Kapitel 19

Sie hatten die Party nach zwei Stunden verlassen, da es ihnen beiden nicht so recht gelungen war, die unbeschwerte Stimmung wieder herzustellen. Zu Hause angekommen, hatte sich Sarah recht bald verabschiedet und war schlafen gegangen. Sie lag noch lange wach und erst einige Zeit später hörte sie A.J. die Treppe herauf kommen und in sein Zimmer gehen. Irgendwann war sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen aus dem sie am nächsten Morgen überraschend erfrischt erwachte. Sie stand auf und beschloss eine Runde joggen zu gehen. Sie war im Nachhinein entsetzt darüber, wie schnell sie ihre Kondition gestern abend am Strand verlassen hatte. Sie ging leise die Treppe hinunter und stellte mit einem kurzen Blick in die Runde fest, daß A.J. noch nicht aufgestanden war. Sie öffnete die Haustür und trat in einen sonnigen Morgen hinaus. Es war noch nicht so heiß wie gestern, als sie schwitzend durch Orlando spaziert waren. Es kam ihr so vor, als liege dieser Nachmittag schon hundert Jahre zurück. So viel war seit dem passiert. Sie setzte ihre Baseball-Kappe auf um ihre Augen ein wenig vor dem hellen Sonnenlicht zu schützen und lief los. Nach einigen Metern hatte sie ihren Rhythmus gefunden und mit schwingenden Armen und weit ausgreifenden Schritten lief sie die Straße entlang. Alles was sie hörte waren die Geräusche die ihre Turnschuhe auf dem Alphalt verursachten, ihr eigenes Atmen und ab und zu ein Auto, daß an ihr vorbei fuhr. Sie wandte sich nach rechts und nach einigen Metern sah sie das große schmiedeeiserne Eingangstor eines Parks. Zielstrebig lief sie hindurch und fand sich bald darauf in einer grünen Oase wieder. Gewundene Schotterwege führten durch baumbestandene Alleen, vorbei an kunstvoll angelegten Blumenrabatten und saftig grünen Rasenflächen. Einige Jogger kamen ihr ab und an entgegen und lächelten ihr freundlich zu. Als sie an einen kleinen See gelangte, lief sie langsam aus und blieb dann stehen. Tief sog sie die frische, würzige Luft ein und begann mit leichten Dehnübungen. Den ganzen Weg hierher hatte sie einfach an garnichts gedacht. Sie hatte sich auf ihre Atmung und die gleichmäßigen Schritte konzentriert und sie fühlte sich nun unheimlich entspannt und klar. Sie setzte sich auf einen großen, flachen Stein , der von der Sonne schon leicht angewärmt war. Während sie einen jungen Mann beobachtete, der einen großen Ast ins Wasser warf und dem gleich darauf ein großer schwarzer Hund mit einem lauten Platschen hinterher sprang, kehrten ihre Gedanken zu dem gestrigen Abend zurück. Sie hatte noch ein wenig mit Nick und Howie getanzt und versucht, die Gedanken an Markus beiseite zu schieben. Doch es war ihr nicht gelungen und nachdem sie einen Blick auf A.J. geworfen hatte, der schweigsam am Geländer der Veranda lehnte und sie beobachtete, waren sie ohne Worte übereingekommen, nach Hause zu fahren. Die Anderen hatten sich wohl gewundert, daß sie die Party so früh verließen, doch auch sie hatten gemerkt, daß irgendetwas nicht stimmte und so hatten sie sie ohne weitere Bemerkungen gehen lassen. Sarah konnte immernoch nicht so ganz begreifen, daß sie A.J. ihr Herz ausgeschüttet hatte. Es war so ungewöhnlich für sie, jemanden in diesen Teil ihres Lebens blicken zu lassen, sie erkannte sich kaum wieder. Doch sie stellte beruhigt fest, daß sie es nicht bereute. Sie überlegte, wie sie A.J. jetzt begegnen sollte. Sollte sie so tun, als ob nichts passiert wäre? Würde er noch einige Fragen stellen? Sie wußte nicht, ob sie heute, bei Tageslicht und nicht mehr so verzweifelt wie gestern abend, nochmal bereit war, darüber zu reden. Die Sache einmal zu erzählen war eine Sache, immer wieder daran erinnert zu werden, eine Andere. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Bruder. Für ihn musste es auch ein unangenehmes Gefühl gewesen sein, so unvermittelt Markus gegenüber zu stehen. Als er damals von der ganzen Sache erfahren hatte, war ihr damals sechzehnjähriger schmächtiger Bruder so wütend gewesen, daß er noch am selben Abend zu Markus Haus gefahren war. Markus hatte nicht geöffnet und so war ihm wohl eine handfeste Schlägerei erspart geblieben. Noch wochenlang hatte Jona davon gesprochen, was er Markus alles antun würde, wenn er ihn persönlich vor sich hätte. Sarah konnte ihn schlussendlich davon überzeugen, daß es nicht ratsam war, sich mit Markus anzulegen. Immerhin stand noch ein Prozess bevor, von dem sie eigentlich davon ausging, ihn zu gewinnen und außerdem hatte er es nicht verdient, mit soviel Aufmerksamkeit belohnt zu werden. Natürlich war alles anders gekommen und Sarah fragte sich noch heute, ob es ihr eine gewisse Genugtuung verschafft hätte, wenn Markus an diesem ersten Abend die Tür geöffnet hätte. Doch bald darauf war er von der Bildfläche verschwunden und Sarah hatte begonnen, wieder ein einigermaßen normales Leben zu führen. Sie war von Anfang an davon überzeugt gewesen, daß sie Markus nie wieder sehen würde. Ihre Eltern und auch Jona hatten sie in diesem Glauben bestärkt, doch Sarah war davon überzeugt, daß sie hinter ihrem Rücken anders darüber dachten. Wahrscheinlich hatte ihr der Glaube daran, ihn nie wieder zu sehen, auch dabei geholfen, wieder in den Alltag zurück zu finden. Doch so wie es im Moment aussah, hatte ihre Familie Recht behalten. Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie er gerade um ihre Wohnung herumschlich und darauf wartete, daß sie sich zeigte. Ein eisiger Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken. Plötzlich war der Tag nicht mehr so strahlend und sie verfluchte Markus erneut dafür, daß er sich einfach wieder in ihr Leben gedrängt hatte. Sie erhob sich und warf noch einen letzten Blick auf den Hund und seinen Besitzer. Dann wandte sie sich entschlossen ab und begann den Weg, den sie gekommen war, zurück zu laufen. Als sie an ihrem momentanen zu Hause ankam, stand die Sonne schon hoch am Himmel und kleine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn und liefen ihr den Rücken hinunter. Langsam stieg sie die Stufen der Veranda hinauf und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Eigentlich hatte sie keine Lust jetzt schon hinein zu gehen. Stattdessen ließ sie sich auf der obersten Treppenstufe nieder und lehnte sich entspannt auf ihre Arme gestützt zurück. Weit streckte sie ihre Beine von sich und versuchte langsam wieder zu Atem zu kommen. Sie schloss die Augen und warm spürte sie die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Hinter ihr öffnete sich die Haustür und sie hörte A.J. hinaus auf die Veranda treten. Sie spürte, wie er sich zu ihr auf die Stufen setzte. „Guten Morgen,“ sagte sie, immernoch mit geschlossenen Augen. „Guten Morgen,“ entgegnete er und im selben Moment spürte sie etwas sehr kaltes auf ihrem Bauch. Mit einem überraschten Laut richtete sie sich auf und riß die Augen auf. Grinsend hielt ihr A.J. eine Wasserflasche vor die Nase. Kleine Wassertropfen rannen an ihr herunter und Sarahs Mund fühlte sich sofort trocken wie Schmirgelpapier an. „Vielen Dank, genau das was ich jetzt brauche,“ sagte sie, schnappte sich die Flasche und nahm ein paar kräftige Züge von dem eiskalten Wasser. „Du warst Laufen,“ stellte er fest „den Kopf frei bekommen und so?“ „Ja, und so“ „hat es geholfen?“ „Bei was geholfen?“ fragte sie und sah ihn an „Naja, fühlst Du Dich jetzt besser?“ fragte er und sengte den Blick. „Ich fühle mich bestens. Und Du?“ „Wenn es Dir gut geht, geht es mir auch gut,“ sagte er und lächelte sie an „Ich habe mir ehrlich gesagt etwas Sorgen gemacht als Du heute Morgen nicht da warst. Ich hatte schon die Horrorvisionen von gepackten Koffern und von Dir ganz alleine am Flughafen.“ Sarah erwiderte sein Lächeln „Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, nach Hause zu fliegen. Aber nur ganz kurz,“ fügte sie schnell hinzu, als sie seinen finsteren Blick bemerkte „es ist nicht so einfach für mich, weißt Du. Immerhin habe ich mein Seelenleben gestern abend vor Dir ausgebreitet und ich muss wohl erst lernen, damit umzugehen.“ A.J. sah sie lange an. Seine dichten Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen und die Augen darunter schienen direkt in ihr Herz zu blicken „Was auch immer passiert, ich möchte, daß Du eines weist, Du wirst hier immer sicher sein, ich bin jederzeit für Dich da und egal wer hinter Dir her ist, er muss erstmal an mir vorbei.“ Er nahm ihre Hand. Sarah konnte vor lauter Rührung kein Wort heraus bringen „es ist unglaublich was dieser Mistkerl Dir angetan hat und Gott steh ihm bei, sollte er mir jemals begegnen. Aber das alles ändert nichts zwischen uns.“ Es war fast unheimlich, wie er ihre Gedanken zu lesen schien. Hatte sie sich vorhin noch unsicher gefragt, wie er wohl reagieren würde und wie sie damit umgehen sollte, so fühlte sie sich jetzt von einer Last befreit und bereit, ihren Urlaub unbeschwert mit ihm fortzusetzen. „Ich danke Dir,“ sagte sie mit leicht zitternder Stimme „Ich möchte einfach das alles hinter mir lassen und ein paar unbeschwerte Tage mit Dir verbringen. Mit dem was zu Hause auf mich wartet kann ich mich immernoch beschäftigen, wenn es soweit ist.“ A.J. nickte. „O.k., versuchen wir diesen Markus für einige Tage zu vergessen. Es wird für mich allerdings nicht so einfach werden. Ich konnte gestern Abend kaum einen klaren Gedanken fassen. Immerwieder habe ich den Mistkerl vor mir gesehen wie er...,“ Sarah legte ihm schnell die Finger auf die Lippen „ssscht. Kein Wort mehr. Es reicht, wenn er uns einen Abend versaut hat.“ A.J. küsste sanft ihre Finger, die immer noch an seinen Lippen hingen und lächelte als sie erschrocken die Hand zurück zog „ich werde es versuchen.“ Sarah erhob sich, sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis nach einer Dusche. A.J. stand ebenfalls auf „ich werde uns dann mal ein leckeres Frühstück zaubern,“ sagte er und gemeinsam gingen sie ins Haus. Als Sarah unter dem warmen Wasserstrahl stand, starrte sie immernoch fasziniert auf ihre Fingerspitzen. Dort wo seine Lippen sie berührt hatten, spürte sie immernoch ein leichtes Prickeln. Es erschreckte sie ein wenig, welche Wirkung er auf sie hatte. „Er ist nur ein Freund,“ versuchte sie sich selbst zu überzeugen „kein Grund gleich in Ekstase zu geraten.“ Ein breites Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht und sie begann leise „All I have to give“ vor sich hin zu singen.

Kapitel 20