Der zehnte Juli in Seveso
ist staubig und heiß und normal
Da hat so mancher die Nase voll
und hat doch keine Wahl:
Entweder du gehst in die Fabrik
hast das Risiko und - das Moos
Oder dir ist dein Leben lieb
dann bist du arbeitslos
Das ist die Welt von Seveso
zehn Stunden von hier entfernt
Alle Welt kennt heute Seveso
was haben wir draus gelernt?

Da hängt eine weiße Wolke
im Himmel von Seveso
Die kommt aus der La-Roche-Chemie
und fällt auf Seveso
Ein Giftstaub fällt vom Himmel
auf Mensch und Frucht und Tier
Da ist der Tod von Vietnam
auf einmal unser Bier
Da stirbt die Welt von Seveso
zehn Stunden von hier entfernt
Alle Welt schaut auf Seveso
was haben wir daraus gelernt?

Da war doch gestern eine Stadt
die heißt heut "Niemandsland"
Das Leben wurde stillgelegt
der Boden wird verbrannt
Die Menschen stehn am Stacheldraht
mit Trauer und Angst und Wut
Und wir fragen uns vor Fessenheim:
wie lang geht's bei uns noch gut?
Wie weit ist eigentlich Seveso?
zehn Stunden von hier entfernt
Wir schaun erschrocken auf Seveso
was haben wir draus gelernt?

Wir sehn die Frauen von Seveso
nicht in Hoffnung, sondern Not
Wie werden ihre Kinder sein?
bloß Krüppel, oder tot?
Der Erzbischof von Mailand treibt
mit ihnen seinen Spott:
"Die Krüppel macht euch nicht La Roche
die Krüppel schenkt euch Gott"
Das ist der Trost für Seveso
und Gott ist weit entfernt
Der Bischof betet für Seveso
der hat ja sonst nichts gelernt

In Zürich, der Boß von Hoffmann-La-Roche
gewährt ein Interview
Er sagt: Was soll denn das Geschrei
wegen einer toten Kuh?
Paar Hektar kaputt, paar Menschen krank
paar Krüppel - vielleicht - na und?
Ich stopf der Bagage in Seveso
mit ein paar Lire den Mund!'
Dann wird die Akte "Seveso"
von seinem Tisch entfernt
Der Boß zieht den Strich unter Seveso
der hat sein Geschäft gelernt

Da reden die Herrn der Industrie
vom Fortschritt und seinem Preis
Sie halten den Kurs auf Macht und Geld
und halten die Weste weiß
Und gibts Katastrophen, und gibts auch Krieg
für die ist das normal
Es geht nicht um uns aus Fleisch und Blut
es geht ums Kapital
Es geht auch nicht um Seveso
das ist doch ein kleiner Fisch
Und sowas fällt dann sowieso
bei denen unter den Tisch

Ihr kennt die Geschichte von Marckolsheim
ihr kennt die Geschichte von Wyhl
Da kämpfen wir schon sechs Jahre lang
und manchem wirds zuviel
Doch viele haben begriffen: hier
steht alles auf dem Spiel
"Entweder das Leben - oder Profit"*
das ist der Sinn von Wyhl
Das ist der Sinn von Seveso
zehn Stunden von hier entfernt
Läßt uns das kalt in Seveso
oder haben wir was gelernt?

*Parole auf dem besetzten Platz in Wyhl.
"Für das Leben - Gegen den Profit!"



Anmerkungen von Walter Mossmann Zur Ballade von Seveso:

Der Liedertext ist nebenbei geschrieben worden, als die KKW-Nein-Gruppe Freiburg August/September 1976 die laufenden Informationen aus Seveso für die Region um Wyhl ausarbeitete. Das Ergebnis dieser Arbeit waren Flugblätter, Artikel in Alternativ-Zeitungen und ein Programm für die Volkshochschule Wyhlerwald.

Zum ersten Mal gesungen während einer Kundgebung gegen das Atomkraftwerk Fessenheim am 19. September 1976, nachdem eine Journalistin aus Mailand über den Fall Seveso informiert hatte. Dann als Beitrag der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen am 30. Oktober 76 bei der ersten Demonstration in Brokdorf. Im Februar 1976 vom stellvertretenden Intendanten Schwarzkopf des NDR verboten, weil in der Zeile "jetzt fragen wir uns vor Fessenheim..."statt Fessenheim "an der Elbe"eingefügt worden war. Begründung: damit wurde das Problem Brokdorf weiter,emotionalisiert' D. h. offenbar, daß solche Lieder bei den Zuhörern Gefühle auslösen könnten, was den Untertanen im Atomstaat nicht mehr gestattet werden kann. Bisher wurde das Lied veröffentlicht auf den Doppelalben "Dreyeckland" (Hrsg. Badisch-elsässische BI) und "Leben, kämpfen, solidarisieren" (spanischen Kulturkreis Essen), außerdem auf der "1. österreichischen Anti-AKW-Platte" (Arbeitskreis Atomenergie Wien), gesungen von Eva Pilz,
Die Melodie hat der amerikanische Liedermacher Phil Ochs 1963 für sein Lied,Lou Marsh'geschrieben. Phil starb im April 76, Selbstmord.


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