Orale Tradition erinnert sich mittels eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses. Die mnemotechnischen Mittel dieses kulturellen Gedächtnisses sind die tradierten Erzählungen, die Geschichten, die Verse. Wenn man sagen kann, daß Sinn und Zweck des individuellen Gedächtnisses der ist, den Tod des Augenblickes zu überleben, dann kann man sagen, daß der Zweck des kollektiven Gedächtnisses ist, Erinnerung über den Tod des Einzelnen hinaus für die Gemeinschaft zu bewahren. In der Schriftkultur erfüllten diese Aufgaben in erster Linie die Bibliotheken, in denen das schriftlich fixierte Wissen mit der Zeit angesammelt wurde. Allen Modellen der Informationsorganisation in der Printkultur ist eine linear hierarchische Ordnung zu eigen - sei diese Ordnung nun lexikographischer, numerischer oder zeitlicher Natur .
Mit den elektronischen Speichermedien steht nun gleichsam die Möglichkeit zur Verfügung, nicht nur unermeßlich große Mengen an Informationen zu speichern, sondern das gespeichertes Wissen vernetzt abzulegen.
Das ursprüngliche Konzept des Hypertext kann man in einfacher Form bereits 1945 bei Vannevar Bush finden . Bush erkannte, daß die Schwierigkeit, angesichts des exponentiell anwachsenden Wissens die sein wird "that publication has been extended far beyond our present ability to make real use of the record. " Er identifiziert klar die unzureichende Kapazität und Zugänglichkeit der Speichermedien der Printkultur als solche:
"Our ineptitude in getting at the record is largely caused by the artificiality of
systems of indexing. When data of any sort are placed in storage, they are filed
alphabetically or numerically, and information is found (when it is) by tracing
it down from subclass to subclass. It can be in only one place, unless duplicates
are used; one has to have rules as to which path will locate it, and the rules
are cumbersome. Having found one item moreover, one has to emerge from the system
and re-enter on a new path."
Weiter führt Bush aus, daß das menschliche Gehirn eben nicht auf diese lineare top-down Weise arbeitet, sondern assoziativ funktioniert, und er schlägt vor, die Ordnung des Wissens diesen zerebralen Selektionsprozessen anzupassen, indem man die Selektion durch Assoziation mechanisch ermöglicht:
"Consider a future device for individual use, which is a sort of mechanized private file and library. It needs a name, and to coin one at random 'memex' will do. A memex is a device in which an individual stores all his books, records, and communications, and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility."
Der Benutzer ist dabei derjenige, der die Verbindungen zwischen den einzelnen Objekten, Texten, Bildern, schafft. Ruft er ein Objekt auf, wird das dem Objekt assoziativ verbundene bereitgehalten. So stellt sich der Benutzer sein eigenes "file" zu einem bestimmten Thema zusammen. Bush entwickelte dieses System damals als mechanisches, unter Zuhilfenahme von Mikrofilm und ähnlichen Materialien, doch entspricht die vorgeschlagene Struktur dem des heute das WWW ausmachenden Hypertext. Das WWW führt Bushs Idee sogar noch weiter, indem es kein privates 'Memex' ist, sondern eine weltweite Vernetzung von Rechnern und den in diesen gespeicherten Texten, Bildern, Klängen - von Wissen; das persönliche Memex entsteht quasi erst in der Nutzung durch den Einzelnen, und bei jeder Online-Sitzung neu.
So brachte die Fortführung von Vannevar Bushs Memex Machine nicht nur die geforderte assoziative Verbindung zwischen einzelnen Wissenseinheiten, sondern gleichzeitig den Faktor der Ortlosigkeit: man kann auf das im Netz gespeicherte wissen von jedem Ort der Welt zugreifen, vorausgesetzt man kann eine Verbindung zum Netz aufbauen. Und nicht nur dies: das Internet kennt auch, im Gegensatz zu Bibliotheken, keine Öffnungszeiten. Das dort gespeicherte Wissen steht jederzeit, 24 Stunden am Tage, zur Verfügung.
Elektronischer Speicherplatz ist bereits heute wesentlich billiger, als die Speichermethoden der Printkultur, und dies schlägt sich bereits in einer wachsenden Anzahl vor allem wissenschaftlicher Publikationen nieder, die aus Kostengründen gar nicht erst in Printform, sondern nur noch im Internet veröffentlicht werden. Zwar werden diese Veröffentlichungen oft noch sehr skeptisch betrachtet - und nicht immer ohne Grund, denn schließlich kann ja prinzipiell jeder alles im Netz veröffentlichen - doch existieren bereits genügend wissenschaftliche Online-Publikationen , Magazine und ähnliches, die zeigen, daß Strukturen der Qualitätskontrolle für die Beiträge auch für elektronische Publikationen etabliert werden können. Direktes Feedback wird wesentlich häufiger gegeben, der peer review-Effekt läuft durch die den Magazine meist angeschlossenen Mailinglisten oft wesentlich effektiver als bei kleinauflagigen Printzeitschriften.
Bedingt durch die erheblich geringeren Kosten einer elektronischen Publikation werden durch das Internet auch Texte veröffentlicht, die ansonsten keinem breiten Publikum zugänglich gemacht werden könnten, da kein Verleger für sie gefunden werden könnte, etwa, weil sie nicht massentauglich, zu anspruchsvoll, oder nur für eine Minderheit interessant sind.
Die ersten selektiven Maßstäbe, die in der entstehenden Schriftkultur dominierten, und z. B. dem Klerus eine das Wissen kontrollierende Rolle und damit auch Macht verlieh , schwächten sich mit der Entstehung der Printkultur; es entstanden jedoch neue Mechanismen der Selektion dadurch, daß die Mittel zur Vervielfältigung von Schriften wohl zumeist in den Händen der jeweiligen die Gesellschaft dominierenden Gruppen waren, was zum Beispiel dazu führten, daß die amerikanische Literaturwissenschaft sich jahrzehntelang fast ausschließlich mit einem Kanon aus Werken der "toten weißen Männern" befaßte.
Die Veröffentlichung von Informationen im Internet ist hingegen äußerst preiswert und im Prinzip für alle zugänglich. Dabei gibt es keine Lektoren und keine Kontrollinstanzen, ja, zur Zeit nicht einmal eine Zensur die der Veröffentlichung von illegalem Material effektiv Einhalt gebieten könnte. Dies wird zum einen dazu führen, daß Wissen nicht mehr auf die selbe Weise wie bisher kanonisiert werden kann und mehr Demokratie insofern gegeben sein wird, als alle, gleich ob sie der Mehrheit oder einer Minderheit angehören, nicht nur Konsumenten, sondern auch Anbieter von Information sein können; nachteilig wird, etwa im wissenschaftlichen Bereich, sein, daß jedermann unüberprüfte oder schlichtweg unrichtige Informationen im Netz veröffentlichen kann. Dies - neben der schier unendlich erscheinenden Masse an gleichzeitig und gleichwertig präsenten Informationseinheiten - fordert vom einzelnen Nutzen eine geschultere, ausgefeiltere Fähigkeit und Technik der kritischen Selektion .
All die oben genannten Eigenschaften - größere Speicherkapazität, leichter (ortloser und 'zeitloser') Zugriff, Veränderbarkeit von Daten etc. - werden wohl in ihrer Summe zu einer weiteren Durchsetzung der vernetzten elektronischen Wissenspeicher führen. Da das Internet aber einem wesentlich größeren Publikum zugänglich ist, als die jeweils einzelnen Bibliotheken, deren Vernetzung untereinander zwar mit der Möglichkeit der Fernleihe gegeben, doch letztlich eher kläglich ist, und aufgrund seiner zur Printkultur völlig andersartigen Strukturen und Eigenschaften wird auch die kulturelle Bedeutung dieses Wissensspeichers eine andere sein als die der Bibliothek:
"Die Bibliothek (das übermenschliche Gedächtnis) ist ein himmlischer Ort
('topos uranikos'), in welchem ewige, unveränderliche Informationen
('Ideen', 'Formen') nach den Regeln der Logik aufbewahrt werden. "(Flusser in Ars Electronica 1989)
Flusser sieht die Bibliotheken als ideologisch sakralisierte Orte, die als mehr als nur Gedächtnisstützen betrachtet wurden (und werden); schließlich identifizieren wir uns, so Flusser, erst im Verhältnis zu eben jenem sakralisierten Kulturgedächtnis, als "Subjekte (Untertanen) einer über uns schwebenden 'immateriellen' Bibliothek". Flusser sieht in den elektronischen Gedächtnisse Simulationen einiger Gehirnfunktionen und sieht die Verbesserung der Gedächtnisfunktion als potentiell kulturverändernd und -prägend an.
Angesichts der vergrößerten Speicherkapazität, der einfacheren Abrufbarkeit, leichteren Veränderbarkeit und der Übertragbarkeit von Informationen von einem elektronischen Gedächtnis auf das andere sieht Flusser voraus, daß dies Vorteile dazu führen werden, daß "künftig die erworbenen Informationen (Daten) nicht mehr in Gehirnen, sondern dort gelagert werden" . Nun kann man diese Prophezeiung in ihrer Radikalität als überspitzt ablehnen, doch erscheint die Richtung, die sie vorgibt, durchaus mit den bereits im Zusammenhang mit Computern beobachtbaren Entwicklungen zu konvergieren: im Informationszeitalter ist es angesichts der sich immer schneller überholenden Veränderungen von Erkenntnissen und der sich immer schneller vergrößernden Datenmenge bereits jetzt wichtiger und zweckmäßiger, zu wissen, wie/wo man Daten abruft, speichert, variiert, als die Daten selbst zu lernen. Es wird künftig, mit der weiteren Durchsetzung der elektronischen Speicher, mehr um das Prozessieren von Daten gehen, als um den Datenerwerb selbst.
Es wird sich auch für das in elektronischen Gedächtnissen gespeicherte Wissen ein homöostatischer Charakter ergeben, ähnlich dem in oralen Kulturen, dadurch, daß gespeicherte Daten, anders als gedruckter Text - und auch leichter als in menschlichen Gehirnen gespeichertes Wissen - jederzeit modifizierbar ist. Das gespeicherte Wissen kann jederzeit und mit geringen Aufwand gelöscht, aktualisiert, ergänzt, mit anderem Wissen vernetzt und in Beziehung gebracht werden.
Doch nicht nur das Speichern und Verarbeiten des Wissens verändern sich in Struktur und Eigenschaften, auch die Sicht des Menschen als Teil des Informationsprozesses wird revolutioniert. Flusser sieht durch die Praxis mit elektronischen Gedächtnissen den Zwang gegeben:
"...das Erwerben, Speichern, Prozessieren und Weitergeben von Informationen
als einen Prozeß zu erkennen, der sich zwar auf Gegenstände (Gedächtnisstützen)
stützt (zum Beispiel auf computer hardware oder auf menschliche Organismen),
aber diese Gegenstände gewissermaßen durchläuft (eine Tatsache, die mit dem Begriff
'Medium' gemeint ist). Die Praxis zwingt uns, all diese Gegenstände
(inklusive unseren eigenen Körper) als Medien des Informationsprozesses zu erkennen."(Flusser, in: Ars Electronica 1989)
Als Konsequenz aus der Erkenntnis, daß der Prozeß der Informationsverarbeitung nicht in irgendeinem Medium lokalisierbar sein kann, muß eine neue Anthropologie geschaffen werden, in der der Mensch Knotenpunkt eines Netzes ist, "durch dessen Fäden (seien sie materiell oder energetisch) Informationen strömen". Flusser fordert eine Anthropologie, die "den Menschen als eine Verknotung (Krümmung) einiger sich überschneidender Relationsfelder ansieht."
Diese veränderte Sicht des Individuums als unabtrennbaren Teil des Informationsflusses wird zwangsläufig dazu führen, daß das Subjekt-Objekt-Denken von einem Denken in intersubjektiven Kategorien abgelöst wird. Wenn der Mensch aber als ein Knoten im Netz der fließenden Informationen gesehen werden kann, dann erscheint auch der Cyborg-Gedanke als Metapher nicht länger unschlüssig. Dies bedeutet nicht, den Menschen auf einen Informationsprozessoren zu reduzieren. Vielmehr macht das Bild greifbar, daß Kultur auch das ansammeln, verarbeiten und weitergeben von Wissen ist, und daß der Mensch als fundamentaler Bestandteil dieser Kultur an diesem Prozeß zwangsläufig beteiligt ist : als informationsbe- und verarbeitendes und Bedeutung schaffendes Individuum, aber auch und vor allem als Mitschöpfer des Welttextes, des Netzes an Informationen und letztlich als Autor seiner Selbst innerhalb dieses Netzes.
Der Bildungsbegriff wird in einer Kultur, deren Hauptspeichermedium nicht länger das menschliche Gehirn ist, von dieser radikalen Veränderung nicht unberührt bleiben können. Insbesondere der Aspekt von Bildung, der sich auf das Anhäufen von Wissen selbst bezieht, wird eine grundlegende Umprägung erfahren, doch auch andere Aspekte, etwa die Sicht des Selbst sowie das Verständnis von Welt werden sicher davon betroffen sein, wenn der Einzelne sich seinen Platz im Gefüge des zunehmend elektronisierten Welttextes sucht oder erschafft.
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