In oralen Kulturen bedeutet Lernen oder Wissen eine enge gemeinschaftliche Identifikation mit dem Wissen der Kultur zu erreichen (Ong, 1982). Oralität ist eher anteilnehmend, als objektiv und distanziert. Erfahrung ist in oralen Kulturen subjektiv und gemeinschaftlich: der Barde und sein Publikum interagieren in solch hohem Maße, daß beide Parteien vollwertige aktive Teilnehmer an der erzählten Geschichte sind: The listener is author, scarcely less than the performer is author"(Zumthor zitiert nach Fowler, 1994) . Leser und Autor arbeiten an der Erschaffung eines Textes zusammen. Fowler argumentiert, daß in oralen Kulturen Autorschaft und Autorität - im Sinne von Kontrolle des Textes durch den Autor - nicht existiert, daß der Autor eine Erfindung von Schriftlichkeit ist .
Schriftlichkeit distanziert die Menschen voneinander, sie ermöglicht die Trennung des Wissens vom Wissenden. Lernen ist in schriftlichen Kulturen nicht länger an wissende Personen gebunden, da das Wissen schriftlich fixiert ist; direkter interpersoneller Austausch ist nicht mehr notwendig. Schriftlichkeit, insbesondere der Buchdruck, unterstützen so Distanziertheit, Objektivität, Unparteilichkeit und Unbeteiligtsein. Durch die Trennung des Wissens von der Person des Wissenden wird eine Individualisierung des Einzelnen, und damit auch die Lösung des einzelnen von der engen Gemeinschaft, erst ermöglicht. Insbesondere Buchdruck verstärkt diese Tendenz zur Individualisierung durch die Einzelerfahrung des Lesens.
Die Abwesenheit oder Nichtexistenz des Autors, bzw. die Co-Autorschaft von Autor/Erzähler und Zuhörer ist in oralen Kulturen ebenso weit verbreitet, wie die daraus resultierende fließende, veränderliche Qualität des Textes. Elektronischer Text kehrt zu dieser oralen Qualität des Textes zurück: er erlaubt dem Leser, nicht nur passiv einem vom Autor vorgegebenen roten Faden zu folgen und verleiht dem Begriff neue Flexibilität:
Der Leser muß zum Beispiel seinen Weg durch den Hypertext selbst wählen,
und auf diese Weise seinen individuellen Text bestimmen oder schaffen.
So wird aus dem 'konsumierenden' Leser ein 'schaffender' Leser, die
Unterscheidung zwischen Autor und Leser ist in gewissen Maße hinfällig.
Der Leser spielt beim elektronischen Text eine Rolle vergleichbar der des
homerischen Zuhörers: so wie die Zuhörer eines homerischen Epos die Möglichkeit
hatten, die Geschichte, die erzählt wurde in Interaktion mit dem Erzähler zu
beeinflussen, schafft der Nutzer, indem er auf die von Hypertextautoren gegebenen
Textfragmente teilweise zurückgreift, sie neu anordnet oder ihnen neue hinzufügt,
neue Bedeutung und neuen Text. Allgemein gilt für elektronischen Text die
folgende Aussage:
In einem offenen, konstruktiven Hypertext steht dem Benutzer die Möglichkeit offen
, nicht nur aktiv zu lesen, und Textpassagen nach belieben aneinanderzufügen,
sondern seine eigenen Kommentare einzubinden, verbleibende Links einzufügen und
so auf die verschiedensten Weisen Text zu erschaffen.
Im Gegensatz zu gedrucktem Text ist Hypertext dadurch, daß der Nutzer in den Text
eingreift, ihn immer wieder neu und anders erschafft, fließend und kontinuierlich
Veränderung unterworfen. Bolter beobachtet, daß bei manchen Experimenten mit
Hypertextfiktion die Struktur einer erzählten Geschichte ganz dem Leser überlassen ist:
Die Abhängigkeit des Textes von den Entscheidungen des Nutzers gilt jedoch nicht nur
für literarische Werke: insgesamt wird die Rezeptions- und Konstruktionstätigkeit des
Nutzers neu definiert. Zwar sind einzelne Textabschnitte von bestimmten Urhebern, doch
wird der Gesamttext, der durch das Verbinden einzelner Abschnitte entsteht, ein neuer
sein und somit nicht mehr einem Autor, es sei denn dem Leser als Autor selbst,
zugeschrieben werden können. Im Internet gibt es bereits heute große Forschungsprojekte,
deren einzelne Aufgabenabschnitte an so viele Menschen auf der ganzen Welt verteilt
sind, daß es tatsächlich unmöglich wäre, bei der Präsentation des Ergebnisses einzelne
Urheber anzugeben. Die Vorstellung solcher weltumspannender Gemeinschaftlichkeit
und Zusammenarbeit mag es gewesen sein, die McLuhan unter anderem zur Prägung des
Begriffes global village inspirierte. Durch die Möglichkeit partizipatorisch angelegter
elektronischer Medien lerne der linear typographisch geprägte Mensch wieder mythisch
zu leben. Dieses "to live mythically" bedeutet:
Die Aufhebung der Urheberschaft birgt in der gegenwärtigen Praxis eine Problematik in sich,
die eng mit dem Gutenberg-Zeitalter verknüpft ist: urheberrechtliche Regelungen sind zur
Zeit auf die Eindeutigkeit der Urheberschaft von schriftlich fixierten, gedruckten Texten
ausgelegt. Das volle Potential des Hypertext kann, vor allem aufgrund dieser
sozio-ökonomischen Hindernisse, noch nicht voll ausgeschöpft werden. Viele mit
Hypertext befaßte Autoren fordern eine Reform der Copyrightgesetze, um den Möglichkeiten
des Hypertext gerecht werden zu können. Aufgrund der alten Regelungen existieren momentan
noch unzählige sogenannte dead Links, also bibliographische Fußnoten, die nicht zu dem
Text, auf den die Fußnoten verweisen, führen, sondern lediglich auf urheberrechtlich
geschützte, im Internet nicht verfügbare, gedruckte Texte hinweisen.
Noch offenkundiger zeigt sich die Anteilnahme an der Autorschaft in den Chatnetzen von
IRC und MUD: hier würde ohne die Nutzer überhaupt kein Text entstehen. Allein die Nutzer
des Channels oder MUD erschaffen den Text, innerhalb dessen sie sich bewegen. Sie
kreieren Welten mit Worten, und Umfang und Elaboriertheit des Textes sind allein
abhängig von der sprachlichen Gewandtheit und der Spielfreude der einzelnen Teilnehmer.
In einzelnen MUDs oder IRC-Channels mag es vorgegebene Ausgangsparameter, etwa ein
Thema, oder in MUDs eine Beschreibung des Mobiliars, geben, die von der Person gesetzt
wurden, die den Channel oder MUD ins Leben gerufen haben, doch von diesen Parametern
ausgehend entsteht im Rahmen von MUDs und IRC ständig neuer Text in Co-Autorschaft aller
Beteiligten. Jede Äußerung jedes einzelnen Nutzers verändert den Text erneut und birgt
das Potential, Inhalt und Form des Textes in eine völlig neue Richtung zu lenken. Auch
erschaffen die Nutzer solcher Chats ihre eigenen Charaktere, sie sind innerhalb dieser
Bereiche Autoren ihrer selbst, können sich gewissermaßen stets neu und andersartig
erschaffen und erzählen.
Gerade diese Möglichkeit der starken Anteilnahme des Nutzers an der Autorschaft und
der allgemein partizipatorische Charakter der CMC sind wohl zwei der Hauptargumente
für die Charakterisierung elektronischen Textes als oralem Text ähnlich. Dies birgt
für den Nutzer verschiedene Implikationen: zum einen erhält der Nutzer einen großen
Freiraum, in dem er Text selbst und immer wieder neu erschaffen kann; zum anderen
wird ihm jedoch auch eine größere Mündigkeit abverlangt, insofern als das Schaffen
von Text und Bedeutung ein selbständigerer Akt zu sein scheint, als das erkennen
und konstruieren von Bedeutung innerhalb eines fixierten Textes. Auch die Verantwortlichkeit
für den Text liegt so nicht länger beim Autor allein.
Copyright © 1997 I. Strübel. All Rights Reserved. Nutzung des Textes nur mit ausdrücklicher Genehmigung."The immediacy and flexibility of oral presentation, which had been marginal in
ancient and Western culture for over two millenia, emerges once again as a
defining quality for text in the computer."(Bolter, 1991)
"Electronic readers can do all the things that are claimed for them -
or choose not to do them. They can genuflect before the text or spit
on its altar, add to the text, or subtract from it, rearrange it, revise it,
suffuse it with commentary. The boundary between creator and critic
(another current vexation) simply vanishes." (Lanham, 1993)
"There is no single story of which each reading is a version, because each reading
determines the story as it goes. We could say that there is no story at all: there
are only readings." (Bolter, 1991)
"...living in a form of consciousness in which knowledge does not exist outside the knower,
embodied in a physical text, but instead is lived dramatically, communally performed as
the myths of oral man were performed." (Brent, 1991)
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