giftigen Wunden verletzt. Ein solches Spiel wird nicht durch den Voluntarismus der Verweigerung geführt, sondern durch die feingliedrige Empfindungsfähigkeit des "Ich will", "Ich mag", "Es gefällt mir", "Ich mag nicht", "Ich habe große Lust dazu", die Musik der Verschwendung des Ichs, den Impuls des Willens zum Leben, den Wirbelwind der Begierden, der das "Wort für Wort", das Maß, das Urteil, den Vergleich, die Abschätzung und den Tausch wegfegt.

Den wenigen Gesellschaften, in denen noch ein primitiver Zustand der Ware besteht, hat die sinnliche Intelligenz einen langlebigeren Stempel aufgedrückt. Dort geschieht es, daß Hände heilen, daß ein Blick fasziniert, ein geflüstertes Wort über Flüsse reicht, eine Begierde Gesetze, die als unabänderlich gelten, zerrüttet und Zeichen Tiere und Pflanzen verzaubert. Wer spricht hier von übernatürlichen Kräften? Es handelt sich einfach um eine Art und Weise, der Natur näherzukommen, eine Art und Weise jedoch, die die Natur "verführt", ohne sie auf den Zustand eines Arbeitsgegenstandes zu reduzieren, wie der Erwerbssinn es tut.

Der zivilisierte Körper, der durch eine ständige Reizung im Todeskampf liegt, ähnelt einer Fabrik aus Muskeln, Nerven, Anstrengungen, Sport, Leistung, Keimfreiheit, Ästhetik, Scham, Folter, Neurose und sadistisch-ärztlichem Experiment. Doch hört seine doppelte Sprache nicht auf die widersprüchlichen Mitteilungen des Lebens und des Todes auszusenden. Unter der Last der Angst, der Furcht, der Unterdrückung zieht sich der Brustkasten zusammen, dessen Vogel, das Herz, an die Stäbe stößt, an ihnen zerbricht, zurückfällt und aufhört zu zittern. Im Gegensatz dazu kann das Herz im Atem des Glücks und im Schwung der Leidenschaft munter im ganzen Körper herumspringen und der Klang seines Rhythmus ist überall zu hören. Das eingeschlossene Herz wird abgehorcht, es gehört dem Arzt. Das Herz voller Leidenschaft füllt den erlebten Raum und hallt wider wie eine Orgel bei einer Phantasie. So geht es mit jedem Organ.

Wir wissen, daß die Hand, die einen Schmerz lindert, etwas erschafft, liebkost, spielt, zum Genuß anregt, bald den Sieg über die Hand, die auf die von ihr gehandhabte Ware reduziert wird, davonträgt. Wir wissen, daß die Intelligenz bald aufhört, sich mit der intellektuellen Funktion zu identifizieren. Arbeitet das Gehirn nicht gerade deswegen nur mit einem Drittel seiner Fähigkeiten, weil es arbeitet, weil es vom Körper abgeschnitten und in den Kopf einbezogen wurde? Laßt es sich nur in die aufsteigenden Begierden einfügen und sich mit dem sexuellen Impuls verbinden und Ihr werdet den Eindruck nicht mehr los werden, daß wir dabei sind, die höhere Intelligenz unserer Tiernatur zu schaffen.


4.DAS ENDE DES STAATES UND DAS ENDE DER INTELLEKTUALITÄT SIND UNTRENNBAR

Die sinnliche Intelligenz wird die klassenlose Gesellschaft schaffen. Wie könnten wir je die Führer beseitigen, wenn wir nicht die intellektuelle Funktion loswerden und den ständigen Vertreter der Arbeit, der sich in dem Kopf eines jeden regt, verjagen? Jede Verweigerung, die nicht aus dem Willen zum Leben entsteht, ist nichts weiter als eine neue Verweigerung des Lebens. Wir haben allzusehr Menschen und Dinge gegen den Strich gesehen, nämlich in der Richtung, aus der sie uns gewöhnlich erreichen, um uns Stöße zu versetzen und Wunden zu schlagen. Allein das Lebendige ruft meine Leidenschaft hervor, nicht die Abstraktion, die es tötet.

Die Umkehrung der Perspektive läßt mich mit einem Mal erkennen, wie liebenswert ein Kieselstein, ein Gesicht, die Luft, eine Landschaft, ein Buch, eine Sonate und eine Pistou-Soße meinen Begierden entgegenpulsieren. Warum hartnäckig eine Welt, die die Anziehungskraft des möglichen Genusses von dem Schandflecken der Ware befreien kann, als eine Ansammlung von feindlichen, gleichgültigen und fleischlosen Formen betrachten?

Gegen die Rentabilität der Menschen und der Dinge, gegen die falsche kontemplative Kostenlosigkeit als ihre Ergänzung vereinigt sich langsam der von der Perspektive der Macht ignorierte Teil des Lebens im Herzen der Steine, der Pflanzen und der Menschen. Seine unerwartete Flut wird die Ökonomie und ihre Staaten hinwegfegen und jene Gesellschaft auftauchen lassen, in der der technische Reichtum dem Reichtum der individuellen Begierden dient. Das ist der kollektive Kampf gegen die Ware und ihre Krüppel, die seinen Anfang nicht sehen wollen.

Die neue Empfindungsfähigkeit kündigt eine radikal neue Welt an. Die sinnliche Intelligenz leitet das endgültige Ende der Arbeit und ihrer Trennungen ein. Die wirkliche Spontaneität ist diejenige der Begierden, die auf der Suche nach der Befreiung sind. Sie löst den tausendjährigen Alptraum der Ökonomie, die Warenzivilisation mit ihren Banken, ihren Gefängnissen, ihren Kasernen, ihren Fabriken und ihrer tödlichen Langeweile auf. Nicht mehr lange und wir bauen unsere Häuser, unsere geheizten Straßen, unsere labyrinthischen Wege in einer mit der menschlichen Hand versöhnten Natur auf. Bald haben wir fötale Gegenden, Abenteuerzonen, bewegliche und inspirierende Wohnungen und andere Zeiten, in denen das Alter keinen Sinn und das Wirkliche keine Grenzen hat. Wir werden Mikroklimata erfinden, die nach unseren Launen wechseln, und die Zeit vergessen, in der die wissenschaftliche Bürokratie uns Utopisten schimpfte, während sie meteorologische Zerstörungswaffen ausarbeitete. Denn die Spontaneität ist unschuldig genug, um jene furchtbar gegenwärtige Vergangenheit auszulöschen, in der nichts, was tötet, unmöglich ist und alles, was zum Leben reizt, des Wahnsinns beschuldigt wird.


IV.DER GENUSS IMPLIZIERT DAS ENDE DES SCHULDGEFÜHLS UND JEDER GESELLSCHAFT DER UNTERDRUCKUNG


1.DAS LEBEN IST DIE UNSÜHNBARE SCHULD, DEREN STRAFE DURCH DIE WARENGESELLSCHAFT VEREWIGT WIRD

Das, was durch den Zwang geschieht, ist notwendigerweise schuldbewußt. Wie könnte das, was getauscht wird, frei von Vorwürfen sein? Wie könnte eine Gesellschaft, der die Verdinglichung des Lebendigen zugrundeliegt, die einfache Tatsache, menschlich zu sein, nicht als eine Schuld betrachten? Das Schuldgefühl gehört zur ökonomischen Organisation des Lebens, so wie eine untilgbare Staatsschuld zur Zahlungsbilanz gehört.

Vom alten Glauben an die göttliche Strafe ist uns die suggestive Maschinerie übriggeblieben. Ist die Kopfarbeit bei der langsamen Erosion eines mythischen Jenseits, dessen Nützlichkeit die Ware nicht mehr spürte, vorwärtsgeschritten, so hat sie als letzte Requisiten des ideologischen Theaters die Leinwand und den Projektor, die von den Priestern zur Unterwerfung der Massen gebraucht wurden, behalten. Die Intellektualität trägt die eigene Täuschung und das Schuldgefühl einer unverbesserlichen Betrügerin in sich.

Die Geburt ist die Sünde, die nur durch den Tod gesühnt werden kann. Von heute an enthüllt das stufenweise Entblößen des ökonomischen Imperialismus diese Erbsünde, die im Mittelpunkt aller Religionen steht, mit der ganzen Nacktheit eines rohen Fleisches. Sie ist das Leben, das die Macht nicht verschlingen, der Genuß, der durch keine Gegenleistung bezahlt werden kann. Sie summiert die Energie, die die Menschen als Arbeitskraft verbuchen und bis zum Ende des ökonomischen Zeitalters zurückzahlen müssen, solange bis das Verschwinden der Menschen diesem Einziehungsverfahren ein Ende setzt.

Während die Warenselbstzerstörung sich zum Fortschritt gegen ihre barbarische Vergangenheit aufwirft, werden harte Strafmaßnahmen wie Folterungen und Todesstrafe zu Schmuggelwaren, während das demokratische Gesetz, das sie im Namen der Menschenrechte verurteilt, gleichzeitig einen Vorteil aus ihnen zieht, indem es sie ratenweise verkauft. Das alte kollektive Schuldgefühl der religiösen Mythen und der großen Ideologien ist so sehr im Rhythmus der gesellschaftlichen Zersplitterung zerbröckelt worden, daß es heute die Individuen vertraulich mit dem personalisierten Gefühl ihrer Schuld zusammen sitzen läßt.

Das selbsterzeugte Schuldgefühl ist die geheime Überredungskraft einer Welt, in der alles bezahlt wird und in der man sich dem verpflichtet fühlt, was einen quält und tötet. Es wohnt in uns, so wie die intellektuelle Funktion, die ständige Tauschpflicht und der verinnerlichte Makel der Ökonomie, und hat die schlimmsten Auswirkungen. Durch ihre wiederholten Lehren lernen wir, tagtäglich mit den aus Macht- und Profitsucht verdrängten Begierden das Grab des Bedauerns zu graben. Es ignorieren, teilweise zerstören oder beschwören zu wollen, führt nur dazu, daß es sich tiefer einfrißt.


Die Erziehung gründet sich auf die Angst vor dem Genuß. Was gibt es Besseres, als die Notwendigkeit zu produzieren, rentabel und zu etwas nützlich zu sein, um den Selbstgenuß in Bann zu halten? Es gibt keinen Zwang, und wäre er auch noch so unbedeutend, der nicht die kleinmütige Angst vor dem Leben und einer kostenlosen Existenz hervorruft. Schon fängt die Lehrzeit des Kindes an.

Hat nicht die Pädagogik der Lüge, der Prüfung, der Schikane und der Schläge unser Wissen gekittet und unsere Intelligenz geschärft? Gibt es außerhalb der sinnlichen Erfahrung, in der jeder sich allein ausbildet, Kenntnisse, die Eurer Meinung nach nicht durch Drohreden, Mahnungen und die Erpressungsversuche mit dem Verdienst, dem Interesse, der Zukunft und dem Prestige eingeschärft wurden? Wie viele auswendig gelernte Gedichte, heruntergeleierte Regeln, wie viele Chronologien und Theoreme, lange mit tückischen Anregungen zum Gehorsam, zum Befehlen, zur Achtung und Verachtung durchsetzt! Wie viele Gelehrtheit und Witz, die man demjenigen mit der Liebe bezahlte, der gut züchtigte! Das, was mir durch Drohungen beigebracht wurde, wird mir immer feind sein.

Die unterdrückte Begierde wird vom Schrecken durchstrahlt und verleiht dem heitersten Leben, dem wonnigen Impuls und der Leidenschaft, die aus dem Bauch wie aus den Tiefen der Erde, des Meeres und der Wälder hervorbricht, ein vor Entsetzen starres Gesicht. Die hassenswerte Arbeit behext die Begierden, die sie in die Nacht und ihre Träume verdrängt. Das Liebenswerte wird zum Hassenswerten. Die Lebenssünde läßt überall ihre jämmerlichen Verdrängungen einsickern, sie gibt die Phantasie den Ungeheuern des uneingestandenen Neids preis, die phallischen Schlangen vergiften ihr Gebüsch mit inhaltsleeren Träumen und aus den undeutlichen mütterlichen Randgebieten entstehen die Gespenster, die Vampire, die leichen-fressenden vaginalen Wesen und kastrierenden Drachen, die die Hölle des Sexus bewachen, seit die Lüge der verkehrten Welt ihm die Farben des Todes verliehen hat.

Das Entsetzen ist der gewöhnliche Traum der Ökonomie. Es verhüllt die Sexualität und bringt sie nur mit der Verzierung nächtlicher Verdammung geschmückt ans Tageslicht. So mischt sich die Verlockung des Lebendigen mit der Angst, plötzlich zu spüren, wie es seinen Blick auf den Tod richtet. So gelingt es dem Neid, der Eifersucht, dem Groll und dem Rachegefühl leicht, sich die Qualität der Lust anzueignen.

Zählt das Erlernen der verkehrten Genüsse zu den größten Wohltaten der Familie und der Schule! Es sorgt besser für die Unterwürfigkeit der Völker als Legionen von behelmten Mördern. Unter der militärischen Uniform bleibt manchmal ein winziger Funken des Lebendigen weiterbestehen, der dazu fähig ist, dem Roboter Einhalt zu gebieten; der Angstschauder aber ist noch schlimmer als der Tod, er ist der Sog des sich entleerenden Lebens. Überall dort, wo die Macht hervortritt, das Prestige umhergeht und die Autorität sich behauptet, verbreitet sich der muffige Geruch der angstvollen Lüste und des schuldigen Glücks. Ihr kennt jenen dumpfen Beigeschmack der verkrampften und erschlafften Eingeweide, jene Schweißausbrüche des Hasses, der Verachtung, der Prüfung, der Krankheit, des Chefbüros, des Polizeireviers, der Kirche und des Gefängnisses. Es ist der Geruch der Agonie, der Geruch des Überlebens.

Eine Gesellschaft, der die Ausnutzung des Lebens zugrundeliegt, findet ihre Hilfsmittel in der immanenten Angst. Heutzutage ist die Angst dabei, sich demokratisch zu verteilen bis zu jenem Zustand der "spontanen" Bürokratisierung, mit dem sie jeden wie ein Pulsschlag des Lebens ins Herz treffen wird.


Das Leid ist das Produkt der Schuld. Der hebräische Mythos, nach dem Eva und Adam die Menschheit dazu verurteilt haben sollen, mit Schmerzen zu gebären und sich im Schweiße ihres Angesichts abzurackern, weil sie ihren Genuß im Spiel mit dem Apfel und der Schlange auskosteten, hat Generationen von Freidenkern belustigt, bevor er zu einer Wirklichkeit zusammengeschrumpft ist, die keinen mehr zum Lachen bringt, zu einer ökonomischen Tyrannei, die jeden Morgen die Lebenden aus ihrem Bett zieht, um sie am Fließband zu kastrieren. Keine legendäre Scharpie kann unseren Augen die dem Leben geschlagenen Wunden verheimlichen - alles, was wir berühren, ist mit seinem Blut befleckt.

Es gibt kein Leid, das nicht aus dieser ursprünglichen Aggression folgt, die zynisch als eine Wirkung unserer Schuld dargestellt wird. Die Erziehung bezweckt nichts anderes, als die Erinnerung an diese Schuld im Kind aufzufrischen, damit schon bald, durch die von nun an ständige Erziehung, die alte Fügung in die Fatalität des Todes dem guten Gewissen des verdienten Selbstmordes weicht - zum größten Vorteil des bürokratischen Staates.

Sollte aber eine radikal neue Gesellschaft, die die Ökonomie zerstört und die Begierden in Einklang bringt, in Erscheinung treten, so würde meiner Überzeugung nach sich auch das einzig wirkliche Leid, das Leid der Selbstzerstörung und des angenommenen Todes, aufheben. Anstatt sich selbst die Angst mit ihrem Grauen, die Qualen der Verlassenheit, den gebrochenen Arm, Nierenkoliken, Asthma und Krebs aufzuerlegen, hätte jeder nichts anderes mehr zu empfinden als jene launenhafte Abwesenheit der Lust, jene unvermutete Traurigkeit, jene Fehltritte der Müdigkeit, die dem geschlängelten Gang der Begierden ihre Umwege hinzufügen und jene Unannehmlichkeiten schließlich, die allein der herrschende Zwang boshaft mißvergnügt mit der selbstmörderischen Freude, dem Glück in Ketten und den Trauerfeiern, bei denen der Tod als endgültiger Ausgleich die Rechnung für die Verkehrung des Lebens begleicht, verwechselt. Der schwachsinnige Glauben, der in dem Leid und der Prüfung einen ewigen Makel sieht, ist nichts anderes als der Glaube an die Ewigkeit der Warenzirkulation. Er läßt Euch darin verharren zu überleben, Euch die Einsparungen aufzuladen, die das System dem Leben aufzwingt, und eine kläglich aufgeblähte Existenz zu ertragen, in der die alltäglichen Rollen der Ehre, der Würde, der Tugend, des Opfers, des Verdienstes und deren Gegensätze in zunehmendem Elend ausgetauscht werden. Sein Inhibitionsreflex pflegt seit so langer Zeit die Begierden zu entkräften, daß es kein einziges Glück gibt, das nicht die Angst vor dem Unglück in sich trägt, keinen Erfolg, der sich nicht Sorgen über den Rückschlag macht, keine Freude, die nicht ihrem Kummer nachläuft, als ob der Regen immer wieder die Versicherung für das schöne Wetter sein müßte!


Das Schuldgefühl rührt von der grundsätzlichen Nicht-Achtung des Tausches her: Niemals verzichtest Du genug auf Dich. Deswegen bist Du immer und überall schuldig. Schuldig daran, nicht zu arbeiten, zu arbeiten, reich zu sein, arm zu sein, genießen zu können, nicht genießen zu können, nicht genießen zu lassen, Erfolg zu haben, keinen Erfolg zu haben, zu leben und zu sterben. Die Umstände, das Alter, die Mode, das Wofür, das "Für wen", all das, was Dich vom Willen zum Leben wegreißt, um Dich in die Perspektive der Macht einzuordnen, wirft Dich von einer Ecke in die andere, und von der Verurteilung zum Freispruch.

Man hat den Grad an libidinöser Unterdrückung einer Epoche an den Verwüstungen der Pest messen können, an dem Fortschritt des Krebses und an der Hysterie des kollektiven Selbstmordes, der seine Arme begeistert für Krieg, Massenmorde, Kreuzzüge, nationalistische, faschistische und stalinistische Ideologien öffnete. Jetzt aber, da die Zersetzung der großen Systeme des Todes die Völker daran hindert, sich noch einmal als Sühneopfer einer mit ihrem Willen zum Tod identifizierten Macht anzubieten, hat sich der Drang zum Selbstmord zum privaten Gebrauch in der Arbeit und der Langeweile individualisiert. Der immer enger zugezogene Würgegriff der Ökonomie hinterläßt den Nachgeschmack des Todes, diesen Geschmack der Freuden des Überlebens, des erzwungenen Genusses, des vorgeschriebenen Festes und des Pauschalglücks, wie sie unter dem Gütezeichen "Amüsiert Euch bis zum Umfallen!" von Haus zu Haus verkauft werden.

Das schuldige Gewissen plagt das individuelle Elend wie ein Schamgefühl, das vom bitteren Vergnügen der Selbstzerstörung nie genug bekommen kann. Jedes einzelne Schicksal trägt die Strafe in sich, nicht zahlungsfähig genug zu sein, sich nicht genug auszutauschen, auf die Kostenlosigkeit der Begierden nicht zu verzichten. Der Tod setzt der permanenten Angst, seine Schulden nicht bezahlen zu können und für seine Mühen nicht bezahlt zu werden, ein Ende - den eisigen Orgasmus des endlich auf das reine Verfaulen der Ware reduzierten Körpers. Tod und Schuldgefühl sind der Blickwinkel des obligatorischen Tausches, der versteinernde Blick, den die Ökonomie auf das Leben wirft, das ihr niemals gehören wird.

Wen wundert es, daß die Entwicklung der Medizin mit derjenigen der Bourgeoisie zusammenfällt! Wie einst die Priester das kollektive Schuldgefühl linderten und erhielten, lindert und erhält sie den Strafwert der Krankheit. Lediglich das Ritual der Opferhandlung hat sich geändert.

Die Folterer verdienen deswegen den Ruf zusammen mit den Ärzten die besten Kenner des menschlichen Körpers zu sein, weil beide trotz der scheinbar verschiedenen Ziele den Körper verachten, da sie die mit ihm in Zusammenhang stehenden Lüste verachten. Ihr Kult verherrlicht den Lebensmechanismus als ökonomische Maschinerie. Der leistungsfähige Körper ist das auserwählte Opfer eines Profitgottes, dessen Lehre man nicht ohne Schmerz dienen kann.

Während nun die zur Arbeit verdrehten Lüste die Verkümmerung des Lebendigen zum Vorteil des Gedachten vollenden, kündigt sich das Ende der Ärzte so sicher wie das der Pfaffen an, da es am Fortschritt der Ökonomie, an der Verwirklichung der Ware Anteil nimmt. Wozu denn Vermittler, wenn jeder seine Rollen und Neurosen allein pflegt und im Namen des Wissens und des Selbstbewußtseins lernt, "autonom" Arzt, Folterer und Volkswirt des eigenen Körpers zu sein?

Der Todeskampf fängt mit der schrittweisen Reduzierung des Menschlichen auf den Warenprozeß, mit der fortschreitenden Blutarmut des Willens zum Leben an. Nie zuvor sind die Geier des Schuldgefühls so niedrig geflogen, nie zuvor hat die Trauersymphonie - erinnert Euch nur an die homosexuellen Verdrängungen des gregorianischen Gesangs und an die Liebesimpotenz der romantischen Musik - so krankhaft das Begehren, ein für allemal Schluß zu machen, moduliert.

Doch schon erklingt ein anderer Gesang, der die Arie der Schuld mit ihren erpresserischen Meistersängern in Vergessenheit geraten läßt. Die Unschuld ist wie das Leben - beide lernt man nur in den Armen der Lust.


2.DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN DIE PROLETARISIERUNG DURCH DAS SCHULDGEFÜHL KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE ÜBERMACHT DER NEUEN UNSCHULD

Man bekämpft das Schuldgefühl nicht, indem man schuldbewußt macht. Das, was sich nicht auf die Realisierung des Lebens stützt, stützt sich auf die Realisierung der Schuld. Der Tausch zieht gleichermaßen die Pflicht zu urteilen und das Recht, beurteilt zu werden, nach sich. Ihr klagt die Klassenjustiz so an, als ob nicht jede Justiz eine Klassengesellschaft nach sich zöge. Bedeutet die Berufung auf die Gerechtigkeit denn etwas anderes, als eine bessere Verteilung der Verdrängungen und der Abreaktionen zu fordern, sich dem Entschluß der Kopfarbeit zu unterwerfen und der Weisheit einer herrschenden Funktion preiszugeben?

Eure Justiz ist nur ein Gleichgewicht der Schuldgefühle, sie kennt nur Schuldige und Nicht-Schuldige, die gemäß der Zeit ausgetauscht werden. Was interessiert es mich, eine Verurteilung gegen einen Freispruch auszutauschen, auf diese oder jene Seite der Waage zu drücken, während das Richterschwert dem Waagebalken der Macht gehorcht? Man muß bezahlen - so lautet das allgemeine Prinzip, das den Tausch leitet. Was liegt mir daran, ob ich nun mehr oder weniger bezahlen muß? Ich lehne jene raffinierten Abschätzungen des gegenseitigen Unrechts, des Positiven und des Negativen, des Verdienstes und des Verschuldens ab, die letzten Endes nichts anderes als das menschliche Absterben mitten im Absterben der Ware zum Ausdruck bringen.

Richter und Gerichtete, wie weit seid Ihr? Auf das Verbot zu stehlen, Liebe zu machen, sich zu befreien und zu genießen, folgte der umgekehrte Zwang. War gestern noch jemand schuldig, weil er sich gegen ein Verbot vergangen hatte, so ist er heute schuldig, weil er sich nicht energisch und kohärent genug dagegen vergeht. Wir werden von einem Schwarm Volksbürokraten überfallen, die behaupten, sie würden den Tauschwert ablehnen, während sie sich ihre Feind- und Liebschaften, ihre Großzügigkeit und Kleinlichkeit, ihren Scharfsinn und ihre Dummheit in bar oder auf Kredit bezahlen lassen.

Der radikale Diskurs hat es allerdings nötig, das erlebte Elend auszugleichen. Wieviel Ohnmacht zum Genuß steckt hinter den revolutionären Proklamationen, dem Unterstellen irgendwelcher schlechter Absichten, den erbärmlichen Drohungen und den tugendhaften Belehrungen und wieviel Eifer wird gebraucht, um diese Ohnmacht den anderen vorzuwerfen, damit man selbst von ihr freigesprochen wird!

Hausmeistertratsch, üble Tischgespräche, Gejammer empörter Theoretiker, Gesabbere der Philosophen des Spektakels: jedes verdorbene Mehl ist der Mühle des Schuldgefühls willkommen. Jeder wetteifert darum, die Schmach noch schmachvoller zu machen, damit man sich mit der allgemeinen Schwärze reinwaschen kann. Eine Menge Staatsanwälte ohne Amt warten bloß auf Gelegenheitsschuldige, um sich einen vollständig künstlichen Schuldigen daraus zu machen. Auf den Straßen, in den Zügen und den Cafés wimmelt es von Richtern auf der Suche nach Angeklagten und von Angeklagten auf der Suche nach Richtern. Für diese Leute, die schon als Kinder in einem fäkalen Schuldgefühl eingepökelt wurden, besteht die hohe Kunst darin, sich an der Oberfläche zu halten und alle diejenigen, die in Reichweite vorbeigehen, noch tiefer hinunterzudrücken. Das versteht die Warenzivilisation unter Menschlichkeit.

Ein guter Henker ist niemals fern - zur Not tut es auch ein guter Freund. Das ist die Lehre der Justiz des Tauschhandels. Der da, der an Deiner Seite nach dem Ende des Staates ruft, wird Dich morgen beschuldigen, nicht laut genug gerufen zu haben, während jener, der mit den Sorgen des Überlebens kämpft, Dir eines Tages vorwerfen wird, auch überlebt zu haben. So sind nun einmal die Regeln der Ordnung! Da drüben sehe ich einen, der Schuldgefühle hat!

Das Schuldgefühl loswerden? Sicherlich gibt es eine Verweigerung des Schuldgefühls, die zu dem zynisch guten Gewissen der Macht, der Sicherheit des Willens zur Macht gehört. Es ist die Willkür des Tyrannen, das Recht des "Stärkeren", das Gesetz zu verletzen, es ist der Anspruch des Richters zu urteilen, ohne beurteilt zu werden. Es ist ja das Vorrecht der reinen Ware, bezahlt zu werden, ohne dafür bezahlen zu müssen, Tauschwert ohne Gebrauchswert zu sein.

Die von Natur aus Nichtschuldigen ekeln mich genauso an wie die Nichtschuldigen aus Resignation. Die Wahrheiten, die immer recht haben, drücken nur die Gründe der Ökonomie aus.

Das Geheimnis der Autorität, welcher Art sie auch sein mag, besteht in der unbeugsamen Strenge, mit der sie den Leuten klarmacht, sie seien schuldig. Schuldig, einen Text, ein Wort, einen Witz, eine Andeutung, ein Zwinkern des klugen Kopfes nicht verstanden zu haben. Darauf scheiße ich!

Ich weiß, wovon ich spreche ich habe mich in diesem schwachsinnigen Spiel manchmal verfangen und ich kenne die Verlockungen der wohldosierten Verachtung. Es ist nicht schwer, denjenigen den Ohrfeigen entgegenlaufen zu lassen, dem es ein Bedürfnis ist, vor sich selbst zu fliehen und sich mit anderen zu messen. Sollte ich noch einmal in die Falle geraten, Euch genau am Punkt Eurer Mängel, Eurer Fehler und Verzichte zu überfallen, so würde ich noch einmal sehen, wie sie hinter jenem Getrampel der Haltlosigkeit zuschnappt, das Euch von der unwissenden Knechtschaft zum anmaßenden Wissen führt, von der Unterwürfigkeit des Schülers zum Hochmut des Eingeweihten, von der Selbstverachtung zur Verachtung der anderen, von der Lernergebenheit zum Groll darauf gelernt zu haben, da es nichts gibt, das Euch mürrischer machen kann, als zu erraten, wie weit Ihr den Genuß haßt.

Wer Terror ausgeübt hat, muß sich an ihm festhalten oder sich aber aus Schwäche der Gefahr aussetzen, daß diejenigen ihn angreifen, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken ertragen haben, als er sie hochmütig behandelte. Wie lächerlich, sowohl das eine als auch das andere! Wieviel Traurigkeit beim kleinen Mann des Willens zur Macht: Was er am wenigsten bei den anderen erträgt, ist er selbst. In ihm spricht der Leichnam lauter als der Lebende, die verhärteten Muskeln seines Größenwahns sind starr wie die von Verstorbenen. Mit der ganzen Kraft des Nicht-Authentischen beschäftigt er sich jetzt schon damit, bei seinem Tod nicht schlecht abzuschneiden, Pose für die Geschichte einzunehmen und er fürchtet sich so sehr vor den Mülleimern, die er selbst als Hölle für sich erfunden hat, daß er sich seine Zeit damit vertreibt, andere dazu zu verurteilen.

Mir ist ein solches Verhalten in der Vergangenheit nicht immer fremd gewesen. Ich weiß jetzt, daß ich meine Proletarisierung vervollständigt habe, während ich sie durch Denunzierung bei mir und den anderen heftig ablehnte. Mittlerweile langweilen mich Schuldgefühl und Schuldigsprechung in demselben Maße wie all das, was bezahlt und getauscht werden muß. Tadel und Lob treffen nur diejenigen, die nicht durch sich selbst leben und Achtung oder Verachtung von anderen zum Leben brauchen.

Mir sind alle Anklagen und Freisprüche wie überhaupt irgendwelche Prozesse scheißegal. Was liegt mir an einem, der gar noch gegen mich den gerechten Richter zu spielen vermag? Ich lehne im voraus jede Macht ab, jede Autorität, die Ihr mir gutschreibt, um mich später darüber zur Rede zu stellen.

Es gibt keine Unschuld? Macht nichts - erfinden wir sie halt. Ihr werdet sie im Vorübergehen in der natürlichen Gewalt der Kostenlosigkeit erkennen.


3.DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

Schlimmer als der schlimmste Irrtum ist der mit ihm verbundene Vorwurf. Die Elektroden der Ware sind in allen Köpfen, aber genügt das Wissen darum, um sie ausschalten zu können? Ich habe nur wenig Vertrauen zu den neuen, durch die Verweigerung eingeführten Elektroden. Um mit den Angstreflexen Schluß zu machen, sehe ich nur den Genuß ohne Gegenleistung und die Entfaltung des Willens zum Leben.

Die Zeit ist vorbei, als ich mein Schuldgefühl auf andere übertrug. Damals führte ich Buch über meinen Haß und die zukünftigen Revanchen, wobei ich nichts zur Seite schob, sondern jede Einzelheit im Gedächtnis aufbewahrte, um mich angemessen für das entlohnen zu können, für was ich an diesem oder jenem Tag teuer bezahlt hatte. Geduldig hatte ich die Rache im Kühlschrank meiner Frustrationen zurechtgelegt, wie es der alte Brauch so will.

Dann verstand ich, daß niemand mit heiler Haut aus einem so elenden Projekt herauskommt und keiner lebendig den Tausch übersteht. Man bekommt die Reflexe eines Notars, die Besessenheit eines Rächers und die Moral eines Bullen, man trampelt so lange durch das Häßliche, bis man sogar daraus noch eine Art Genuß schöpfen kann. So hat es die Macht gewollt.

Diese Ordnung will ich nicht mehr. Ich mag eine Katze streicheln, ohne an den Hieb der Krallen zu denken. Ich habe mit der Talionslehre, der Entschädigung für den Lebensmangel und dem ökonomistischen Verhalten Schluß gemacht. Ich mache mir nichts aus diesen angeblich menschlichen Beziehungen, denen Beleidigung und Vergebung, diese Hundsföttereien, zugrundeliegen. Zum Teufel auch mit jenen Anwälten, die in ihren Verteidigungsreden um die Wette behaupten, jeder sei fehlbar und habe ein Recht darauf seine Irrtümer zu vertreten. Mir genügt eine zu lebende Gegenwart, damit ich in ihr die Vergangenheit unerwartet verbessern kann.

Wenn ich mich heute kaum mehr darum kümmere abzumessen, zu vergleichen und zu urteilen, dann geschieht das nicht aus der Angst, beurteilt, abgemessen und verglichen zu werden, wie der Intellekt mit seiner unauslöschbaren Spur von Schuldgefühl es so gerne suggerieren möchte. Mir geht es nur darum, eine Gesellschaft abzuschaffen, in der die Individuen von vornherein des Willens zum Leben schuldig sind, zum sündigen Genuß verurteilt werden und nur durch die Arbeit, die sie reinwäscht und tötet, freigesprochen werden können.

Die Neigung zu den Lüsten hütet mich davor, mich auf die Berechnungen des Anstandes einzulassen und in der Verachtung und deren Ehrerbietungen zu waten. Ein bißchen Leben reicht aus, um aus meinem Alltag das Tribunal des gegenseitigen Verdienstes und Unrechts auszuradieren. Meine Lust braucht weder Rechtfertigung, Selbstkritik noch Vorwürfe, ich bedanke mich.

Die neue Unschuld ist die Selbstverteidigung des Willens zum Leben. Wir haben keine andere Gewalt als die Gewalt des Tausches gekannt: diejenige der Intellektualität, der Schuld, der Trennung, der Verdrängung und der Abreaktion. Immer ist in dem trübseligen Reigen, in dem sich das Leben von der Aggressivität zur Frustration erschöpft, die Angst die Triebkraft gewesen.

Welcher unsinnige Beweggrund außer der Angst, auf frischer Tat erwischt und von Euren Gesetzen, Strafen und Gefängnissen geschnappt zu werden, zwingt uns dazu, für die von allen für alle erzeugten Güter zu bezahlen? Mit der Furcht vor dem Gendarmen fängt die Unterwürfigkeit an.

Die falsche Kostenlosigkeit der gestohlenen Ware richtet sich nach der laufenden Rechnung von Angst und Abreaktion. Die besondere Art Lust, die man dabei empfindet, ist nur der Seufzer der Frustration und die besänftigende Rache, die das herrschende System ein bißchen weniger unerträglich macht. Dabei gewinnt der Staat fast so viel wie bei jenen modernen Olympiaden, in denen der Terrorist ihn ehrlich mit den Worten herausfordert: "Ich werde dafür sorgen, daß Du für Deine Existenz teuer büßt, denn auch ich bin bereit, mit meiner Haut zu bezahlen!" Indem sie jedoch eine neue Haut bekommt, macht es gerade ein solches Kauf- und Tauschgeschäft der Ware seit langem möglich, weiter zu überleben.

Wird nun in einem letzten Anfall von Lächerlichkeit das Schuldgefühl mit der Tatsache verbunden, sich schuldig zu fühlen und aus Prinzip keinen Gedanken an Schuld zu verbannen, so stellt sich letztendlich die einzige Angst, die uns je heimgesucht hat, als die grundsätzliche Angst vor dem Genuß heraus. Das Glück wird durch die Ökonomie so nachhaltig zum Rad des wandelbaren Schicksals verurteilt, daß es in jedem Fall gerädert wird, ob man es sich nun aneignet oder es sich enteignen läßt. Bei jedem Wurf des Tausches verliert man sich selbst. Das, was nicht auf der Grundlage der Befreiung des Genusses und der kurz- oder langfristigen Verwirklichung aller Begierden steht, fällt zurück in den Schrecken, der an der Lust wie das unauslöschbare Zeichen des für sie zu bezahlenden Preises klebt.

Man findet sich nicht mehr mit der Angst ab als mit dem Tod. Kein Leben kann neben einer solchen Niederträchtigkeit bestehen. Deshalb hüte ich mich davor, Euch wiederum jene Angst aufzuerlegen, die Ihr mir gelegentlich aufzwingt. Aber täuscht Euch nur nicht! Ich träume nicht von einer sanften Revolution. Meine Leidenschaft zielt auf die Gewalt der Aufhebung, auf die Gewalt eines Lebens, das auf nichts verzichtet, und nicht auf die Gewalt, die sich nach allzu langer Stauung ergießt, in sich selbst zurückzieht und sich mit der Wut eines an der Kette festgemachten Hundes in den eigenen Schwanz beißt.

Wenn ich mich heute davon überzeuge, daß ich weder aus Groll noch Rache zur Waffe greife, dann geschieht das aus der ruhigen Gewißheit, daß meine Hand noch sicherer ist, wenn die Begierden sie auffordern zuzuschlagen. Das Feuer der Begierden brennt heller als die Fackeln der Wut und der Verzweiflung.

Man kann die Gewalt der Kostenlosigkeit nicht einsparen. Wenn mich einer auf die Linke schlägt, werde ich ihm eins in die Fresse schlagen, bevor ich ihm die Rechte hinhalte. Ist nicht jeder, der mich zwingt, bedroht und schuldbewußt macht, mein Feind? Ich will meine Eigenarten ausleben, ohne das Maß des Allgemeinen leben, ohne mich vor dem zu fürchten, was hinter der nächsten Ecke auf mich wartet. Wenn ich den töte, der mich unterdrückt, dann geschieht das aus Versehen, in einem Freudensprung und ohne mich umzudrehen.

Gegenüber dem, der sich um alle Genüsse geprellt fühlt und bei der Lust der anderen aufjault, liegt mehr wilde Pracht in dem, der durch keinen Genuß gesättigt werden kann. Im letzteren lebt die Energie der Aufhebung, während die Wut des ersten die Ohnmacht einer Welt verewigt, in der sich nichts ändert. Im Gegensatz zum Selbstmordkandidaten, der in der Abreaktion dem huldigt, was ihn tötet, wollen wir die alte Welt zerstören, ohne irgendetwas als Gegenleistung zu liefern. Keine Schranke wird der heiteren Gewalt der nicht zu unterdrückenden Kostenlosigkeit widerstehen können. An die Stelle der Gesetze, die uns Gewalt antun, tritt nach und nach eine praktische Unschuld, bei der jede Gesetzmäßigkeit plötzlich für null und nichtig erklärt wird. Die Zeiten sind nah, wo keiner auch nur ein einziges Gesetz kennt.

Wir sind bis ans Ende der Verzweiflung gegangen, weil wir an den Lebensgrenzen alle Mittel einer Gesellschaft ausgeschöpft haben, die uns heute erschöpft. Alles fängt jenseits dieser Grenzen an. Wir wissen, daß kein Imperativ ein Schuldgefühl beseitigen kann, ohne wiederum schuldbewußt zu machen. In der Umkehrung der Perspektive bezieht sich die Befreiung der Genüsse auf nichts, sie läßt sich weder messen, beurteilen, vergleichen noch einfangen. Während sie nur noch dem eigenen Bedürfnis nach Ausdehnung gehorcht, vergeht langsam der Schrecken, und auf die Angst folgt das Lachen. Die Bürokraten und Polizisten werden eher dem schallenden Gelächter als den explodierenden Bomben zum Opfer fallen.

Ich glaube nicht mehr an einen Rückschlag, an die dem Glück innewohnende Drohung und an die Notwendigkeit, der Liebe und dem Aufstand Anzahlungen für den Mißerfolg zu leisten. Ich versuche, nach meinen Begierden zu leben, ohne zu herrschen und ohne beherrscht zu werden. Das, was man intensiv will, findet immer statt. Warum eine scheinbar unerfüllbare Begierde verdrängen, auf sie verzichten und sie durch Kompensation unterdrücken? Am Ende zerbricht das Geschenk den Tausch - das ist die neue Unschuld.

Wie sollte man nicht die alte Welt auf der Kehrseite ihrer Verkehrtheit selbst aufspießen, wenn man aus dem vollen greift und wegwirft? Mit jedem Tag werden die Berechnungen der Unterdrückung falscher, da die Kraft der individuellen Begierden kein Gesicht hat; sie können zuschlagen, wo und wann sie wollen, gegenüber dem Schlagabtausch haben sie den absoluten Vorzug des Unvorhersehbaren.

Ich behaupte, daß jene Warengesellschaft, die all die Varianten des Terrorismus und all die intellektuellen Revolutionen in Kauf genommen hat, den Kriegern der maßlosen Lust nicht widerstehen wird, diesen Schöpfern der neuen Unschuld, denen, die nicht einmal wissen wollen, ob es einen Tod gibt, gegen den sie ja doch nicht durch die Gewalt des Lebens geschützt sind.


4.DIE NEUE UNSCHULD SORGT FÜR DEN ÜBERGANG VON DER INDIVIDUELLEN ZUR KOLLEKTIVEN BEFREIUNG

Das Flammenfeuer des Genusses wird die intellektuellen Revolutionen und ihre Schuldgefühle niederbrennen. Die Varianten des Jakobinismus, des Leninismus und des Nationalsozialismus haben bloß den terroristischen Prozeß der Warenselbstzerstörung zum Ausdruck gebracht. Derselbe Prozeß hat die Zersplitterung der kollektiven Ideologien bis zu einem individualisierten Terrorismus überlebt, der immer weniger nach Beweggründen und Rechtfertigungen sucht, je evidenter es wird, daß die Ware alles rechtfertigt.

Diejenigen, die paradox "Staatsmänner" genannt werden, während sie bloß das unmenschliche Räderwerk des Staates sind, scheinen dazu bestimmt, einem Mörder zum Opfer zu fallen, der ihre eigene Logik besitzt. Wie sympathisch ihre Mörder im Gegensatz zu ihnen selbst auch erscheinen mögen, sie sind niemals etwas anderes als die Kehrseite der verstaatlichten Köpfe. Sicherlich hat die Macht weniger Feinde unter denen, die ihre Ohnmacht durch den Kampf gegen eben diese Macht erhalten, als bei irgendeinem, der beschlossen hat, rückhaltlos zu genießen. Unter all den Fahnen ist der Terrorismus ein Moment im Absterben des Staates mitten im allgemeinen Absterben des Menschlichen.

So wie die intellektuellen Führer einer Revolution sich immer mit militärischen Begriffen ausgedrückt haben, also gemäß der Kunst, die Menschen zu einer ihnen entgehenden Wirksamkeit zu führen, so behält auch der individuelle Terrorismus eine Kasernenmentalität. Nicht zufällig fällt deshalb das Scheitern der Stadtguerilla mit der von vielen empfundenen Müdigkeit zusammen, jeden Tag den schuldigmachenden Panzer, der sie ständig gegen sich selbst mobilisiert, anzuziehen.

Das Leben hat alle Rechte, angefangen mit dem, das zu zerstören, wodurch es bedroht wird. Wer liebt, bestraft nicht, sondern vernichtet jede Gesellschaft der Bestrafung. Warum eine Welt dulden, in der die Dialektik der Ware verlangt, daß die Lust zum Leid, die Liebkosung zur Vergewaltigung und die Freiheit zum Zwang wird? Und wie kann man behaupten, ihr mit Leid, Vergewaltigung und Zwang ein Ende setzen zu wollen?

Es verbreitet sich ein unschuldiger Wind, der jedem einschmeichelnd ins Ohr raunt, aus Faulheit Schluß mit der Arbeit zu machen, den Chef aus Spaß aus dem Fenster zu werfen und den Warenbestand aus Liebe zur Kostenlosigkeit zu verteilen. Mehr ist kaum nötig, damit die unterdrückende Senilität einen Schnupfen bekommt, die nicht den Richter, den Polizisten, den Militär und den Totschläger, sondern das überschwengliche Leben der Begierden obszön nennt.

Sobald der Reiz, den Millionen in ihrem Innersten für eine Gesellschaft empfinden, in der es keine Strafen gibt, vor denen man sich zu fürchten hätte, keine Reden, zu denen man stehen, keine Vergnügen, für die man bezahlen muß, keine Macht, Frustration, Unterwerfung oder Kastration, durch das kollektive Gefühl der Straffreiheit zum Ausdruck gebracht worden ist, wird es keine Gerichte, keine Gefängnismauern, keine Volksgefängnisse, keine revolutionären Staatsanwälte, kein Radikalitätsmuster und keine Beispiele, nach denen man sich zu richten hat, mehr geben.

Nur die neue Unschuld kann all die Formen des Terrors und Terrorismus abschaffen.



V.DIE GENERALISIERTE SELBSTVERWALTUNG IMPLIZIERT DIE EREIE WIEDERGEBURT DES IN JEDEM EINZELNEN VERDRÄNGTEN KINDES


1.DIE AGONIE DER ALTEN WELT VERWEIST AUF DIE KINDHEIT DER BEGIERDEN

Die Ökonomie bemächtigt sich der Individuen, indem sie sich zweimal ihrer Kindheit bemächtigt - erst einmal in jungen Jahren und später in den Verdrängungen des Erwachsenen. Wenn gegen Ende des Paläolithikums die gesellschaftliche Entwicklung der Lebensbegierden und die Entfaltung einer Sexualität, die günstige geschichtliche Verhältnisse für ihr Projekt schaffte, langsam gebremst worden ist, so kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß dasselbe schon bei der Geburt in jedem von uns geschieht. Über die genetischen Änderungen hinaus haben die Elementarbedürfnisse der Ernährung und Bewegung bis zum heutigen Tag nicht aufgehört, die Suche des Kindes nach einem globalen Genuß auszudrücken, eine zugleich sichere und tastende Wanderung zur Vorherrschaft jeglicher Befriedigung. Hier vor allem läßt die Hand der Familie das Fallbeil der Ökonomie niederfallen, schaltet und waltet sie erbarmungslos, damit das Kind vom Absterben der Begierden zum vorzeitigen Altern, das man Mannesalter nennt, fortgerissen wird.

Genau wie die Individualität ist die Kindheit eine zufällige Entdeckung der Bourgeoisie. Das der kapitalistischen Produktionsweise innewohnende Abbröckeln des gesellschaftlichen Gemeinwesens hat die Menschen gleichzeitig ihrer konkreten Wirklichkeit näher gebracht - sie wurden der alten Abstraktion eines universellen Menschen, von der sie immer noch beherrscht werden, gegenübergestellt. Wie sollten Generationen, die Reihe von durch den Werdegang der Ware gebrochenen, die massenweise zu einer Reihe von durch den Werdegang der Ware gebrochenen Bildern gemacht wurden, am Ende der Strecke schließlich nicht etwas Einsicht in die Entfremdung und die verkehrte Welt gewinnen? Wer von uns fühlt sich nicht versucht, seine unreduzierbare Eigenheit zu beanspruchen und mit dem zu leben zu beginnen, was er ist, nachdem er nacheinander für ein Geschöpf der Götter, einen Menschen, einen bürgerlichen oder proletarischen Staatsbürger und ein Individuum gehalten wurde?

Die letzte Entwicklungsstufe der kollektiv erduldeten Geschichte belebt in jedem menschlichen Wesen erneut den Kampf der ersten Lebensjahre gegen die ökonomische Unterdrückung. "Wer bist Du?", fragen diejenigen, die die Antworten besitzen, die Kategorien herstellen und die Klassifikationen beherrschen. Eine einzige Antwort entgeht jeder Frage: "Ich bin das, was ich leben will und ich will gemäß meinen Begierden in der Gesamtheit alles Lebenden leben."

Die zunehmende Ausbeutung der menschlichen Substanz durch die Ökonomie entdeckt endlich den Genuß hinter den aufeinanderfolgenden Lügen der Warenwahrheit. Der Ariadnefaden der Begierden liegt immer noch in der Kindheit.

Das Interesse, das schon im 18. Jahrhundert in der Bourgeoisie für das Kind als Erziehungsgegenstand erwachte, enthielt schon damals das Interesse materieller Art, das sie ihm als Markt- und Handelsobjekt entgegenbringt. Die heute erreichte zynische Ausbeutung des Neugeborenen wirft ein Licht sowohl auf die Arbeit der Ware als auch auf die von der Familie auf unsere Jugend ausgeübte Funktion.

Alles geht so vor sich, als ob das plötzlich im Innersten des Erwachsenen entdeckte Kind ausreichen würde, den Zustand einer Zivilisation, die unter dem Namen "Mensch" nur vorzeitig gealterte Embryonen kennt, zu entlarven. Die Abwesenheit des wahren Lebens führt mich zum Mittelpunkt eines Labyrinths zurück zu dem, was in mir noch an Lebendigem übriggeblieben ist, wenn einmal die ganze Bitterkeit der Arbeit, der Pflicht, der Kompensation, der Schuld und des Willens zur Macht erschöpft ist. Ein Kind, gerettet aus den ungestümen Gewässern der Vergangenheit, begleitet mich. Seine Wiedergeburt ist die Wiedergeburt meines Willens zum Leben.


2.DIE PROLETARISIERUNG DER BEGIERDEN IST DAS WAHRE ALTERN. DIE VERKEHRTE WELT ERREICHT DEN PUNKT IHRER MÖGLICHEN UMKEHRUNG, WENN SIE KEINEN ANDEREN AUSWEG HAT ALS DEN TOD ODER DIE WIEDERGEBURT DES KINDES IN JEDEM EINZELNEN

Die ökonomische Notwendigkeit gibt dem verdrängten Lebendigen die Züge der Kindheit zurück. Wie sich mit einer Welt abfinden, in der man sich die Mühe macht, geboren zu werden, anstatt daraus eine Freude zu machen? Je mehr sich nämlich die Vorstellung einer notwendigerweise schmerzhaften Niederkunft auflöst, desto weiter verbreitet sich im Gegensatz zur Legende, daß die Frau dort bestraft wird, wo sie gesündigt hat, die Überzeugung, daß Gebären dem Vergnügen, sich zu entleeren und in einem sinnlichen Höhepunkt zu entladen, entsprechen könnte. Warum sollte der Genuß aus dem Hervorquellen eines wirklich erwünschten Kindes, voll mit zu befriedigenden Begierden, ausgeschlossen sein?

Nur weil das Kind selten erwünscht ist und man es seine Begierden Stück für Stück wieder herunterschlucken läßt. Weil der Eintritt in das Leben durch die Tür des Profits und der Macht geschieht. Weil die Familie es auf den Reflex der Rentabilität konditioniert, angefangen bei der Mutter, die es trägt.

Sanktionieren die Warenzivilisationen nicht deshalb ohne Ausnahme die Unreinheit der Geburt, weil das aus Frau und Neugeborenem bestehende grundsätzlich inzestiöse Paar das teuflische Biest des kostenlosen Genusses in den Stall des universellen Tauschwertes einführt? Findet diese Sanktionierung nicht kraft des ökonomischen Gesetzes statt, das verbissen jenes im Vergnügen der Geburt geborene Vergnügen verdammt, es schon an der Basis umkehrt, um es gleichsam im Fundament zu treffen?

Die individuelle Geschichte eines jeden beginnt mit der Frau, die ihn zur Welt bringt. Die Warenzivilisation ersetzt die Frau, in der die Erinnerung an das Kind hervorbricht, das sie einmal war - und das sie im Augenblick der Lust immer wieder ist - durch die Mutter, die als echte Staatsbeamtin beauftragt wird, ihr Bruttofleischprodukt in die Gesellschaft zu integrieren.

Die Mutter tötet Frau und Kind. Sie tötet die Kind-Frau, die in ihr lebt. Sie ist die Decke der Ware, die die Macht an sich zieht und unter der sich durch die Jahrhunderte ein heuchlerischer Kindermord fortpflanzt. So verwandelt sich über den Umweg einer höchst sozialen Rolle der Akt des Gebärens in Arbeit. Ist die Geburt erst einmal auf eine Produktionstätigkeit reduziert, wen wundert es da noch, den ursprünglichen Genuß sofort verdrängt, in Schmerz verwandelt und in einen Buch verkehrt zu sehen?


Von Geburt an stehen sich Arbeit und Lust gegenüber. Von dem Augenblick an, in dem die Mutterideologie über die Schwangere gestülpt wird, zieht sich die jahrtausendealte Halsschelle der Religionen und Kulturen enger zusammen. Die alten Begriffe von Schuld, Versuchung, verbotenen Gelüsten und Verkommenheit sickern bis in die Muskeln des Bauchs, der Schenkel, des Uterus, die sich zusammenziehen, sich verhärten, den Panzer festschnallen, um zu verhindern, daß Genuß und Kind zusammen hervorquellen.

Alles im Körper arbeitet daran, der Kostenlosigkeit, die die Geburt eines Kindes in der Welt der Ökonomie zu verbreiten droht, den Weg zu versperren. Gleichzeitig offenbart jedoch die äußerste Materialität und die äußerste Abstraktion der Ware, daß es neben der Gebärproduktion, die die Geburt in ein mit dem Werden der Ökonomie identisch gewordenes Werden verkehrt, bei der Frau auch eine Lust gibt, die sich ankündigt, bei dem noch ungeborenen Kind nachwirkt und ihre gemeinsame Verwandlung so feiert, als ob durch die Geburt des einen dieses Wesen aus Begierden, das bei der anderen niemals ganz aufgegangen ist, wiedergeboren würde.

Die Zügellosigkeit der Frau wird durch die Mutterrolle gesühnt. Die Frau muß ihre natürliche Kompromittierung durch die Sünde bezahlen und das Chaos, das ihr Schattenmund in die rationale und hygienische Welt des Tausches gespuckt hat, sühnen. Da sie der Rentabilität der Arbeit mehr als der Mann entgeht, da sie den Göttern der Ökonomie nicht so dienerisch gehorcht, symbolisiert die Frau in den Augen des Warensystems das zügellose sexuelle Leben, die Ausschweifung, die Untreue und die List. Die soziale Verdrängung setzt alles daran, die sinnliche Überfülle der Frau in einen Todesnebel zu hüllen, sie schildert die Reize ihres Geschlechts in den Farben schrecklicher Höhlen und unergründlicher Abgründe, aus denen unzählige Reptilien, die nur Helden und Heilige enthaupten können, hervorwuchern. Die Mythen und Legenden der Jahrhunderte, notwendigerweise von der Ökonomie ausgestrahlt, wimmeln von unheilverkündenden Darstellungen der Frau. Ob Eva, Lilith, Pandora, Melusine, Schlange der Unterwelt, Medusa, Hexe oder Tentakel des Satans, all diesen Verkehrungen des Lebens verleiht die Verdrängung der partiellen Befreiungen im reinen Hohn des heutigen Spektakels einen Wert.

Wie das Lebendige sich durch die Ware, die es produziert, sein eigenes Grab gräbt, so stellt die Mutter sowohl ihre eigenen Lüste als auch die beim Kind sich andeutenden unter das Zeichen des Todes. Das, was nicht dem Licht des Tages gehört, d.h. der ökonomischen Vernunft und der Arbeitszeit, verdrängt ihr ökonomistisches Verhalten in die Nacht des Sexus, in die Tiefe des Ichs, wo die Ungeheuer der Verdrängung die Trennung von Kind, Mann und Frau vollenden - drei Realitäten, die in Wirklichkeit nur drei Aspekte des zur Einheit des Genusses gelangenden Individuums sind.

Sobald das Kind auftaucht und mit seinen entstehenden Begierden den Familienkreis sprengt, macht sich jeder über die beste Methode der Zähmung Gedanken. Früher nahmen es die Priester in Besitz, tauften es und wuschen es so von seiner Unreinheit rein. Der Brauch der Reinwaschung setzt sich in der Familienerziehung fort, die darauf achtet, daß das Kind von seiner Neigung zu den kostenlosen Genüssen geläutert wird. Es wird die Nahrung zu festen Zeitpunkten verabreicht bekommen, damit die Ökonomie der Zeit ihm in Fleisch und Blut übergeht. Weg mit dem Gestikulieren, in dem die Befriedigung ihre Sorglosigkeit ausdrückt: das Kind soll jetzt die Gesten lernen, die sich lohnen, Bewegungen, mit denen man sich die Dinge aneignet und mit denen man Gewinn erzielt. Schreien und Lallen sollen zugunsten der funktionellen Sprache von Angebot und Nachfrage verschwinden! Du willst trinken? winsele, greine, brülle - Du wirst nichts aus Zuvorkommenheit bekommen, aus Angst, Dich zu "verwöhnen", und damit Du nicht auf den Gedanken kommst, es wäre möglich, ohne Tausch zu genießen.

Das Kind, dem die Psychoanalyse erst vor kurzem den Genuß einer Sexualität zugestand, wie seinerzeit die Kirche der Frau eine Seele, mit der sie nichts anzufangen wußte, ist weiterhin nichts durch sich selbst. Für den, der nur in der Ordnung der Familie existiert, gibt es zwar keine Besonderheiten, dafür aber eine große Anzahl von Bräuchen und Repräsentationsrollen. Zeichen des Reichtums, der erwarteten Rentabilität, Bescheinigung der Männlichkeit und Fruchtbarkeit, Sammelbecken ehelicher Haß- und Liebesgefühle, Zement und Schutt der Gewöhnung, Ersatz für die Kreativität, Objekt der Aneignung, Haustier, Prügelknabe, Puppe, Fußmatte. Auf alle Fälle Tauschwert!

Was ist das: ein Kind? Niemand weiß es, weil niemand sich vorstellen kann, bis zu welchem endlich menschlichen Wesen seine Entwicklung in einer Gesellschaft führen könnte, die auf die Befreiung und Verwirklichung der Begierden, auf die Vollendung, die jedes Individuum in sich trägt, gegründet wäre.


Die Geburt stellt in einer Welt, die keine Veränderung duldet, die Veränderung dar die alle anderen enthält. Die Eltern stehen da mit der Bitterkeit, niemals zu sich selbst gelangt zu sein, und lauern auf den, der gleich hervorkommen soll. Zwischen den Schenkeln der Mutter wartet die Zivilisation wie der mit Sägemehl gefüllte Auffangtrog einer langsamen Guillotine. Durch die Walze der verkrampften Muskeln gedreht, mit der Geburtszange herausgerissen, in die Kälte und das Licht geworfen, geohrfeigt, um die Luft der Freiheit besser atmen zu können, vollzieht das Kind schließlich seinen fröhlichen Eintritt.

Es ist nicht mein Wunsch, daß der jeder radikalen Veränderung innewohnende Anteil an Risiko, Erschütterung, Gewalt und vorübergehendem Unbehagen schal wird oder verschwindet; ich lehne mich nur dagegen auf, daß der Empfang im Leben es traditionell vorzieht, die Mutation zu bestrafen, den menschlichen Prozeß zu hemmen, die Kettenreaktion der entstehenden Lüste zu unterbrechen. Wozu die Technik der sanften Geburt, wenn die soziale Umgebung vollgesogen ist mit der innigen Hoffnung des Greises, daß die Jungen zumindest das Los seines Leidens erben sollen.

Indem sie Dir die Nabelschnur durchtrennen, maßen sie sich auch das Recht an, Dir die Flügel, die Hoden, die Geld- und Lebensmittel und die Klitoris zu beschneiden. Es ist zu Deinem Besten. Selbst in ihren kleinsten Gesten wird die Mutter dazu gebracht, die durch das ökonomische System vorbestimmten Normen der Kastration anzulegen. Sie funktioniert nicht wie ein besonderes Wesen, sondern wie ein Werkzeug der Staats- oder Stammesmacht. Im weiteren läßt sich ihre Rolle ohne Schwierigkeit auf jeden, der das Kind erzieht, übertragen: Vater, Liebhaber, das Kind selbst, gezwungen, um seine zunehmende Entkleidung von Menschlichkeit zu verdecken, sich mit den Bildern zu identifizieren, mit denen die Gesellschaft es wie mit Zerrspiegeln umgibt.

Kaum dem Uterus entwichen, wird das Kind trotz der Verheißung auf Befreiung, die die Geburt darstellt, in eine Reihe von Matrizen zurückgedrängt, von denen keine einzige die Vorteile der ersten bietet, nicht einmal einen kleinen Bruchteil davon. Es wird die Kostenlosigkeit des embryonalen Stadiums nicht mehr erleben.

Von der Familie in die Schule, von der Fabrik in den Staat, von der Gruppe in die Partei, von einer Falle in die andere geworfen, betritt es die Karriere der herrschenden oder beherrschten Ordnung, durchläuft es zum Guten oder Schlechten die bewegliche Skala des sozialen, finanziellen, ideologischen und moralischen Aufstiegs. Es hält die Auswahl, sich für eine Identifikation und gegen eine andere auszusprechen, für Freiheit, während es in Wirklichkeit über beide hinwegschreitet, um sich immer weiter von sich selbst zu entfernen. Die unwandelbare Welt des Tausches lehrt es zu überleben, bis es daran stirbt.

Die Agonie fängt früh an, in den ersten Tagen, in denen ihm die Liebe, die Erkenntnis, die Kunst, die Welt zu verändern, zum Preis einer absoluten Unterwerfung verkauft werden. Die Erpressung ist unzweideutig: Du willst weggehen, um Dich allein weiterzuentwickeln? Gib alle Hoffnung auf Hilfe und Schutz auf! Du brauchst Zärtlichkeit und Wissen? Verzichte auf Deinen Willen zur Unabhängigkeit!

Indem das Kind die Mittel, die Umstände zu modifizieren, tauft, gewinnt es lediglich die Ohnmacht, die Umstände im Sinne der Lüste umzugestalten. Die Warengesellschaft kann in ihm das Hereinbrechen der Begierden nicht dulden, die von einer Befriedigung zur nächsten fortschreiten und ein Leben erfinden, dessen Wirklichkeit wir uns noch nicht einmal in unseren Träumen vorstellen können. Das Kind erleidet so die unmenschliche Übertragung von Lebenskraft in Arbeitskraft, das Gesetz des permanenten Tausches, die praktische Unmöglichkeit zu wachsen und seine Begierden zu vervielfältigen. Die Geburt muß zusammen mit der Gesellschaft neu erschaffen werden.


Erziehen heißt die intellektuelle Trennung in den Körper einführen. Der Haus-Staat, den wir Familie nennen, macht aus dem Kind einen kleinen Engel, dessen Kopf zum Himmel, zu der Elite, dem Denken und der Macht gelenkt wird, während der Rest des Körpers darauf angewiesen ist, mit seinem analen Zyklopenauge die Erde, die niederen Gefilde, die verdrängte Welt, wo alles schleicht, kriecht und sich versteckt, anzustarren.

Jedesmal, wenn sich die zur Mutter gewordene Frau sträubend den Liebkosungen des Kindes und ihrem eigenen inzestiösen Verlangen widersetzt, lehrt sie den Körper, sich unempfindlich zu machen, einen Wall gegen die Affekte zu errichten und hart wie ein Panzer zu werden. Dann drängt sich das Denken wie ein separates Wesen auf und stattet sich mit einer Entscheidungsmacht über den Körper aus, die die soziale Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit reproduziert. Damit wird das Kind gleichzeitig in den Fluch des Geschlechts und die Vernunft der Ökonomie eingeführt. Der Körper wird zu dem, was beherrscht, bezwungen, gezähmt und gemäß den Gesetzen der über das Fäkale herrschenden Ordnung zivilisiert werden muß. Der Kopf ist geduldig genug, um das Unechte, die Scham vor der Begierde, die Angst vor dem Genuß und die Selbstverbannung zugunsten der Darstellung zu lehren.

Wie sollte man unter den intellektuellen Fortschritten des Wunderknaben, den Ihr nach Eurem Bild fabriziert und nach dem in Euch eingeschlossenen Warenanteil modelliert, nicht ein versunkenes Atlantis, die Ruinen einer in die Vergangenheit verdrängten sinnlichen Intelligenz wahrnehmen? Die Unterscheidungskraft, die Ihr beim Kind lobt, ist meistens nichts anderes als seine knechtische Anpassung an den Freihandel von Belohnung und Strafe, Aufstieg und Verfall, Macht und Unterwerfung. Ach, was für ein Scharfsinn, der sich an der Rechtfertigung, der Rache, dem Schuldigmachen, dem Hieb und der Abwehr schärft und seine Vervollkommnung durch eine gemeinsame Sühne erreicht, in der die Individuen sich als Wesen der Begierden verdrängen, um sich als Wesen des Denkens abzureagieren!

Sogar an den Grenzen, wo die Ware daran scheitert, ihre Aneignung des Lebens fortzusetzen, umzingelt und enthüllt sie das, was sie verneint: Man weiß heute, daß schon das embryonale Gestikulieren Begierden zum Ausdruck bringt, mit deren Befriedigung es beschäftigt ist. Weit davon entfernt, sich blind zu verhalten, ruft es eine Art dunklen Blick hervor, eine Intelligenz dessen, was es in der organischen Beziehung zur Mutter anregt. Fängt der Körper nicht sofort an, das unbekannte Gebiet zu erforschen, sobald die Geburt das Kind in eine Flut von Geräuschen, Berührungen und Licht gestürzt hat? Bilden sich nicht Tast-, Geruchs-, Gehör- und Sehsinn aus, indem sie durch Rückzug und Ausdehnung die Umwelt und die feindlichen oder freundlichen Augenblicke unterscheiden?

Jedesmal, wenn das Kind vor der Kälte, der Langeweile, der Vereinsamung und der groben Hand flieht und nach dem Schoß sucht, aus dem die Zärtlichkeiten kommen, entwickelt sich die Intelligenz untrennbar vom Körper, dessen Wachstum sich mit der Verfeinerung der Sinne auf dem Weg zum Genuß identifiziert.

Trotz der geringen Klarsicht, die die ökonomische Vernunft ihm zubilligt, besitzt das Kind ein wissen, das eine Umwelt schaffen kann, die für die Befriedigung seiner Begierden günstig ist. Haben die Erwachsenen je daran gedacht, ein solches Wissen zu vervollkommnen? Ganz im Gegenteil, sie haben dieses Wissen verkehrt, indem sie es vom sexuellen Impuls getrennt haben, sie haben es in ein Denken verwandelt, das den Begierden fremd ist und das die Lust dem Leben entfremdet.

Die intellektuelle Hypertrophie ist der faulende Kopf der Warenentwicklung. Sie zeigt durch die entgegengesetzte Wirkung, daß jeder Scharfsinn im selben Schwung mit dem Willen zum Leben entsteht, sich von einer Lust zur anderen verfeinert und durch die ständige Verkehrung in der Verdrängung, dem Zwang, der Trennung und dem Schuldgefühl an Abstraktion stirbt. In jedem von uns appelliert die unterdrückte Kindheit an eine neue Intelligenz, an die Intelligenz ihrer eigenen Aufhebung und Realisierung.

Genauso sicher wie die ökonomische Macht die Intellektualität produziert, indem sie den Begierden ihr Fühlvermögen raubt und sie gegen sich selbst kehrt, wird die generalisierte Selbstverwaltung die Intellektualität bis zum Ende ihres Selbstzerstörungsprozesses treiben, über greisenhafte Versteifungen und kindische Abreaktionen hinaus bis zu ihrer Auflösung in der hervortretenden globalen Sinnlichkeit.


Die Geburt ist eine Schuld, die mit dem Verzicht auf das Leben bezahlt werden muß. Unter den Unschuldigen ist das Kind am wenigsten gern gesehen. Der Titel eines alten Fortsetzungsromans kann auf seine eigene individuelle Geschichte angewandt werden: Es ist das Kind der Sünde. Die Theologie hat sich nicht geirrt, als sie die Geburt als eine neurotische Hölle beschrieb, in der die menschliche Kreatur zwischen Urin und Scheiße geboren wird, während der Gott des Intellekts das an Reinheit gewinnt, was er an Ekel vor dem Körper einflößt.

Niemand wird jedoch verneinen, auch wenn er es manchmal den anderen verheimlicht, mit welchem Gefühl der Befriedigung er jeden Tag pißt und scheißt. So ruft die Scham, das Kind bei gleichzeitiger Entleerung von Urin und Exkrementen auszustoßen, bei der gebärenden Frau einen Widerwillen hervor, der die mögliche Annehmlichkeit der Geburt bis zum Alptraum treibt. Die Scham vor sich selbst macht aus der Ungezwungenheit der Lüste eine Freiheit, die mit einer noch größeren Scham bezahlt werden muß; dies ist die Lektion, die das Kind von der ersten Stunde an eingebleut bekommt.

Wie sollte das Kind nicht in und durch das Schuldgefühl erzogen werden, wenn es für die Schmerzen der Geburt, die Unannehmlichkeiten der Schwangerschaft, die von der Mutter verdrängte inzestiöse Lust, das schlechte Gewissen der Eltern und die Wirbel im dreckigen Wasser des Paares verantwortlich gemacht wird? Die Hygiene der ökonomischen Vernunft verlangt, daß es bestraft wird, wenn es schreit, spuckt und sich beschmiert. Fällt es, leiert die Mutter "Da siehst Du, was passiert, wenn Du mir wegläufst!" herunter, während die Familie lauthals das Thema "Du bist schuld!" variiert.

Das Kind lernt sich und andere hassen, wenn die Mutter es dazu bringt, das Lieben zu verlernen. Das Inzesttabu zwischen Mutter und Kind verbietet dem Genuß des embryonalen Stadiums überall und immer, sich nach der Geburt in eine kostenlose Zuneigung zu verlängern. Die ursprüngliche inzestiöse Beziehung ist die Quelle jeder Liebkosung, während ihre Verdrängung aus ihr die Quelle der Grausamkeit, der Erstickung, der Aneignung und der Schuld macht.

Je mehr die funktionelle Mutterschaft die Frau als Liebhaberin unterdrückt, desto mehr wird das Kind zum einzigen Objekt ihrer nachtragenden Bitterkeit. Sie drückt es an ihr Herz wie einen alten Groll. Ruft das Kind in ihr Begierden wach, indem es an ihrer Brust knabbert, appelliert sie an den ökonomischen Vorwand und stellt sich als nahrungsgebende Mutter hin, die das Essen und das Liebkosen in zwei verschiedene Handlungen teilt und durch das Gesetz der Arbeit fröhlich die einzige Einheit des Genusses bricht.

Kommt es einmal dazu, daß sie das Kind beim Waschen so weit erregt, daß sie die Anfänge eines gemeinsamen Genusses in sich spürt, so verleugnet die Hand sofort die amouröse Versuchung und vollendet ihre hygienische Arbeit mit mechanischer Trockenheit. Die Lust ist jedoch nicht in der funktionellen Geste verschwunden, sie besteht in ihrer gegensätzlichen Form fort, sie hat die Richtung geändert und sich mit Angst, Schuldgefühl und Aggressivität beladen. Aus der Lust zu streicheln ist die Lust zu kratzen, zu schlagen und zu verletzen geworden.

Wenn sich die ökonomische Vernunft des Körpers bemächtigt, funktionalisiert sie ihn und trennt das, was zur ernährenden und erziehenden Maschine gehört von dem, was keiner Rentabilität gehorcht und deshalb unterdrückt werden muß. Gefangen im traumatisierenden Hin und Her des Überschwangs der Liebe und der Starrheit des Hasses, hört das Kind nicht auf, in der neurotischen Stoßbewegung der Verdrängung die Sanftheit der Zärtlichkeiten über sich ergehen zu lassen. Es wird zum erstenmal für die globale Sexualität empfänglich durch das, was sie zerbricht, zersplittert und verkehrt.

Jedesmal, wenn auf sanfte Augen der Tadel folgt, jedesmal, wenn lieben strafen heißt, lernt das Kind, daß der Kopf der Zufluchtsort des schuldigen Körpers ist. Es lernt, ihn auf die Ebene des unterwürfigen Grußes und der ihn entschädigenden Verachtung zu stellen. Seine Selbstbeherrschung ist nichts weiter als knechtische Unterwerfung unter alle Entfremdungen. Deshalb ist jeder von uns, ob Mann oder Frau, dazu bestimmt, sich früher oder später als Mutter zu verhalten: Mutter wirklicher oder unwirklicher Kinder, Mutter kompensatorischer Hundsgemeinheiten, Mutter der Sühne, Mutter der Regimenter und Parteien, die, meistens in lächerlicher Nachahmung des Vaters, dieselbe schändliche Familie reproduziert: die Familie der Gefühle und der Stämme, die nationale, politische, erotische, ideologische und revolutionäre Familie.

Das Ende der mütterlichen Funktion ist nur eine andere Form des Endes der Arbeit, des Zwangs, der Intellektualität und des Schuldgefühls.


3.DIE GESCHICHTE, DIE IM BEGRIFF IST UMZUKEHREN, FÜHRT UNMITTELBAR ZUM WENDEPUNKT DER INDIVIDUELLEN GESCHICHTE

Die Selbstanalyse ist für die Psychoanalyse das, was die Verwirklichung der Individuen für ihre Integration in die Ware ist. Ich kümmere mich nur insoweit um die Kindheit wie ich sie gelebt habe und wie sie beharrlich in mir weiterlebt. Denn das Altern hat heute den genauen Sinn einer fortschreitenden Integrierung in die alte Welt, und die Rückkehr zur Kindheit markiert die Ablehnung der zunehmenden Proletarisierung. Holt die auf das Kind ausgeübte Unterdrückung nicht die Ausbeutung des Proletariers an dem Punkt ein, wo die individuelle und die kollektive Geschichte sich treffen?

Der schamlose Hochmut der Ökonomie verwischt heute die lange Zeit aufrechterhaltene Verwirrung zwischen der Kindheitsideologle und dem Glauben der Rechten wie der Linken an das Goldene Zeitalter. Die nackte Materialität der Ware öffnet allen die Augen, ihre elementare Mechanik funktioniert am hellen Tag, indem jede ihrer Bewegungen einen Teil Menschlichkeit freisetzt, den sie schon auf der nächsten Stufe zu rekuperieren hofft in dem widersprüchlichen und ständigen Fortschreiten ihrer Selbstzerstörung.

Wenn ein Revolutionär im neunzehnten Jahrhundert dreißig Jahre brauchte, um zu begreifen, daß seine Freiheitspläne Schlimmeres beinhalten als die frühere Unterdrückung, so genügen dem Mann ohne Eigenschaften, unserem Zeitgenossen, drei Jahre, von denen jeder Tag bis zum Überdruß beweist, wie das, was noch an der globalen Befreiung der Begierden fehlt, an der Erneuerung der Ware arbeitet.

Die Rückkehr zur Kindheit erscheint im Kielwasser zweier sterbenskranker Ideologien, des Feminismus und der Psychoanalyse: zwei partielle, im Schatten der proletarischen Befreiung entstandene Forderungen, deren alleinige Anwesenheit genügt, um den ebenso bruchstückhaften Charakter der anarchistischen Bewegung und der Arbeiterräte zu entlarven.

Im okkulten Zentrum der feministischen Forderung steht die Freilassung der Frau als Liebhaberin. Das ist es, was das matriarchalische Projekt und die Amazonen, die als Konkurrentinnen losgezogen sind, um die von den Männern an sich gerissene ökonomische Macht zu erobern, von Anfang an erstickt haben. Da die Feministinnen die Verachtung für die schwache Leistungskraft des Kindes mit den Produzenten gemein haben, bleibt ihnen die glorreiche Zukunft, die Gleichheit durch Arbeit anzustreben, ihre häusliche Autorität als "Mütter" (mit oder ohne Kind) auf die Gesamtheit der sozialen Aktivitäten zu erstrecken, um eines Tages zum vollberechtigten Boß, Bauarbeiter, Bullen, Militanten und Soldaten zu werden. Ein schönes Ziel!

Die Arbeiterbewegung, der Feminismus und die Psychoanalyse haben denselben intellektuellen Makel. Ursprünglich entsprechen alle drei einem Verlangen nach Authentizität, einer Parteinahme für das Leben und gegen seine verfälschten Formen; jedoch trennt und verkehrt sich jede in eine neue Unterdrückung, die nichts anderes ist als die von ihnen modernisierte alte Unterdrückung. So macht sich die Psychoanalyse auf die Suche nach dem im Erwachsenen verdrängten Kind, aber da sie es versäumt, den Grund einer solchen Verdrängung der Ökonomie zuzuschreiben, wirft sie ihr das Lebendige, das sie unter dem Eis des Profits und der Macht herausfischt, sehr schnell wieder zum Fraß vor.

Die Psychoanalyse verbreitet und reproduziert so alle Ticks der alten Entfremdung. Hört sie etwa auf wenn sie dargelegt hat, daß das Denken den Ausdruck der Begierden zensiert, ein getrenntes Denken zu sein, eine Gegenzensur, die den Bruch zwischen Körper und "Kopf" verheimlicht, eine Befreiung, gefangen in der Beziehung Herr-Sklave, eine in der Falle des Urhebers und Bittstellers steckende Freisetzung?

Dank der Psychoanalyse erreicht die Verwandlung der sinnlichen Intelligenz in eine intellektuelle Funktion den Punkt ihrer unbewußten Perfektion. Sie lehrt, die Neurosen auszutauschen und das unerträgliche Unbehagen des individuellen Überlebens den sozialen Normen des allgemeinen Überlebens anzupassen. Was für eine schöne Erkenntnis zu wissen, warum man seinen Vater haßt, wenn man weiter für einen Boß arbeitet!

Obwohl die Regulationsventile seit langem den Druck von Verdrängung und Abreaktion so gut sie können im Gleichgewicht halten, konnten sie nichts daran ändern, daß eine bestimmte Art der Spannungserleichterung durch positive oder negative Übertragung in dem Maße unmöglich wurde, in dem die Ware durch Inbesitznahme des Menschlichen menschlich wurde. Die Gesellschaften mit hoher Warendurchdringung machen es nicht mehr möglich, den Mangel an Leben durch Lynchjustiz Massaker von Minderheiten, offiziellen Rassismus, Verherrlichung oder Verabscheuung von Chefs auszugleichen.

Das ökonomistische Verhalten zieht heute die Brüderschaften der Selbstzerstörung, die Klubs der verachteten Verachtung, die Gesellschaften zur gegenseitigen Beurteilung vor. Die Psychoanalyse ist das unerläßliche Waschmittel, das von den Lieferanten der schmutzigen Familienwäsche verlangt wird. Sie individualisiert das Tauschsystem, indem sie dem Patienten direkt ein gutes Gewissen für seine Störungen verkauft - und zwar zum genauen Preis seiner Integration in die Warengesellschaft. Ihre Heilslehre, der die Zweideutigkeit der akzeptierten und verneinten Begierden zugrundeliegt, reproduziert in Wirklichkeit das morbide Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Eine gut in die Ordnung der Dinge eingefügte Pirouette setzt schließlich der Bilanz von Störungen und Heilmittel ein Ende: das Kind als Sklave tötet den mütterlichen Herrn, es tötet ihn symbolisch, indem es das Konsultationshonorar entrichtet! Ite missa est.

Wir stehen heute deutlich vor der Wahl, die Kindheit aufzuheben oder in uns verfaulen zu lassen, ihre Entfaltung zu leben oder sie bis zur Senilität, der Perfektion des unvollendeten Menschen, zu zertreten, wo sie sich in extremis rächt. Die intellektuelle Funktion, deren Schatten immer das Bewußtsein der individuellen Geschichte verdunkelt hat, muß zulassen, daß die Kindheit sich gegen sie ausspricht. Das, was mir bisher feindlich gegenüberstand, wechselt das Lager und läuft zu meiner Lebenskraft über. Erkenne ich nicht jetzt wie so viele, daß es eine Alchimie gibt, deren Rohstoff in mir liegt? Meine Begierden, meine Launen, meine Leidenschaften, meine Stimmungen, meine Phantasmen, meine Träume, meine Hemmungen, meine Neurosen, meine Krankheiten, meine Projekte, meine Schrullen, meine Dummheiten, meine Irrtümer, mein Genie, meine Besonderheit: besteht nicht aus all dem die Quelle, aus der ich den unaufhaltsamen Fluß meines Schicksals hervorsprudeln lassen will?

Mit dem Schwung der Autonomie erscheint die Selbstanalyse; sie trägt das Merkmal ihrer Entschlossenheit und ihrer Ungewißheit. Je enger die Proletarisierung das Leben umzingelt und umfaßt, desto mehr entfacht sie unter dem Gebälk des ökonomischen Reflexes das Feuer des sinnlichen Überschwangs. Die authentisch gelebte Lust gibt keine Ruhe, bis sie alle in die Falle gelockten Genüsse aus der Umklammerung der Ware befreit hat. Der Scharfsinn gehört zur Begierde wie die Begierde zur individuellen Besonderheit. Es gibt schon zu viel Fremdes in mir, als daß ich noch dazu etwas in mich eindringen lassen würde, das beansprucht, es an meiner Stelle zu vertreiben.

Wäre die Selbstanalyse lediglich eine Psychoanalyse ohne Psychoanalytiker, so wäre sie bloß eine neue Art der herkömmlichen polizeilichen Lektüre des Ichs. Heißt es nicht, auf die Scharfsinnigkeit der Begierde ohne Herr verzichten, wenn man sich der Prüfung durch andere überläßt, auf den Köder der objektiven Erklärung hereinfällt und mit dem Blick der anderen und all dem, was er an Abreaktion, Kräfteverhältnis und Abrechnung zur Folge hat, nach sich selbst sucht? wie könnte sich derjenige, der sich unter Zwang, im Schrecken, sich selbst zu finden, und mit der Angst des auf Rechtfertigung versessenen Schuldigen analysiert, dem stärkenden Impuls des Lebenswillens öffnen?

Ich werde den Teil der alten Welt, der in mir weiterlebt und mich durch Trägheit regiert, nicht verheimlichen. Im Gegenteil, ich erhebe den Anspruch, aus diesem Konglomerat von erstarrten, gehemmten und verkehrten Begierden den herrlichen Dämon, der sich dort hat einsperren lassen, zu befreien. Die unterdrückte Welt des Genusses liegt in mir, wie das Kind, das ich war und das ich ohne Trennung immer noch bin. Das, was ich verheimliche, zeigt sich überall dort, wo ich es nicht sehen wollte. Das gestreichelte Armband, die Migräne der "schlechten" Gedanken, die Seufzer des Unerfüllten, das Herzrasen der Verdrängung sprechen die Sprache des zweideutigen Körpers, der zwischen den Begierden und ihrem Verbot zerrissen und vom Lebensimpuls und dem wortwörtlichen Ausdruck von Formeln mit bestechender Banalität hin und her gerissen wird: "das dreht einem den Magen um", "das schnürt einem die Kehle zu", "davon hat man die Nase voll", "das kommt einem zu den Ohren raus", "da kriecht man auf dem Zahnfleisch" ...

Das, was mich anekelt, terrorisiert, demütigt und leiden läßt, enthält in seiner verkehrten Form das, was ich liebe und begehre. Ich habe weniger Bedenken, mich zu erforschen als mich anzuvertrauen. Je mehr meine Neugier auf Widerstand stößt, desto mehr bin ich überzeugt, darauf zu beharren. Dort, wo die Blockierung zunimmt, steht die Mauer der Verdrängung. Dort, wo die Unterdrückung verankert ist, gefällt es mir, nochmals anzugreifen, herumzuschnüffeln und mit Hilfe von Assoziationen, Analogien, flüchtigen Bildern und Traumphantasmen tiefer zu gehen. Warum sollte ich nicht alles ausschöpfen, warum sollte ich mich mit oberflächlichen Interpretationen, Übertragungen und Alibis zufrieden geben? Bin ich nicht allein dabei, meine versteckten Wahrheiten zu entdecken?

Ich will es lernen, mit dem schöpferischen Hauch des Genusses den in einem Winkel meines Kopfes hockenden Pfaffen und Polizisten zu vertreiben. Mir scheint, daß derjenige die absolute Waffe der Revolution besitzt, der nicht mehr ignoriert, wie sich in ihm die Bewegung, durch die sich der Wille zum Leben in einen Todesreflex verwandelt, umkehrt.

Wie seinerzeit das Buch der Gesellschaft entziffert wurde, so spürt heute ein jeder, daß seine Neigung zur sofortigen Befreiung ihn mit der eigenen Dechiffrierung konfrontiert. Verlischt nicht allmählich der Schmerz, wenn er so gründlich analysiert wird, daß er den Eiter seines Schuldgefühls wieder ausspuckt? Er legt dann den vernarbenden Impuls der Gewebe offen, entspannt die Muskeln des Panzers und setzt die Begierde frei, deren Verdrängung die Ursache des Leidens war? So geht es mit jeder Krankheit, jeder Somatisierung und mit jedem Unbehagen.

Wir haben es bisher akzeptiert, uns mit Arzneien zu heilen, die schlimmer sind als das Übel, da wir als Grundlage nicht den Willen zum Leben, sondern das, was ihn schwächt, gewählt haben. Bald daran gewöhnt, das Spiel unserer Organe wahrzunehmen, wird es uns gelingen, sie den Hemmungen entgehen zu lassen, von der Ökonomie zu befreien und der Entfaltung der Genüsse zurückzugeben. Wir wollen mit zunehmender Genauigkeit die Formel "der Zufall, das ist das Dir selbst begegnende eigene Ich" anwenden, damit wir den Teil des Lebens und des Todes, der von uns und zu uns kommt, so entwirren, daß es nur noch in der Vielfältigkeit der Genüsse eine Zufälligkeit gibt.

Die Umkehrung der verkehrten Welt führt unmittelbar zum kürzesten Weg von einem Glück zum anderen.


4.DIE WIEDERGEBURT UNSERER BEGIERDEN KÜNDIGT DIE GEBURT EINER ENDLICH MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT AN

Den in der Kindheit erwachten Begierden fehlte es an Mitteln, die Welt zu ihrem Vorteil zu verändern. Diese Mittel werden uns von der zeitgenössischen Geschichte angeboten, allerdings gegen uns gerichtet. Es genügt, daß wir wieder zu uns selbst kommen, um sie gegen diese Geschichte zu kehren.

Die Erschaffung sinnlicher Beziehungen setzt unwiderruflich mit der Erschaffung einer radikal anderen Gesellschaft ein. Diejenigen, die begeistert die Waffen der in ihnen wiederentdeckten Kindheit gegen ihre Proletarisierung richten, sind zahlreicher, als die Selbstmörder der alten Welt es glauben, die doch so schnell die neue Unschuld, die die Welt der Langeweile mit anderen Mitteln zu vernichten beginnt, der kindischen Forderung und des kollektiven Wahnsinns beschuldigen.

Ich sehne mich nach der Begegnung, in der das Kind nicht länger Objekt der Erkenntnis, sondern Subjekt einer leidenschaftlichen Liebe ist. Das erotische Abenteuer mit dem Kind ist untrennbar mit der Liebe zu sich und der Liebe zum Leben verbunden. Zweifelt nicht daran, daß dieses Abenteuer sich trotz Eurer Gesetze verbreiten wird, Ihr Schweine, die Ihr niemals ohne Mord am Kind empfangen habt.

Die Suche nach unseren Begierden ist keine Ausgrabung der Vergangenheit, sondern der Appell der zu lebenden Gegenwart. Die Zauberwelt, damals in den Märchen verkehrt, wird in Verbindung mit der Kindheit wiedergeboren. Alles ist erlaubt, denn von den Wahrheiten der Ware ist nichts wahr.



VI.DIE GENERALISIERTE SELBSTVERWALTUNG SETZT DEN VERKEHRTEN LÜSTEN EIN ENDE


1.DIE MEISTE ZEIT ERLEBEN WIR NUR DIE TÖDLICHE VERKEHRUNG DER LÜSTE

Die Leidenschafien verkümmern so lange, bis das unterdrückte Leben sogar den Willen zur Selbstzerstörung verliert. Die Lüste der Vergangenheit haben mehr Gewalt hervorgerufen als unsere, weil dort der Wille zum Leben, wenn auch verkehrt, viel lebhafter um sich schlug. Durch die Mythen der Macht erregt und durch die ideologischen Gezeiten des Kapitalismus bewegt, hat der Wille zur Macht lange Zeit aus dem sexuellen Überschwang die Kraft geschöpft, das Leben in die Richtung des Hasses und des Todes zu beugen.

Heute schöpfen die Verwitterung der Hierarchie und die übermäßige Punktion durch die Ware die aggressive Energie der Individuen und der Gesellschaft aus, die Königen, Volksrednern, Chefs, Führern, Kriegshelden, gehetzten Kämpfern der redlichen und unredlichen Konkurrenz und allen anderen schlauen Rohlingen gemein war. Der Wille zur Macht, der in unseren Tagen in Büros, Familien, Kasernen und ZKs dahinsiecht, würde einen Grund zur Freude bieten, wenn die Schwachsinnigkeit der Macht nicht auch eine Macht von Schwachsinnigen wäre, eine zunehmende Kraftlosigkeit des Willens zum Leben. Wenn die Menschen in der nächsten Warengesellschaft aufhören, sich gegenseitig zu töten, dann deshalb, weil sie nicht mehr die Kraft dazu haben. Wozu Selbstmord begehen, wenn der Tod so nah ist und es genügt, sich dem Überleben wie einem Behelfsmittel hinzugeben?

Der Traum der Apokalypse grassiert im Unterbewußtsein der Warengesellschaft. Lediglich die Idee einer schnellen Zerstörung konnte ihr helfen, sich zu ertragen und den Reflex ihres fortschreitenden Krebses zu betrachten. Die rächende Verzweiflung der Anhänger des Goldenen Zeitalters und der selbstmörderischen Revolutionäre war ihr getreuestes Spiegelbild, bis das Überleben ihre Realität als klimatisierte Agonie enthüllte, als einen verlangsamten Selbstmord, der wegen seiner Zwangsläufigkeit unnötig zu verfolgen ist.

Während die Kriminalität, der Terrorismus und seine versüßten Stellvertreter die letzten Zuckungen eines sterbenskranken Willens zur Macht zum Ausdruck bringen, nistet sich in der Wartezeit, in der die Vergnügen als Zeitvertreib dienen, die Lust zu einer die alte Welt verschlingenden Trauerfeier ein. Auf die Sehnsucht eines verkehrten Lebens, das sich zusammenzieht und von Zeit zu Zeit unter seiner Gewalt erstickt, folgt ein sanfterer Tod, ein Epikurismus auf Ratenbasis, dessen Wechsel das Menschliche jedesmal tiefer in die Vereisung der Ware einsinken lassen.

Ich lehne es ab, zwischen zwei Todesarten zu wählen. Meine einzige Richtlinie ist das Leben ohne Maß.

Am Punkt des letzten Verfalls angelangt, wo selbst die Sinne die Reduzierung des Biologischen auf das Ökonomische über sich ergehen lassen, enthüllen die Lüste sowohl ihre jahrtausendealte Verkehrung als auch den Anteil des Lebens, der sich der Rekuperation durch die Ware absolut widersetzt. Die letzte Brücke der Proletarisierung führt zu einer neuen Art des Fühlens, mit dem wir ihren endgültigen Zusammensturz betrachten werden. Allmählich entsteht wieder eine Natur, in der sich die Begierde ihr Organ schafft.

Die Lust zum Leben kennt weder Regeln noch Gesetze. Das, was sie definiert, umschließt und spezialisiert, ist genau das, was sie verneint und umkehrt: die Arbeit, der Zwang, der Tausch, die Trennung und das Schuldgefühl.


2.AUS DER LANGEWEILE DER ÜBERLEBENSEREUDEN ENTSTEHT DIE LUST ZUR UMKEHRUNG DER PERSPEKTIVE

Das Auge der Macht zerstört das Leben. Die Erziehung eicht die Augen nach der Wertskala der Ökonomie. Von der Arbeit und dem Zwang gepiesackt, entwirrt der Blick das Knäuel des hierarchischen Labyrinths, folgt den Signalen des Verbots und des Erlaubten und erkennt in der Ferne die Bojen der Autorität und des Profits. Das Auge ist der Spiegel der Ware.

Das Sehen verkehrt die Begierde, etwas zu erreichen, um zu genießen, in die Gier, etwas an sich zu reißen, um es zu besitzen. Und so wie das Haben den Genuß ersetzt, so ersetzen die das Privateigentum schützenden Gesetze das verbotene Haben durch das Bild der Besitzergreifung. Das, was so gesehen wird, besitzt einen stellvertretend mit der Begehrlichkeit des Diebstahls und der Vergewaltigung. Gelangt der Gegenstand endlich in die ihn begehrenden Hände, so empfindet der Blick immer noch die bittere Ohnmacht zu genießen, die die Siege des Willens zur Macht bezahlt.

Die beiden Blickwinkel der Verdrängung und der Abreaktion nehmen nichts anderes als die Landschaft des verkehrten Lebens wahr. Die Lust, etwas zu fassen, um es zu streicheln, wird zur Sucht, es zu fangen, zu töten und zu vernichten. Wenn Du Gefallen an dem Spiel findest, mit einer imaginären Waffe den durch die Lüfte schwebenden Sperber oder das aus dem Nebel emporsteigende Dorf ins Visier zu nehmen, bringt dann nicht der Gedanke, das Gesehene zu zerstören, die unerträgliche Verwandlung des Verlangens, überall zu sein, in das Bedürfnis, alles zu besitzen, zum Ausdruck?

Seitdem die in toten Gegenständen, Besitztümern und Waren mumifizierten Wesen und Dinge uns an unseren Fluch erinnern und dazu anregen, sie zu zerstören und ein gemeinsames Nichts zu teilen, ist der böse Blick in uns.

Es bleiben nur noch die Augen des Kopfes, deren intellektueller Lichtstrahl das Labyrinth des Unechten erhellt. Gemäß der alten Legende wird das Kind, das das Geschlecht seiner Mutter betrachtet, mit Blindheit geschlagen. Die Legende der modernen Erziehung ist wirksamer: sie öffnet dem Kind zwar die Augen direkt in diese Richtung, macht es jedoch blind für das, wozu man sie wirklich gebrauchen könnte. Der Blick des Denkens ersetzt das Erlebte.

Und dieser Blick spiegelt auch die Schuld wieder. Die meisten Menschen überleben mit der fixen Idee, gesehen zu werden und einem Markenzeichen zu entsprechen. Das inquisitorische Auge ergreift vom Lebendigen nur die Verwandlung in Rollen, Bilder und totes Fleisch, das auf die Waage der Warenkriterien geworfen wird. Ihr leichtgläubigen, dem Hexenbann der Macht ergebenen Opfer, spottet ruhig von der Höhe Eures Wissens über die sogenannten "primitiven" Menschen, die Angst davor haben, daß ihr Photo oder Abbild in feindliche Hände fällt!

Der tastende Blick des Genusses nimmt in den Wesen und Dingen nur das wahr, was in ihnen lebendig ist. Was habe ich mit einem geliehenen, zurückgegebenen, ruhenden, abgewägten und verkauften Blick zu tun, der mißt, vergleicht, abreagiert und sich eintauscht? Der Sehsinn gehört wie alle Sinne zum globalen Fühlen, das mit dem Kind geboren und von der Ökonomie abgetrennt und zerstückelt wird. Die Visierlinie der verdrängten Lust ist nicht die Lebenslinie.

Die trübe und tiefe Sicht der Liebenden, die Visionen des Traumes und der Verwunderung - diese sich verdoppelnde Sonne, die wir einmal über einer verschneiten Landschaft gesehen haben - tragen das unauslöschliche Zeichen des sinnlichen Taumels, in dem sich eines Tages alles ordnet. Wenn auch noch so sehr auf die ökonomische Funktion reduziert, geschieht es, daß das Auge die unabänderlichen Gleise der Warenperspektive ablehnt und die Geometrie der Macht, die Höhe, die Tiefe, links und rechts, nah und fern, die Zeitdauer und den Ort in Verwirrung bringt. Wenn es sich dem unersättlichen Überschwang des Genusses öffnet, sprechen die Augenärzte der alltäglichen Leistung von einem verschwommenen, verirrten und verlorenen Blick; es stimmt, er ist für sie verloren, er will sie nicht sehen, er entzieht sich ihren Prüfungen.

Weder unter dem Einfluß der Auflösung des Ichs, der Droge oder der Erleuchtung öffnen sich die greiffähigen Lider und Brauen der Begierde, ganz im Gegenteil: erst der an die Kostenlosigkeit der Sinne zurückgegebene Scharfsinn reißt sie auf. Der seidene Blick des Polypen umfaßt die Welt mit einem Sog, der versucht, sich vom Leben zu ernähren und den Tod aufzulösen. Eine solche Ausstrahlung will ich bis in den Schlaf verfolgen, bis zu dem Augenblick, wo der Körper die Landschaft zu vielfachen Träumen verdaut, zu Träumen, die das Erwachen von heute an - seid Ihr Euch dessen bewußt? - konkret zu verlängern lernt.

Die Knochen der Bitterkeit haben die letzte Haut der Ästhetik durchbrochen. Ihr habt über das Schöne und das Häßliche immer nur in Abwesenheit gerichtet. Der Schatten des Todes widert mich an, lediglich das Lebendige erweckt meine Leidenschaft. Von der Liebe erhalte ich eine Klarheit, die alle mit Haß und Siechtum beladenen Wesen und Dinge demselben bedrohlichen Grau angleicht. Das, was durch die Lust gesehen wird, zerstört letztendlich das, was der Profit mich zu sehen zwingt.


Die entsexualisierte Nase ist nur noch ein Anhang der Lunge, eine physiologische Schmiede, die dem Körper nicht einmal das Feuer des Lebens gibt, sondern lediglich die Macht der Leistung. Mit seiner Verachtung für die Arbeit ließ das aristokratische Regime dem Körper seine natürlichen Gerüche, die die Kraft der Leidenschaften aufs Beste mit den wilden Düften vereinte. Unter der Herrschaft der Fabrik schrubbt die Hygiene alles Lebendige vom Körper herunter. Die Sauberkeit mit ihren morbiden Ticks desodoriert die Luft, die Achseln und die Küche, während die Umweltverschmutzung die Erde, das Meer und den Himmel zerfrißt. Der Körper hört nicht auf, sich im dreckigen Wasser des Profits zu waschen.

Der Geruchssinn lernt die Scham vor den Gerüchen und verliert nach und nach sogar die ihm von einer Erziehung der Verdrängung aufgezwungene Unterscheidungsfähigkeit zwischen guten und schlechten Gerüchen, denen der Heiligkeit und denen der sexuellen Lust. Das Schuldgefühl, das einst lediglich die erektilen Düfte der Liebesbegierde traf greift nun alles an, was die energiegeladene Arbeit der Lunge zu verunreinigen droht. Der Geruchssinn verschließt sich allem, was nichts mit der Atemfunktion zu tun hat. Je weniger sich der Atem dem Hauch des Genusses öffnet, desto mehr verzichtet er auf seine Fülle, desto mehr nimmt er den Rhythmus der Anstrengung an, hält er sich stoßweise zurück und spart sich auf.

Die Familie lehrt, den Brustkorb zu lähmen und die aus dem Bauch aufsteigenden Impulse zu blockieren. Die Selbstbeherrschung läßt den Oberkörper anschwellen und kontrolliert die Affekte, während der Wille zur Macht den Muskelpanzer fester zusammenzieht. Die Atmung wird zu einer Atmung des Kopfes, zu einem Element des Gehirnsystems. Sie zwingt dem Körper den Überlebensrhythmus eines gehetzten Tieres auf im Bewußtsein dessen, daß der Tod dabei ist, sie ohne Mühe und Lust einzufangen.

Die Luft der Ware erstickt. Die Angst ist die einfachste Ausdrucksform der sozialen Erstickung. Die Kehle schnürt sich jeden Tag mehr zusammen und läßt den libidinösen Strom nur in den Stößen der Abreaktion entweichen. Ist es nicht so, daß die Erkrankungen von Hals und Nase das Kind gegen seinen Willen über den Akt des Eindringens der Macht und des Geldes unterrichten, den die Familie durch eine legale Vergewaltigung an ihm vollzieht?

Die alte Welt, die uns den Atem raubt, ist natürlich gleichzeitig die Welt der weiten und reinen Höhen. Sie öffnet mit einer Hand die Kehle, die sie mit der anderen knebelt. Der Lungenstaubsauger wird großzügig durch Sport, Arbeit, Gymnastik, Kuren, Drogen, Aufputsch- und Beruhigungsmittel, Psychiater und Antipsychiater, Religionen, Entspannung und Tourismus in Gang gesetzt. Der Unterdrückung der Städte wird das Epos der freien Luft, dem sozialen Würgegriff der Ausbruch als doppelt so langer Strick für den Gehängten entgegengesetzt. Das Land versorgt den Körper mit Sauerstoff bevor es ihn zum Verfaulen in den Dung des Urbanismus und die Wüsten der Langeweile zurückschickt. Nach dem Kampf treffen sich Ökologie und Umweltverschmutzung im selben Umkleideraum, wo sich der Schweiß der Gauchisten mit dem Formaldehyd der Bürokraten vermischt.

Der Verwesungsgeruch der Abreaktion, des Hasses und der Verachtung fließt mit der Warenverschmutzung zusammen. Die Gesetze einer Gesellschaft, in der man nicht mehr atmen kann, verteilen an alle den angemessenen Trost, sich nicht mehr riechen zu können. Wie sehr vermehrt sich doch der kleine Schnüffler! Der größenwahnsinnige Hund entlarvt jede Kompromittierung und macht das radikale Männchen, um den Zucker des Renommees zu bekommen, während der revolutionäre Pfaffenfrosch sich so sehr mit Galle aufbläst, daß er auf dem freien Feld der Geschäfte ohne weiteres den Ochsen der Theorie spielen kann. Wer durch das Loch des Prestiges atmet, lebt von der Luft der bürokratischen Epoche. Nase der unbestechlichen Tugend, Dein Ruhm ist der des Abfalls und Dein geschichtlicher Auftrag ist die Kanalreinigung! General einer Armee von Mülleimern, bist Du noch lange nicht damit fertig, über alles, was Du berührst, den Geruch dessen zu verbreiten, was in Dir gestorben ist, den Geruch der Ware, die im Kreis aller künstlerischen Exorzismen umgeht.


Sich gut fühlen, heißt die Kostenlosigkeit des Lebens in sich riechen - gut riechen, heißt die Kostenlosigkeit des Lebens in sich fühlen: Alles Lebendige riecht gut. Ich träume von einer wiedergeschaffenen sinnlichen Einheit, in der jedes Organ seine unaufhörliche Entwicklung entsprechend der Bewegung jeglicher Befriedigung findet - so daß die Gerüche auf eine sexuelle und sie selbst sexualisierende Art sich meiner bemächtigen und entledigen (die Lunge wird durch den Kontakt mit der Luft erregt und von ihr durchdrungen, bevor sie sie in einer Entspannung der Muskeln durch Nase und Mund ausbläst) oder die Funktionen des Körpers, endlich zugunsten der Lüste entwendet, vor dem Rhythmus von Spannung und Befriedigung, durch den die Lebensbegierden fortschreiten, weichen.

Von dem Kind, das in dem Alter unterdrückt wird, in dem es lernt - Nase in Höhe von Hosenlatz und Hosenboden -, den Geruch der geheimen Impulse zu schnuppern, haben wir uns etwas von der entstehenden Freiheit, die den Geruchssinn gebildet hat, erhalten. Wem gefällt es nicht, den Finger, der über sein Geschlecht geglitten ist, der sich in den After geschlichen und unter den Achseln gerieben hat, zu beriechen? Diese belanglose Geste öffnet den in unserem Innersten zusammengekauerten kindlichen Empfindungen die Tür. Und wie sehr streben wir die Wiedergeburt dieses Kindes im Liebenden an, im Erwachsenen, der in dem freigelegten Leben der Leidenschaft den Reiz dieser Ausströmungen entdeckt, die man natürlich nennt, weil die Erziehung alles daran gesetzt hat, sie zu denaturieren.

Wenig Leute riechen sich aus Liebe zu sich selbst. Aber die Liebenden, die ihren Speichel trinken, ihren Schweiß lecken und Tropfen für Tropfen die Gleitflüssigkeit und das Sperma auskosten, geben doch den Ton an. Leichten Herzens werfen sie die Sorge von sich, in der Nase der anderen nach Schwefel oder Weihrauch zu riechen.

Wenn das neue Fühlen einem intellektuellen Prozeß entspringt, würde lediglich die alte Kastration der Sinne erneuern. Auf der Kehrseite der verkehrten Welt zeichnet der Geruchssinn auch die Karte unserer sinnlichen Reichtümer, indem er die Vielfalt der unterdrückten und verantworteten Geruchserfahrungen wiederfindet. Es sind nur die toten Begierden, die stinken, doch es gibt keinen Widerwillen, aus dem nicht eine gehemmte Lust entsteigen könnte. Die Düfte sollen gegen die Schwüre des Interesses und die Verträge des Gefühls Eintracht und Zwietracht stiften. Das Gefühl, sich gegenseitig nicht riechen zu können, oder sich untereinander wohl zu fühlen, wird Situationen von beweglichen Stimmungen selbst in den Versammlungen der generalisierten Selbstverwaltung, der sozialen Ausdrucksform unserer Begierden, konstruieren.


Dort, wo Zwang und Tausch herrschen, gibt es keine Liebe. Jetzt, da die beiden ältesten Verbote unserer Geschichte ihren ökonomischen Charakter enthüllt haben, gibt man vielleicht zu, daß Onanie und Inzest der Beginn jeder authentischen Liebe sind.

Die Masturbation, von den Religionen für die Vorrangstellung, die sie der Lust einräumt, verdammt, hindert die Frau daran, Mutter zu werden und ihren Anteil an Sündern und Sünderinnen zu produzieren. Die bürokratisch-bürgerlichen Ideologien klagen in ihr das einsame Laster an, das die Gesundheit ruiniert, die Leistungsfähigkeit vermindert, die Kopfarbeit schwächt und einen taub für Befehle macht. Ihnen auf dem Fuße folgen die Staatsanwälte der Revolution, die die Onanie dem Mangel gleichsetzen, der Vereinsamung, der unmöglich gewordenen Begegnung, der ärmlichen Beziehung, die sich nicht bezahlt macht. Der alte Maulwurf arbeitet wirklich immer besser!

Das Elend dient Euch als Beweis. Ihr spottet über die Masturbation, weil Ihr in ihr nichts anderes sehen wollt als den bedauernswerten Reigen der Einsamkeit. Ihr betrachtet den Inzest nur als geheimen Kern der Familie, als das Laken der zugegebenen und verdrängten Ausschweifung, mit dem jeder sein Bett macht; ihr erahnt im Familienhaushalt diesen leidenschaftlichen Schatten, der dem schändlichsten Gebräu von Nation, Gruppe, Partei, Bruderschaft und sonstigen Gemeinschaften das Gewürz der Zärtlichkeit und die Schärfe der Liebe und der Wildheit beimischt. Eure Wahrheit ist immer die der Ware. Morgen proklamiert Ihr mit der gleichen Überzeugung die Notwendigkeit der Onanie und der rituellen Vereinigung mit der Mutter, wie Ihr gestern noch unaufhörlich die Wohltaten der Liebe in all ihren verkehrten Formen gepredigt habt.

Das meiste, was man unter der Spalte "Vermischtes" liest und was vom Belanglosen bis zum Dramatischen unsere alltägliche Existenz ausmacht, sind die Geschichten einer verkehrt gelebten Liebe. Wenn die Zärtlichkeit nicht umarmt, erstickt sie mit Wut. Ist es ein Zufall, daß die Gesellschaften mit hoher sexueller Verdrängung eine Vorliebe für die Hinrichtung durch Erhängen zeigen, als ob der Ring des weiblichen Geschlechts Quelle des Lebens, sich durch Verkehrung um den Hals legen und zudrücken würde, bis er den Tod erzeugt? Wie viele Liebkosungen sind in der monotonen Folge von Überdruß, Melancholie, Zwist, Sektierertum, Verachtung, Haß, Schlägen und Mord verdrängt! Die von der Moral unterdrückte Pädophilie bestreut die freien Gelände und die Familien mit der blassen Ernte von geschlagenen und vergewaltigten Kindern. Die Lust zu küssen und umarmt zu werden, wird zur Besitzergreifung des geliebten Objekts. Die Wollust, einzudringen und in sich eindringen zu lassen, gerät zum sado-masochistischen Opfer, in dem das Messer, der Pfahl, das Gewehr, die Verführung und das schlagende Argument die Überreiztheit der Ohnmacht zum Genuß abreagieren. Die Zoophilie treibt diejenigen, die sie mißbilligen, zur Jagd, zu Tierversuchen, zum Käfig, zur Zähmung und zum Militantismus, der all das in Frage stellt.

Die Vermenschlichung der Sitten bringt lediglich die Vermenschlichung der Ware zum Ausdruck. Weit davon entfernt, einen Sieg des Lebens aufzuzeigen, führen die Statistiken der Beruhigung über die zunehmende Blutarmut Buch, während das Absinken der Aggressivität ein Absinken des Drucks in den Adern des Willens zum Leben ausdrückt und die Leidenschaft der Zerstörung sich langsam in die Leidenschaft des Genusses, deren fortwährende Verkehrung sie war, mumifiziert.

Glückliche Menschen, nur weil sie Euch sonst überall fehlt, werdet Ihr die Liebe bald im Kopf haben. Glückliche Liebende, es wird der Tag kommen, an dem Ihr nicht mehr die traditionelle Schuld der Eifersucht, des Besitzes und des Tausches abzahlen müßt, jedoch leider nur deshalb, weil es keine andere Liebe mehr geben wird als die der Reden, Ideen, Techniken und Bilder, die die entsexualisierte Gesellschaft an die Stelle der Wirklichkeit des Körpers setzt.

Trotzdem ruft die gegenwärtige Agonie der Leidenschaften in uns nicht die Sehnsucht nach den Leidenschaften der Vergangenheit wach. Die Gewalt wird aus der endlich eroberten Kostenlosigkeit entstehen und nicht aus den Zuckungen des todkranken Überlebens. Wenn wir aufhören, das aus Mangel zu suchen, was wir aus dem Überfluß nehmen könnten, verschwindet die Verachtung für den Körper als Quelle aller Lüste gleichzeitig mit der Verachtung, die im Namen der Gesellschaft gegen das Individuum gelenkt wird.

Die Liebe für andere beginnt mit der Liebe für sich selbst. Sich streicheln und andere streicheln, ist das nicht der Anfang jeder authentischen Kommunikation, der Anfang jedes wirklich menschlichen Kontakts? Die Vernunft der Liebe macht sich über die Vernunft der Ware lustig.

Der Genuß löst die Trennung, die Pflicht und den Tausch auf. Er will eine Welt, die ihre Einheit von der Sprache bis zu den Gesten, von der Musik bis zu den Düften durch Liebkosungen schafft. Ahnt Ihr das nicht alles, wenn Ihr dazu kommt, ohne Gegenleistung zu lieben, wenn Ihr Euch nicht darum kümmert, geliebt zu werden, um zu lieben?

Wie könnte ich Dich streicheln, wenn ich auf entgegenkommende Liebkosungen warten würde? Die sich streichelnden Hände, Körper, Lippen und Geschlechtsteile, streicheln sie sich nicht in der Verschmelzung der Lüste? Schluß mit dem Jakobinismus, mit dem Terrorismus der Anständigkeit, der Kohärenz, des Schönen und des Häßlichen, Schluß mit diesen Urteilen, die aus der Mühseligkeit des Genusses herausgepreßt werden! Du gefällst mir? Gut, tun wir uns zusammen. Ich gefalle Dir nicht? Andere werden mit meinen Begierden harmonieren. Warum sich beleidigt fühlen und Bitterkeit empfinden, nur weil die äußere Anziehung fehlt? Worin sollte der eine, den ich liebe, besser oder schlechter sein als tausend andere? Ich fühle mich niemandem verpflichtet, weder den Frauen, die ich liebe oder geliebt habe, noch den Menschen, die ich nicht liebe. Eine Gesellschaft, die eine solche Basisbanalität nicht bis zum Ende fordert, verdient es, unter der Komplexität ihres Absterbens auseinanderzubrechen.

Der Zufall der Begegnungen richtet sich nach der Spitze der Begierde: ist sie stumpf, lädt sie zu lockeren Beziehungen ein, ist sie scharf reizt sie zum Spiel der großen Liebe. Aus der Vielfalt der Abenteuer muß die besondere Leidenschaft, die alle anderen ernährt, entstehen, denn es genügt, sie zu wollen, ohne um sie zu werben. Um meine Ziele zu erreichen, werde ich auf keine Leichtigkeit verzichten - angefangen mit der Revolution.


Die Haushaltung mit dem Leben hat dem Vergnügen zu essen, zu trinken und zu wissen den Virus des Preises eingeimpft. In ihrem wirtschaftlichen Puritanismus proklamierte die Bourgeoisie, daß man essen muß, um zu leben, und nicht leben, um zu essen. Die Reaktion der Ausschweifung, zu der uns die zugegebene Verzweiflung der Bürokratie führt, ändert nichts an der Rentabilität der Sache, wenn sie heute dazu ermutigt zu leben, um zu essen: sie paßt die alten Produktionsanregungen den Gesetzen des Konsums in jeder Preislage an.

Das Proletariat des neunzehnten Jahrhunderts hat es gezwungenermaßen so gut gelernt zu arbeiten, um sich zu ernähren, daß seine Erben leicht davon zu überzeugen sind, die vergangene Armut durch die Freßsucht der neuen Armut auszutreiben. Sich zu mästen ist zu einer Arbeit der Kompensation und der Verweigerung geworden. Der Mangel an Leben wird mit einer Anhäufungssucht abreagiert, wo Wein, Musik, Eindrücke, Bilder, Samen, Klöße in Dosen, Information, Drogen und Wissen verschlungen werden und letzten Endes dasselbe bleibt: eine Art, sich selbst zu erbrechen.

Der Tausch läßt alles, was er berührt, vermodern. Mit gefüllten Geld- und Magentaschen, aufgeblasen von der Wichtigkeit, die es durch alle Öffnungen eingesogen hat, stellt sich das von der Gesellschaft des Überlebens durchgesehene und verbesserte, "unersättlich das Absolute anstrebende Wesen" dar. Die Neigung zur Fülle hat sich in die Wut zu besitzen verwandelt, während das Bewußtsein, doch nie etwas anderes als Dinge zu besitzen, in jeden das abwesende Leben einträufelt. Die Angst vor der Leere entfacht einen lachhaften Wirbelwind, in den sich die alltäglichen Befriedigungen stürzen, kleinlicher Staub von antiken Orgien und Bauernfesten, wo ein Teil der Ernte verschwendet, verbraucht, verbrannt und der unmöglichen Kostenlosigkeit zum Opfer hingeworfen wurde.

Wir haben die Maßlosigkeit antiker Gelage verloren, ohne uns von ihrer Verkehrung zu befreien, ohne den Tisch des Willens zur Macht zu verlassen und den Knochen der Rivalität zwischen dem, der frißt, und dem, der gefressen wird, zu brechen. Sagt mir, worin sich Trinken, Ficken, Reden um zu beweisen, daß man ein Mann, eine Frau, ein Chef ist, von der Arbeit für einen Boß unterscheidet. Da ihr alles dem Mangel entnehmt, hat Euch der Unmut nichts anderes gelassen als die Gier der Besitzer, die Sättigung der Schuldigen und die Ausschweifung der Christen.

Durch die vielen Kompensationen und bezahlten Vergnügen mit Schuldgefühl gemästet, halten die meisten es für eine unbestreitbare Wahrheit, daß der Exzeß der Leidenschaften zur Erschöpfung und zum Tod führt. Mist! Es ist niemals der Exzeß, der tötet, sondern das, was ihm entgegenarbeitet, angefangen bei dem Schuldgefühl.

Unter dem "Bonvivant" schnauft schon der Leichenträger. Der Esser des zwanzigsten Jahrhunderts betritt das Restaurant, wie er das Bordell betritt - mit den Mitteln, zu bezahlen, sich zu erleichtern, die Nahrung seiner Ängste zu vergessen. Das, was bei einer Mahlzeit, wo das Geld die Soße versalzt und den Wein verdirbt, an Vergnügen übrigbleibt, verdünnt sich im Cholesterin, wird in der Galle sauer und zur fixen Idee des Infarkts. Armes Leckermaul, armer Feinschmecker, Ihr fühlt Euch nie wohl und eßt aus der Schüssel des Todes.

Die Krankheit begleicht die Rechnung Eurer Angst zu genießen. Die Störungen des Organismus rühren nicht von einem überschwenglichen Leben her, sondern von dem panischen Schrecken, den dieses Leben uns zum Trotz hervorruft. Das Entsetzen vor dem Glück ist noch größer als das Entsetzen vor der Verzweiflung. Wozu es verneinen, wenn uns doch alles dazu bestimmt? Wozu es mit den Gesten der intellektuellen Magie, die die gewöhnliche Scharlatanerie der Warenabstraktion ist, austreiben?

Was bleibt von den vergänglichen Freuden, bei denen Mädchen und Jungen sich den Bauch mit Specksuppe, Kapaunen, Fischragout, schäumendem Bier, Lachen, frischem Wein, Umarmungen und Liedern vollschlugen? Es bleibt die Gastronomie, die Kunst, die Bauernrezepte zu verfeinern, die Erfindung des Natürlichen durch die Ökonomie, der von den denkenden Köpfen bezahlte Bauch.

Die gastronomische Arbeit hat ihre Hand- und Kopfarbeiter, ihre Abonnenten der Konservendosen und internationalen Futterkrippen, ihre Vorkoster von selten und teuer gewordenen Banalitäten, ihre Söldner der feierlichen und rustikalen Tafeln und ihre tüchtigen Esser mit ihrem Mißmut und ihrer Kritik. Die entsexualisierte Kunst des Essens und Trinkens ist lediglich eine falsche Lust und die Lust des Falschen.

Das gleiche gilt für das Wissen, wo die intellektuelle Ignoranz die Ignoranz des Gewöhnlichen entthront hat. Der Obskurantismus bekommt unter der Fahne des Fortschritts eine neue Haut. Immer mehr und mehr Dinge zu kennen, enthebt einen von der Erkenntnis seiner Begierden. Die "intelligente" Integration in Gesellschaft, Tausch und die Gesetze des Willens zur Macht füllt die unerschöpfliche Abwesenheit des Ichs. Die Neugierde auf sich hat keine andere Nahrung als die polizeiliche Inquisition. Da die Ware nichts Menschliches hat, aber alles über das Menschliche wissen will, um es noch weiter zu reduzieren, wird die Wissenschaft der Autopsie unterstellt; das Skalpell entdeckt nichts, was nicht im Zustand des staatlichen Kadavers wäre.


Das, was man aus Überfluß und Kostenlosigkeit nimmt, ist immer etwas Gutes. Wie lange noch wollen wir den Preis dulden, dieses Schandmal, das Wesen und Dingen aufgezwungen ist? Zeigt sich nicht die gleiche fundamentale Unmenschlichkeit in der Zwangsläufigkeit, ein Gelage mit frischen Trüffeln einerseits mit Geld und andererseits mit dem absurden Risiko einer Leberkolik zu bezahlen? Viel zu viel Angst und Abreaktion liegt in dem heimlichen Diebstahl, der unseren Freitischen vorausgeht. Wenn die Liebe zum Leben mit der Weigerung zu bezahlen anfangen soll, dann soll das endlich in der Universalität des Geschenks geschehen. Dazu genügt allein die Liquidierung des Staates und die Vernichtung der Ware, die ich nicht so sehr in der Wut der Unterdrückten sehe als vielmehr in den Gelegenheiten eines unwiderstehlichen Willens zum Genuß, einer Neigung der Lüste, sich ohne Rückhalt auszubreiten, und des genüßlichen Traums, in dem die Straßen zu Küchen werden, die Paläste sich in Weinkeller und die Kathedralen in Herbergen verwandeln und sich die Landkarten wie Speisekarten lesen.

Der Skeptizismus ist nichts weiter als die traditionelle Nahrung der Selbstverachtung. Ich trinke auf die Kostenlosigkeit und ich lade Euch ein, die Ente des Zweifels im Alkohol des sexuellen Überschwangs zu verbrennen.

Nichts von dem, was die Leidenschaft hervorruft, wird durch Zwang oder Knauserei gelernt. Nur die Begierde lehrt zu leben. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Rede, die die Worte abwägt und zurückhält, damit man ihre Autorität erkennt, weiß die Begierde in der Kunst des Schweigens jedem seinen Weg zu lassen. Im Gegensatz zur Pflicht der Transparenz, zur Selbstkritik und zu jener sich darstellenden Wahrheit, der schlimmsten aller Lügen, verbreitet sie ohne Grund Klarheit über sich und die anderen.

Von nun an wollen wir die Kostenlosigkeit des Wissens erleben, das uns aus allen Windrichtungen angeboten wird, im Zufall der Wandzeitungen, im Überfluß der Äußerungen, geschrieben, gesungen, gezeichnet und pantomimisch dargestellt in einer endlich freien individuellen Schöpfung, die mit der unzähmbaren Phantasie ihrer Begierden und Verwandschaften letzte Hand an die Auflösung der Erziehung und der Information legt.

Ich ersetze die Selbstverachtung durch die Ausdehnung des Ichs, die Besitzergreifung durch die Begehrlichkeit und die Unbefriedigtheit durch das Unersättliche.


3.DIE LUST ERSCHAFFT DAS LEBEN

Wir verlassen allmählich die Vorgeschichte der Begierde. Das Alibi der Lust war die letzte Grabrede unserer Entfremdung, der selbstmörderische Genuß die letzte Bastille der verkehrten Welt. Zu wissen, daß uns das Gefängnis überall einschließt, verheimlicht nicht länger, mit welcher Leichtigkeit wir es von innen aufsprengen werden.

Je mehr die große Mauer der Ware sich bis zum Verlust des Lebens ausdehnt, desto mehr Risse bekommt sie. Mit jedem Tag der Krise vermehrt die Ökonomie die Breschen, durch die die Leidenschaft zum Genuß hinausstürzt und die Mauer bis auf die Grundfesten niederreißt.

Wir wollen keine Wollüste mehr, die unter Zwang, Schuld und Fron stehen. Wir wollen keine Lüste mehr, die von der globalen Sexualität getrennt und vom allgegenwärtigen Körper des Willens zum Leben abgeschnitten sind. Da die Liebesumarmung, ewiger Zeuge des Lebendigen, die Entfernung und die Zeit abschafft, da die Genüsse langsam das sie Verneinende durchschreiten und wir zur gemeinsamen Quelle, zur fundamentalen Einheit des Lebens zurückkehren, halten wir es für absolut sicher, daß das Primat der Kostenlosigkeit für immer davon entbindet, zu regieren und regiert zu werden, zu strafen und bestraft zu werden, zu vergewaltigen und vergewaltigt zu werden, zu richten und gerichtet zu werden. Allein ihre Bewegung vernichtet die Dialektik des Todes, die das Überleben leitet.

Freuden der Faulheit, der Beharrlichkeit, der Begegnung, der Einsamkeit, der Musik, der Schöpfung, Freude des Redens, des Schweigens, des Lachens, des Scheißens, des Träumens, des Sichumarmens, des Weinens, des Pissens, des Schreiens, des Streichelns, des Feuchtwerdens, des Ejakulierens, des Springens, des Rollens, des Kostens, des Riechens, des Berührens, des Sichtreffens und Sichentfernens, Freuden nicht des Überlebens, sondern des Lebens wie es Euch gefällt, Ihr genügt Euch selbst, da Ihr am sinnlichen Wirbelsturm teilnehmt, in dem das Lebendige nicht mehr den Tod vorausahnen muß, es sei denn einen endlich natürlichen Tod, so weit entfernt, daß er aus dem sorglosen Vergessen der Existenz fließt wie aus dem Herzen jahrhundertealter Bäume.

Die Trennung hat die meisten Freuden auf Vermittlerrollen reduziert, sie hat aus ihnen Träger zur Erreichung anderer Dinge gemacht. Wenn der Tanz, anstatt die Freude des Körpers auszudrücken, dazu dient, eine Beute zu faszinieren und zu verführen, wenn die Zärtlichkeiten ihr Spiel dem programmierten Pfad der Paarung unterordnen, zerbröckelt die Vielfalt des Lebendigen in nach Leistungsnormen klassifizierte Produkte.

Ich werde aus den Lüsten keinen Weg zur Revolution machen, ich werde nicht Stellung gegen diese Ungeduld beziehen, die Euch den Vorwand geliefert hat, das Leben nicht zu wagen, als ob das wahre Leben erst am Tag nach dem großen Abend der Revolution anfinge. Es ist Zeit, daß die Lüste sich selbst genügen, da ihre Authentizität, ihre Einheit und ihre unerschöpfliche Vielfalt lediglich von der Freude abhängt, mit der ein jeder das Leben, das er in sich trägt, erschafft.

Warum noch weiter den Willen zum Leben aufschieben, in dem mein Schicksal endlich dem entgeht, was es unaufhörlich gehemmt hat? In der hier und jetzt eingeleiteten Befreiung meiner Lüste schlägt der ungetrübte Entschluß Wurzeln, mit der Warenzivilisation ein Ende zu machen. Ich suche nicht nach der Revolution, ich habe die Mittel, sie zu finden, indem ich die Freuden des Lebens, zu denen ich ohne Rückhalt neige, verwirkliche.

Das Ende der Vermittlungen ist der Anfang der individuellen Autonomie. Meine Begierde hat keine Stellvertreter. Sie steht im Mittelpunkt einer Subjektivität, deren Ausstrahlung langsam den alten Panzer des Charakters auflöst, eine Burg, die mehr einschließt als daß sie schützt, eine verinnerlichte Unterdrückung und ein Belagerungswahn, der schlimmer ist als der Feind, der draußen herumstrolcht. Manchmal scheint es mir, daß mich die Flüche, die ich in mir trug, nur noch von außen treffen und ich habe jetzt die Mittel, ihnen die Stirn zu bieten.



VII.DIE AUTONOME BEEREIUNG DER INDIVIDUEN IST DIE EINZIGE GRUNDLAGE DER KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT


1.DER WILLE ZUR MACHT IST DIE UMKEHRUNG DES WILLENS ZUM LEBEN

Die Entdeckung des Individuums fällt mit seiner Verkümmerung zusammen. Das Individuum ist die schönste Errungenschaft der Bourgeoisie: in der letzten Entwicklungsstufe der Unmenschlichkeit der erste Entwurf einer wirklichen Menschheit. Hier haben wir sie: die demutsvollen Geschöpfe der Spirochäte aus Nazareth, des Bandwurms aus Mekka und der buddhistischen Krätzmilbe sind in der gesellschaftlichen Zersplitterung, die auf den Monolithismus der Stämme, der theokratischen, feudalen, despotischen oder monarchistischen Regimes folgt, an die Oberfläche des Bewußtseins gelangt, nachdem sie aus dem religiösen Obskurantismus herausgerissen wurden, um in das Elend der Aufklärung zu gelangen. Sie stoßen die göttliche Blähung, die ihnen den Bauch verstopfte, aus, um das geschichtliche Aussehen eines Staatsbürgers, eines Produzenten, Denkers, Militanten, eines verantwortlichen Proletariers anzunehmen.

So entsteht im Windstoß der Epoche das abstrakte Individuum aus der Warenkonkretisierung und ihrer stufenweisen materiellen Ausscheidung. Den Kopf in der Geburtszange der Ideologie eingeklemmt, läßt das Individuum die allgegenwärtige Trennung zwischen Ökonomie und Leben in sein Fleisch eindringen. Seine innere Zerstückelung reproduziert die gesellschaftliche Zersplitterung und die Illusion seiner irdischen Macht hebt ihn bis in den Himmel der Ware, während seine Proletarisierung deren Hölle enthüllt.

Wenn das Individuum Anspruch auf seine Individualität und unreduzierbare Subjektivität erhebt, so noch über den Umweg dieser Abstraktion, die der universelle Schatten des Tauschwertes ist. Das ideologische Individuum kann nichts anderes aus sich schöpfen als die Ohnmacht zum Leben, die nicht mehr durch die mythische Macht der Götter und auch nicht durch die wirkliche Macht des Staates gelindert oder garantiert werden kann.

Im vorindustriellen Zeitalter verfügten die meisten Leute über eine zwar relative, aber wirkliche Autonomie innerhalb der gesellschaftlichen Abstraktion, die diese verneinte. Unter der Herrschaft der bürokratisch-bürgerlichen Klasse besitzen wir kaum noch eine abstrakte Autonomie, wir besitzen nichts weiter als die Autonomie der Ware, deren Verflüssigung im Maßstab des abnehmenden Lebens steigt.

Die Plage der überall verbreiteten Arbeit hat den Mangel an proletarischer Differenzierung verallgemeinert und als Gegenschlag die Sehnsucht nach der individuellen Kraft wieder aufleben lassen. Aber die Zeit der Kondottieri ist vorbei. Der Faschismus, der Stalinismus und der Militantismus haben die Totenglocke einer Epoche geläutet, in der die kleinen Menschen aus dem letzten Schubfach ihrer Mittelmäßigkeit das herauskratzten, was ihnen nutzen sollte, sich mit einem Volk, einem Führer oder einer Sache zu identifizieren. Der ökonomische Reflex ist so weit fortgeschritten, daß der Kult der "großen Sache", wie jeder weiß, nur noch ein offenkundiger Werbetrick der staatlichen Verpackungsabteilung ist.

Wie sollte sich zu einer Zeit, in der die Staaten wie Trusts und ihre Führer wie Werbepromoter funktionieren, der Wille zur Macht nicht die Zähne an der hierarchischen Ausbreitung ausbeißen, am Rückgang der Macht, der durch die totalitäre Zersplitterung der Bürokratie verursacht wird?

Als anmaßende Kinderklapper der individuellen Nichtigkeit kann der Wille zur Macht nicht länger verheimlichen, was er immer war: das auf die Konkurrenzwirtschaft reduzierte Leben. Weder das Gesetz des Stärkeren noch das des Schlaueren, die, wie man sagte, über die Welt herrschen, hat sich geändert. Es hat lediglich dieselbe Entwicklung wie die Arbeit, der Tausch und das Schuldgefühl durchgemacht: es hat sich intellektualisiert. Wenn das Subtile allmählich die brutale Kraft ersetzt, so bleibt sein Recht doch dasjenige des Stärkeren, da es die Tyrannei des Tauschwertes zum Ausdruck bringt.

Die Lüge der Intellektualität trifft das Individuum, dessen Leben sie mit Bildern, Ideen und Rauch ausfüllt, und gleichzeitig die Gesellschaft, die sie in ein Kultursystem verwandelt. Dabei sind die Wechselfälle der proletarischen Befreiung ihrer gegenwärtigen Denunzierung sicher nicht fremd. Haben die Proletarier die Aufopferung ihrer Autonomie nicht doppelt bezahlt? Sie haben auf das verzichtet, was ihnen an Leben übrigblieb, um sich mit dem zu behaupten, was ihnen an Macht übrigblieb, den kompensatorischen Nachäffungen des Willens zur Macht wie Familienautorität, Prestige des Mannes, Heldentum des Militanten und dem Nervenzucken des Chefs. Sie haben die Koordinierung der Kämpfe mit dem Machtgedanken verwechselt, der in Wirklichkeit einer führenden Clique das Opfer aller darbrachte. Durch die Wahl führender Köpfe hat die Revolution ihren Körper in den Fabriken und auf den Barrikaden liegengelassen. Vermittler sind nur auf Kosten der Freiheit wirksam.

Was grausam macht, ist die Verwandlung des Willens zum Leben in den Willen zur Macht. Das Kräfteverhältnis zehrt von der ständigen Frustration der verkehrten Lüste, während die Kunst zu genießen sich von der ohne Gegenleistung empfundenen Lust nährt. Deshalb ist die Grausamkeit zur gewöhnlichen Knauserei des Menschen ohne Eigenschaften geworden.

Die bürokratische Herrschaft hat aus dem Willen zur Macht einen Wettstreit um Bindfadenstücke, eine dunkle Vereinsmeierei und einen Hausmeistermachiavellismus gemacht. Die listige Karrieremacherei, das geschäftige Sichdurchschlagen und die individuelle Suche nach Tricks und Schlichen zum Überleben sind der einförmige Spiegel der neuen Warengesellschaften.

So wie er ist und bleiben wird, endet der Geist einer Zivilisation von Handelsreisenden, die die Ware überall dort an den Mann bringen, wo die Ware sie hingestellt hat.

Während die kleinen Grausamkeiten des Überlebens die Illusion der Existenz aufrechterhalten, weist der Zusammenbruch der traditionellen Arbeiterbewegung jeden einzelnen auf sich selbst und auf die Wahl zurück, sich entweder in einer Intellektualität aufzulösen, die bloß der letzte Zustand des Willens zur Macht ist, oder den eigenen Willen zum Leben durch die Befreiung der Lüste zu verstärken.

Die Antwort, die die Geschichte der Autonomie auf dem Weg zu ihrer eigenen Entdeckung gibt, ist günstig. Das Scheitern der Revolution lag niemals an einem Mangel an Organisation, sondern an der selbstverschuldeten Unfähigkeit der Individuen, jede Organisation abzuweisen, die ihrem Willen zum Leben fremd war. Das geringe Vertrauen der Proletarier auf ihre Fähigkeit, das Proletariat abzuschaffen, ist nichts weiter als das Ergebnis der Kopfarbeit, deren Nagen jeder im alltäglichen Leben des Körpers beobachten kann.

Die Vorstellung, daß wir nichts selbständig können, hat uns, an Händen und Füßen gebunden, der Macht der alten Welt ausgeliefert. Von dem Augenblick an, in dem wir spüren, daß keine staatliche Macht den Aufschwung der individuellen Genüsse eindämmen kann, wird die kollektive Flut alle unsere individuellen Entscheidungen vereinigen.


2.UNSERE WAHL EINER GESELLSCHAFTSFORM HÄNGT VON DER INDIVIDUELLEN WAHL ZWISCHEN DEM TOD UND DER UNBEGRENZTEN ENTFALTUNG UNSERER LEBENSBEGIERDEN AB

Indem sie die Arbeit und die Hierarchie abschafft, ist die Schöpfung die Grundlage der generalisierten Selbstverwaltung. Während das von den anderen und von sich selbst getrennte Individuum dazu neigt, keine andere Intelligenz als das Warenbewußtsein - als Reich der intellektuellen Funktion und Fabrik der Arbeit "Kapital" - zu haben, leitet die Einheit der kostenlosen Genüsse die Herstellung einer individuellen und kollektiven Einheit ein, die das Ende des gesamten gesellschaftlichen und körperlichen Systems der Ware impliziert.

Mein Wille zum Leben, wie zögernd er auch immer sein mag, ist auf dem Weg, die Funktion aufzuheben, die mir im Namen der Gesellschaft und in meinem eigenen Namen von der Ökonomie innerhalb des mich verneinenden Mechanismus zugeteilt wird. Schon werden die Chefs, die Herrschsüchtigen, die Stars und Menschenführer jeder Schattierung im Vorbeigehen mit einem Lachen begrüßt. Es wird eine permanente Komödie gespielt, in der dieser oder jener die Hierarchie beschimpft und dabei Frauen wie Objekte behandelt, das Spektakel denunziert und Männchen macht für einige Hunde, in der er über die Passivität spottet und niemals seine neurotische Schale abwirft. Die Angst des Chefs davor, als jämmerliche Figur zu enden, verleiht der alltäglichen Posse von Macht und Gegenmacht ein unerschöpfliches Register der Drolligkeiten. Schaut sie Euch an, diese armseligen Erzeugnisse der Warenüberproduktion, wie sie sich aus Angst davor, daß man ihnen Achtung einflößen könnte, selbst aufdrängen; wie sie Schuldbewußtsein produzieren, da sie befürchten, selbst bei einem Fehler ertappt zu werden; wie sie andere terrorisieren, um nicht selbst zittern zu müssen. Zur Poesie der Größe und der Demut, der Stärke und der Schwäche, des Erfolgs und des Mißerfolgs verdammt, müssen sie sich selbst zum Trotz um jeden Preis den Beweis dafür liefern, daß sie "lebendig" sind.

Die von einem Individuum beanspruchte Autorität ist das Maß für die Quantität der ihm zuteilgewordenen Demütigungen, während der Geschmack, den es an der Macht findet, seine Ohnmacht zum Genuß wiedergutmacht. Doch wie kann man genießen, wenn man daran arbeiten muß, diejenigen hochmütig zu behandeln, die man auf die eigene Ebene herunterzieht, wenn man fortwährend schuften muß, um den Schein zu wahren, da man zusammen mit ihm sein Leben verlieren würde? Ein solches Individuum hat die Pensionierung wohl verdient, in die es von der Enttäuschung geschickt wird, um sich die bitteren Vergnügen der alten Welt zunutze zumachen, sich die Kompensationen der Tugend gefallen zu lassen und zum endgültigen Ausgleich einzuräumen, daß die bezahlten Wollüste schließlich genauso viel wert wie andere sind.

Der kleine Staatsanwalt, über den Ihr spottet, trampelt immer noch in Euch herum, wenn Ihr in allen Tonarten ausposaunt, man müsse autonom sein. Spürt Ihr nicht endlich, daß der Mangel an Autonomie von der fixen Idee abhängt, man müsse sich ununterbrochen messen, sich selbst mit lauter Herausforderungen programmieren, jeder Anforderung nachgehen und sich in das Gesetz von Leistung, Pflicht, Versprechen und Repräsentationsrolle fügen?

Nichts ist jedoch so leicht, wie die Perspektive umzukehren und sich dem Selbstgenuß so weit hinzugeben, bis man sich keine Sorgen mehr über die Art und Weise macht, wie man unter Leute geht; bis man die alte Welt auch gesellschaftlich ausstreicht, so wie man sich schon daran gemacht hat, sie aus der eigenen alltäglichen Existenz auszutreiben. In ihrem Entschluß, die Kostenlosigkeit voll auszuschöpfen, haben die Leidenschaften mehr Scharfsinn als alle Lehren der Strategie und Taktik. Dort kommt deutlich zum Vorschein, daß die Autonomie nichts mit jener Zurückhaltung gemein hat, in der einer das ist, was er hat, nichts mit jenem Individualismus, in dem man die eigene Entfremdung wie ein unveräußerliches Gut beansprucht, und letztlich nichts mit jenem aneignenden und enteigneten Ich, das zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit pendelt, zwischen der Macht dessen, was es verneint, und der Ohnmacht dessen, was es behauptet.

Wie ärgerlich, den da nicht am Kragen packen zu können, sagen die aus dem anderen Lager. Du glaubst, ihn überzeugt zu haben und er entwischt Dir. Wie soll man ihn begreifen und Vertrauen zu ihm haben: er stimmt Dir zerstreut zu, um danach die Meinung zu wechseln. Ach, was habe ich mit Euch zu tun, Ihr Schatten, die Ihr aufgestellt seid, um mich an der Kehrseite meiner Begierden zu fassen, um mich zu definieren, zu beurteilen, zu verstehen, zu lenken? Würdet ihr nur die Verwirklichung Eurer Lüste beabsichtigen, so wäre es Euch egal, ob ich mit Euch einverstanden bin oder nicht. Ihr würdet Euren Weg mit der Gewißheit gehen, daß es unnütz ist, sich zu kennen, um sich in einem identischen Willen wiederzuerkennen.


Durch die Abschaffung der Schuld leitet der Selbstgenuß die generalisierte Selbstverwaltung ein. Wenn es ein Verlangen danach gibt, unglücklich, geschlagen, unterdrückt, beherrscht und gedemütigt zu sein, dann ist es nur die Verkehrung des Verlangens danach, in Glück und Liebkosungen, Freiheit und Selbständigkeit zu leben. Der Warenimperialismus ist nichts anderes als die gegen den Strich geführte und gegen sich selbst gerichtete Entfaltung des Ichs.

Wir haben dem Fluch, der uns eintrichtern wollte: "Allein bist Du machtlos, ohne die Gesellschaft bist Du nichts!", ein Ende gesetzt. Wir akzeptieren es nicht mehr, daß die Einsamkeit mit der moralischen Verbannung, der Ausweisung aus der Gemeinschaft, dem Bruch des gesellschaftlichen Vertrags und der Sühne des räudigen Schafs und des Sündenbocks identifiziert wird. Der Sippenterrorismus mag weiter proklamieren, daß es außerhalb der Kirche, der Partei, der Familie, der Gruppe und des Gesetzes kein Heil gibt - wir wissen nun, daß die seinen Schäfchen zugedachte Hoffnung weniger rentabel ist als die spektakuläre Verzweiflung des Ausgeschlossenen, des Dissidenten, des Ketzeroberhauptes und des Vereinsamten.

Das wirklich Traurige der Einsamkeit hängt damit zusammen, daß man in ihr, weit davon entfernt, mit sich selbst allein zu sein, die schlimmste Gesellschaft, die verinnerlichte Anwesenheit der anderen, das Sippengesetz, erdulden muß. Wie kann man sich allein fühlen, solange man vom eigenen Doppelgänger weiter als Staatsbürger, Militant, Chef, Intellektueller oder Opfer der Verdrängung heimgesucht wird? Das entfremdete Individuum kennt die Einsamkeit lediglich auf der Kehrseite des eigenen Ichs, in seinem angsterfüllten Festhalten an dem, was es vom Genuß entfernt. Die Entdeckung, daß es aus dem eigenen Leben verbannt ist, wundert es anfangs weniger, als plötzlich von dem getrennt zu werden, was es zum Sklaven macht. Es hat mit einer solchen Kraft an seine Trennung geglaubt, daß es sterben muß, wenn es sich von ihr trennt. Ist es den entfremdeten Individuen, gestützt auf ihre verschiedenen Gemeinschaftsformen wie Nation, Partei, Armee, Klasse, jemals besser als irgendeinem einsamen Wahnsinnigen gelungen, die Geschichte abseits der Weichen der Ware zu orientieren? Ob sich die von der Ökonomie kastrierten Menschen isoliert oder in Herden verteilt wiederfinden, wo ist da der Unterschied? Und was macht das schon, von einer Familie ausgeschlossen zu werden, die zur Selbstverbannung verdammt?

Durch die Umkehrung der Perspektive wird der Einsamkeit durch Mangel eine Einsamkeit der Überfülle, eine Begierdenfülle, eine Steigerung des Lebens und seines Bewußtseins, die die Spontaneität der Autonomie selbst ist, entgegengesetzt.

Die gewählte Einsamkeit lehnt die Welt der aufgezwungenen Einsamkeit ab. Sie lehrt mich zu leben, weder besser noch schlechter als Ihr, aber ohne Vergleiche. Geboren werden heißt sich das unveräußerliche Privileg gönnen, all seine Lebensbegierden zu verwirklichen. Ich lerne allein, sie zu entdecken, sie von der Verkehrung zu befreien und zu verwirklichen. Ich lerne es, keine einzige zu verdrängen.

Die Vorstellung, nach der man seine Meinung durchsetzen muß, ist das Mal des ökonomistischen Verhaltens. Die Ware hält die Fäden des Konkurrenzkampfes immer in der Hand. Die Rückkehr zu sich selbst schlägt all die Siege der Selbstdarstellung in den Wind. Ich habe nichts zu beweisen, ich bin kein Vorbild, nach dem man sich richten soll, und Eure Wettbewerbe sind mir scheißegal. Möge mich das zumindest vor der Krankheit schützen, die die ersten Schritte der Autonomie bedroht! Bewahrt mich vor der Enttäuschung dessen, der auf ein Echo seiner Handlungen hofft und in der Wüste ausruft: "Gibt es in Euch kein Verständnis für das, was ich wage, gibt es nichts in Euch außer der ungeheuren Lächerlichkeit des Lobs und des Tadels?" Denn alles wird dem gegeben, der nichts dafür erwartet.

Indem ich immer empfindlicher für das werde, was ich will, mache ich mich unverwundbar gegenüber dem, was auf mich einschlägt. Der Elfenbeinturm ist nur eine Figur auf dem Schachbrett der Macht. Es geht nicht mehr darum, sich abzukapseln, sondern darum, zu sich selbst zu finden, ohne sich umzudrehen. Es ist egal bis zu welchem Punkt der Verzweiflung Ihr mich treiben könnt, ich werde mich immer weigern, am Leben zu verzweifeln. Nichts kann mir genügen, und wenn Eure Not zum Gesetz geworden ist, dann spüre ich nur die Lust in mir, sie zu brechen. Ich habe genug damit zu tun, mich leidenschaftlich mit Verrücktheiten zu beschäftigen, als daß ich mich mit der Weisheit zufriedengeben könnte.

Die mit Intensität erlebte Begierde verwirklicht sich immer, sie kommt auf den Flügeln der Zeit an dem Tag an, wo ihr Denken sich in der spontanen Handlung auflöst. Wenn es beschlossen hat, für sich zu leben, lebt nichts von dem, was lebt, allein.


Die Autonomie legt der generalisierten Selbstverwaltung die Harmonisierung und Befreiung der besonderen Begierden zugrunde. Jedes Kräfteverhältnis impliziert die Selbstverachtung, den eilig kompensierten Mangel und die Verkehrung, in der sich jeder selbst anderweitig lebt.

Die Trennung ist für den Todesreflex das, was der Unterschied für das Leben ist. Je mehr sich die absolute Unterschiedlichkeit jeder Existenz als die Gesamtheit der besonderen Begierden behauptet, desto mehr neigt die Trennung zur eigenen Auflösung - darin täuscht sich unsere Epoche kaum. Während die Leute auf die Anonymität von Gegenständen reduziert sind und mit einer abstrakten Individualität ausstaffiert werden, war noch nie so viel die Rede vom Recht auf Besonderheit.

Der intellektualisierte Unterschied ist die letzte Trennung einer Welt, die den authentisch erlebten Unterschied nie geduldet hat. In einer Welt, in der die auf der Bühne des Alltags übernommenen Rollen einen solchen Verlust an Leben, eine solche Verdrängung und eine solche Frustration beinhalten, verurteilt sich die Kompensation durch Abreaktion zur immer schnelleren Reproduzierung und Erneuerung der alten Formen des politischen, ästhetischen, geographischen, erotischen und kulinarischen Rassismus. So werden in der Reihenfolge der Moden Juden, Schwarze, Rote, Weiße, Gute, Schlechte, Schöne, Häßliche, Normale und Anormale verurteilt und rehabilitiert, wobei sich die sogenannten Revolutionäre davor hüten, mit ihren Ausschlüssen und Beitritten, ihren Verrätern und Stars, ihren Tadeln, Radikalitätszeugnissen und Volksgefängnissen eine Ausnahme zu bilden.

Das ergänzende Produkt setzt der absurden Wut der Welt seinen Humanismus der charakterologischen Toleranz entgegen, so daß man der Personalisierung der Schnecke durch ihr Gehäuse, dem spontanen Geständnis des "Ich bin eben so, daran ist nichts zu ändern" beiwohnen kann. Als ob die Besonderheit mit der Eigenart des Charakters, diesem in der Unterdrückung der Begierden geschmiedeten Panzer und vulgären Kleiderständer der Rollen, verwechselt werden könnte.

Wollen wir nicht gerade jetzt, wo die Geschichte der Ware zeigt, daß sie die umgekehrte Geschichte der individuellen Entfaltung ist, den spezifischen Charakter der Lebensbegierden anerkennen und zugeben, daß jeder Mensch etwas Besonderes ist, das sich weder auf Vergleiche, Maßeinheiten noch Definitionen reduzieren läßt?

Was sie noch von Dir erwarten, ist, daß Du genügend auffällige Merkmale aufweist, um verkauft zu werden, genug Einförmigkeit, um absetzbar zu sein; dann schwankst Du je nach dem Zufall des sozialen Angebots und der sozialen Nachfrage, da Du nichts durch Dich selbst bist.

Nicht nach dem eigenen Charakter, sondern im Überschwang der Begierden zu leben - was für ein schreckenerregendes Projekt! Wirst Du besser leben, weil die öffentliche Meinung Dich für sympathisch, schön oder klug hält? Wirst Du schlechter leben, weil sie Dich schwachsinnig, häßlich oder ehrlos findet? Wenn ja, dann mußt Du Dich eigentlich um die anderen kümmern, denn Du bist durch sie da, Du gehörst ihnen und hast es nötig zu verführen, zu unterdrücken, zu gehorchen und vor Dir selbst zu fliehen.

Wenn nicht, dann laß die vorgefertigten Bilder Deines guten und schlechten Rufs ruhig zerfließen und undeutlich werden. Du brauchst Dich nicht mehr selbst zu belügen, sobald Du jedes Interesse daran verloren hast, in der Öffentlichkeit aufzutreten, Dich affektiert für Familie und Geschichte zu zieren und vor diesem Abbild, das nichts anderes ist als Dein entfremdetes Abbild, zu zittern.

Du sagst, die öffentliche Meinung habe ihre Totschläger und ihre Gefängnisse? Nun, wenn wir damit angefangen haben, die inneren Gefängnisse niederzureißen und die auf der Lauer liegenden Totschläger des Über-Ichs abzuknallen, fallen die äußeren Gefängnisse und Totschläger wie damals die Bastille. Man erreicht alles, wenn man an nichts zweifelt.

Nur durch mich und für mich bin ich für immer einzigartig. Euer eifriges Bemühen, mich zu erklären, hantiert allzu leicht mit dem Seziermesser der Obduktion und Abreaktion. Es gibt keine größere Neugier auf mich als meine eigene und wenn Deine Zärtlichkeit mir auch helfen kann, klarer zu sehen, bleibe ich nicht der einzige, der etwas Klarheit aus dem Dunkeln ziehen kann?

Nichts gefällt mir mehr als zu sehen, wie sich die Menschen und die Leidenschaften in mir und um mich herum harmonisieren. Ich strebe Verwandtschaften an, die sich ohne Bruch und im launischen Rhythmus der Begierden knüpfen und auflösen, indem sie auf völlig kostenlose Art und Weise den argwöhnischen Ticks des Willens zur Macht entgehen, ohne daß der Frustrationsreflex seine bitteren Krallen auf die Abwesenheit eines geliebten Wesens setzt.

Ob jeder seine Geschmacksrichtungen und Abneigungen, seine Übereinstimmungen und Uneinigkeiten behält oder ob er sie ändert, was macht das schon, solange nur das üppige Leben und nicht der mit all den Bojen der Trennung belegte Tod herrscht. Und wenn alte Hemmungen mich bei dieser oder jener Wahl beeinflußt haben, so zwingt mich nicht, sie aufzuheben: sie haben mich weder mit Haß, Angst noch Mangel erfüllt, Eure Befehle und Anregungen hingegen können solche Emotionen sehr wohl in mir hervorrufen.


Es gibt keine Harmonie ohne eine unreduzierbare Autonomie. O du mein Wille, gib mir unzählige Begierden, sowie die Freude, sie alle zu verwirklichen! Und möge die Revolution so sicher uns gehören, wie sie mir gehört.


3.DIE AUTONOMIE KENNT NUR EINEN IMPERATIV, UND ZWAR DEN, ALLE IMPERATIVE ZU ZERSTÖREN. DIE ENTFALTUNG DES ICHS WIRD DIE INTERNATIONALE REVOLUTION AUSLÖSEN

Die individuelle Selbstverwirklichung kennt ihre Grenzen und erkennt keine an. Die Umkehrung der Perspektive löst in jedem einzelnen den ätzenden Nebel der Arbeit und des Zwanges auf. Jeder, der der Macht der Ökonomie durch List, Ungezwungenheit und Gewalt entgeht, fühlt sich dazu hingezogen, sich selbst zu erschaffen, ins Leben zu rufen und Tag für Tag sein Leben zu ändern. Die als Wiedergeburt täglich erlebte Schöpfung ist nichts anderes als der allmählich den Panzer der unterdrückten Begierden auflösende Impuls zum Genuß.

Uns wurde der Tod so lange bis in die kleinsten Momente des Lebens verkündigt, daß all das, was dem Predigen verwandt ist - angefangen mit der Anregung zum Leben - wie der Tod aussieht. Ich will meine eigene Burg sein, sturmfest und doch offen für das, was ihre Kraft verstärkt, eine gastliche Burg für den, der auf dem Weg zu sich selbst ist. Die Schlösser der Autonomie werden das Zerstörungswerk an der staatlichen Autorität vollenden. "An den Ufern von blumenüberwucherten Städten saufen die Pferde der Begierde das geläuterte Wasser der Flüsse".

Die generalisierte Selbstverwaltung braucht keine Agitatoren, sie kann auf jene Verschwörer verzichten, die von den herrschenden Bürokraten überall gern denunziert werden, da sie in ihnen die beruhigende Widerspiegelung ihrer Tyrannei sehen. Die generalisierte Selbstverwaltung hat weder mit Parteien noch mit Organisationen etwas zu tun. Ihr Leichen, die Ihr den Anspruch auf unsere Führung erhebt, vergeblich werdet Ihr geheimnisvolle Verschwörungen vermuten, die Unruhestifter geißeln und heuchlerisch über eine Gewalt jammern, die durch Eure bloße Anwesenheit aufrechterhalten wird. Noch einmal wird Euch die Evidenz die Nase mit Eurer Ohnmacht beschmieren. Die Individuen der entstehenden Autonomie kommen langsam aus dem Nebel der Warenverseuchung auf die Straßen und treten bis an die Schwelle Eurer Unruhe. Bereit, ihr Nichts aufs Spiel zu setzen, um alles zu gewinnen, dort zuzuschlagen, wo Ihr es am wenigsten erwartet, und nur für sich selbst zu stehen, sind sie mit dem einzigen Mandat ihrer Subjektivität beauftragt, während ihre Füße schon den Schund Eurer sterblichen Zivilisation zertreten.


Die verfaulende Geschichte der Ökonomie führt zur möglichen Geschichte der Individuen. Wo das Leben gegenüber dem Willen zum Leben im Rückstand ist, verheimlicht der Kopf immer noch die Anwesenheit eines neuen Stils. Ich lebe nicht genug in der Umkehrung der Perspektive, da die Ungeduld mich auf das warten läßt, was schon in mir vorhanden ist. Warum aus Mangel nach dem suchen, was man aus Überfülle findet? Es soll mir nunmehr genügen, das zu pflücken, was mir gefällt, um es mit dem zu verflechten, was mich leidenschaftlich anzieht, da die Leidenschaft mit den Augen der Lust sieht: sie steckt alles in Brand und verwandelt nur das in Asche, was ihre Begierde hemmt.

Ich will mir nichts rauben lassen, niemals genug von allem haben. wie könnte die alte Welt mich zufriedenstellen? Bei jeder sozialen Unruhe, bei jedem Aufstand wird mir die Gelegenheit geboten, die Hemmnisse der Kostenlosigkeit weiter vorn zu zerbrechen auf einem Gebiet, das breiter ist als der Bereich meines alltäglichen Lebens. Die Lebenslinie zieht sich durch die subjektive Überfülle, die grenzenlose Liebe, die Brandstiftung der Banken, die Sabotage der Ökonomie, das Ende des Staates und die radikale Zerstörung der Warenverhältnisse.

Ich will kämpfen, um menschlich zu sein, allzu menschlich, darum, es niemals genug zu sein.

Die Kostenlosigkeit ist die Selbstverteidigung des Lebens. Der Genuß ohne Gegenleistung ist die absolute Waffe der individuellen Befreiung. Die Ironie der Geschichte wollte es, daß gerade die äußerste Warenentfremdung ihn allen greifbar gemacht hat.

Ohne Vermittler, Politiker, Agitatoren, Ärzte und Volksredner, ohne uns außenstehende Kräfte werden wir der Geschichte das Merkmal unserer harmonisierten Begierden und die Befreiung aus der Not aufdrücken.

Keiner kann sich allein retten? In Wirklichkeit bin ich sicher, mich niemals retten zu können, wenn ich mein Heil von den anderen und nicht von mir erwarte. Wie könnte man die individuelle Autonomie am Ende wiederfinden, wenn man sie nicht am Anfang einsetzt? Und was nützt es, sie am Ausgangspunkt zu behaupten, wenn wir nicht beschlossen haben, sie zu verwirklichen?

Gestern zur selbstmörderischen Abreaktion verurteilt, ändert sich heute in der Umkehrung der Perspektive der Kampf der Individuen. Wird ihr nichts anderes zur Befriedigung angeboten als Arbeitslosigkeit, Inflation, ökonomischer Verfall, Zusammenbruch der Autorität und eine von Richtern der Radikalität verwaltete Revolution, sammelt sich die in die Jagd nach Macht und Profit investierte Energie lachend wieder. Sie findet wieder auf den Weg des Genusses, dessen sofortige Kostenlosigkeit sie verlangt.

Ich will nicht behaupten, daß sie gleich von Anfang an die Oberhand gewinnt. Die Naivität hat nicht die Hoffnung, ein Richter, ein Kaufmann, ein Militär, ein Totschläger könne wählen, endlich zu genießen, anstatt die Leute mit dem Knüppel seiner Impotenz zu kastrieren. Es scheint mir zwar nicht unmöglich, eine Natter darum zu bitten, nicht zu beißen, allerdings nicht gleich beim ersten Treffen.

Es vergeht kein Tag, ohne daß Aggressionen uns zum Gegenschlag herausfordern. Der Handel greift mich an, indem er mich zur Bezahlung zwingt, die Bank greift mich an, indem sie mich zum Rechnen zwingt, Gesetze und Autorität greifen mich an, indem sie die Freiheit meiner Lebensbegierden unmöglich machen. Es ist jedoch nicht die Abreaktion der Wut, sondern die ruhige Gewalt der Aufhebung, die sie am Ende beseitigen wird.

Mit charmanter Ungezwungenheit und der größten Unschuld werden die durch ein gemeinsames Verlangen nach Autonomie föderierten Individuen aulhören zu zahlen, zu arbeiten, zu gehorchen, zu verzichten, zu altern, sich zu schämen und zu fürchten, um nach dem Impuls der Lust zu handeln und von Liebe und Kreativität zu leben.

Die Natur hat keine anderen Gesetze als die, die ihr von der Ökonomie zugeschrieben wurden. Gerade diese Gesetze habt Ihr in der Grausamkeit der Tiere und den irdischen und himmlischen Plagen gerühmt und gerade sie will der Wille zum Leben in einem Zusammenstoß, den Eure Todesreflexe nicht überstehen werden, gesellschaftlich verneinen. Der Kampf gegen die feindliche Natur macht heute der Hilfe Platz, die sich durch das, was die Natur gibt und was Ihr Euch gerühmt habt, den Wurzeln des Lebens entrissen zu haben, den individuellen Genüssen anbietet. Die Mutation der menschlichen Zivilisation ist in Wirklichkeit nichts anderes als deren Erfüllung.

Was macht es schon, wenn die Neigung zur Lust eine Quelle von Irrtümern ist. Niemals werden wir so viele Irrtümer begehen, wie der intellektuelle Blutfleck aufweist, den alle vergangenen Revolutionen im Herzen tragen. Ich ziehe einen spontanen Irrtum einer aufgezwungenen Wahrheit vor. Lieber die tastenden Versuche des Schöpfers als die Kohärenz des Chefs!

Das Wesentliche ist gesagt worden. Das wichtige wird jetzt zum Ausdruck kommen.


8. Januar 1979