Kapitel 28

Nach drei Stunden war sie kurz davor völlig durchzudrehen. Ein paarmal hatte sie versucht aufzustehen, doch sofort wurde ihr schwarz vor den Augen und vor Schmerzen stöhnend war sie wieder zurück auf das Bett gesunken. Vergeblich hatte sie an den Handschellen gezerrt, lediglich mit dem Erfolg, das ihr Handgelenk nun aus einer vielzahl kleiner Wunden blutete. Irgendwann hatte sie wieder zu schreien begonnen, wohlwissend, daß sie da draußen sowieso keine Menschenseele hören würde. Erschöpft hatte sie dann eine halbe Stunde weinend auf dem Bett liegend verbracht, abwechselnd nach A.J. und ihrer Mom rufend. Sie musste für eine Weile das Bewusstsein verloren haben, denn als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, war eine weitere halbe Stunde vergangen und immernoch war kein Anzeichen von Markus Rückkehr zu hören. Ihr Durst war mittlerweile unerträglich geworden und ihr ganzer Körper schmerzte grauenvoll. „O.k. Sarah,“ sagte sie dann irgendwann mit krächzender Stimme zu sich selbst und von den trostlosen Wänden hallte ihre Stimme wieder „jetzt reiß Dich um Himmels willen zusammen.“ Der Klang ihrer eigenen Stimme, überhaupt irgendeiner menschlichen Stimme, war irgendwie tröstlich und sie konnte die Panik ein wenig beiseite schieben. Ungelenk richtete sie sich in eine sitzende Position auf und nach einigen vergeblichen Versuchen schaffte sie es schließlich, sich ein Kissen in den Rücken zu stopfen und seufzend ließ sie sich nach hinten sinken. Der Rand ihres Blickfeldes färbte sich schon wieder schwarz und sie schloss für einen Moment die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie das triste Zimmer klar und deutlich vor sich. Der kleine Tisch war übersäht mit den Resten des Sandwiches, daß Markus gerade im Begriff gewesen war zu essen, als sie wie eine Bekloppte auf ihn los gegangen war. Wie hatte sie nur so dämlich sein können, nicht an die Entsicherung der Waffe zu denken? Sie könnte jetzt schon zu Hause bei A.J. sein und Markus währe tot oder zumindest schwer verletzt und sie bräuchte keine Angst mehr zu haben. „Ich hätte ihn wirklich umgebracht,“ dachte sie verwundert. Bisher hatte sie das nicht für möglich gehalten. Sie war schon als Kind allen Prügeleien aus dem Weg gegangen und nach den Erfahrungen mit Markus war sie noch mehr davon überzeugt gewesen, daß Gewalt keine Lösung war. Und trotzdem hatte sie nicht eine Sekunde gezögert, einfach den Abzug zu drücken und ihn zu erschießen. „Er hätte es verdient,“ flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf und Sarah hatte nicht mehr die Kraft ihr zu widersprechen. Ihr müden Augen wanderten weiter im Zimmer umher und da erblickte sie das kleine Frühstücksmesser auf dem Boden. Die Klinge lugte unter einer Scheibe Schinken hervor und lag unmittelbar am Fußende des Bettes. Sie sah nicht besonders scharf aus, doch es war besser als nichts. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in Sarah auf und vorsichtig schwang sie die Beine über den Bettrand. „Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden,“ flüsterte sie. Langsam rutschte sie auch mit dem Hinterteil vom Bett, bis sie auf dem kalten, dreckigen Boden kniete. Für einen Moment verharrte sie dort und wartete, daß sich ihr Blick wieder klärte und die kleinen Lichtpunkte verschwanden. Dann atmete sie ein paarmal tief durch und rutschte dann vorsichtig so weit in Richtung Bettende, wie es die Handschellen eben noch zu ließen. Sofort begann ihr Handgelenk wieder zu brennen, als die Schelle schmerzhaft daran entlang schabte. Doch Sarah biss die Zähne zusammen und streckte die andere Hand so weit sie konnte aus. Das Messer lag nun nur noch zwei, drei Zentimeter von ihren ausgestreckten Fingern entfernt. „Komm schon,“ murmelte sie. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn und in die Augen. Das Salz brannte wie Feuer und sie blinzelte ein paar mal angestrengt. Als das nichts nützte wischte sich sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts über die Augen und fixierte dann wieder das Messer. Es blinkte verheißungsvoll in dem spärlichen Licht, daß durch das vernagelte Fenster herein viel. Erneut streckte sie sich und achtete dabei nicht auf das Ziehen im Bauch und ihre Nase, die wieder angefangen hatte zu bluten. Sie rutschte noch ein kleines Stückchen weiter auf den Knien dem Messer entgegen, ihre Schulter protestierte zwar dagegen mit kreischenden Schmerzen doch sie ließ nicht einen Moment nach. Mit vor Anstrengung und Schmerzen verzerrtem Gesicht bekam sie das Messer endlich zu fassen. Kühl lag das schwere Metall in ihrer Hand und mit einem lauten Triumphschrei drückte sie es fest an die Brust und robbte vorsichtig wieder zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Mit letzter Kraft hievte sie ihren geschunden Körper wieder hinauf auf das Bett und mit den Händen half sie ihren Beinen nach. Völlig erschöpft lies sie sich dann zurück in die Kissen sinken. Keine Sekunde zu früh, denn soeben hörte sie, wie ein Wagen auf den Parkplatz fuhr. Schnell versteckte sie das Messer unter der Bettdecke, schloss die Augen und tat so, als ob sie schlief. Schritte näherten sich der Tür und mit einem Knall schlug sie gegen die Wand, als Markus sie grob aufstieß. Sarah rührte sich nicht. Für einen kurzen Moment war es still, dann hörte sie, wie Markus, diesmal leise, die Tür schloss und einige Schritte in Richtung Bett machte. Dann blieb er stehen und Stille senkte sich über das kleine Zimmer. Sie stellte sich vor, wie er jetzt vor ihrem Bett stand, sie betrachtete und sich überlegte, was er als nächstes mit ihr anstellen sollte. Dann hörte sie wieder seine Schritte und diesmal kamen sie links am Rande des Bettes entlang und direkt auf sie zu. Sarah versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen, nochimmer hielt sie die Augen geschlossen. Die Matratze senkte sich, als sich Markus zu ihr auf den Bettrand setzte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, fest umfasst sie das Messer unter der Bettdecke, jederzeit bereit es hervor zu ziehen und zu zustechen. „Du bist so schön,“ hörte sie Markus flüstern und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte, wie er ihr sanft über das Haar strich und roch dabei sein widerliches Aftershave. Dann hörte sie ein Rascheln und kurz darauf ein leises Klicken, als Markus die Handschelle am Bettpfosten aufschloss. Sarah konnte ihr Glück kaum fassen, verhielt sich aber weiterhin still. Sie wartete, vielleicht würde er ja jetzt aufstehen und ins Bad gehen, dann konnte sie ohne Kampf verschwinden. Doch sie hatte sich geirrt. Im selben Moment hörte sie das Rascheln von Kleidern und bestürzt stellte sie fest, daß Markus gerade dabei war, sich auszuziehen. Ekel stieg in ihr auf, als sie an ihre Hochzeitsnacht und die darauf folgenden langen Nächte dachte. Der Gedanke daran war einfach zu viel. Sie schlug die Augen auf und im gleichen Moment zog sie das Messer in einer fließenden Bewegung unter der Bettdecke hervor. Bevor sie noch richtig darüber nachdenken konnte rammte sie ihm die Klinge mit voller Wucht in die Brust und rollte sich gleich darauf über die rechte Seite des Bettes von ihm weg. Markus war aufgesprungen und schrie wie am Spieß. Er taumelte und als er gegen den Tisch stieß verhedderten sich seine Füße in den Jeans, die ihm um die Fußknöchel hingen, verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. Sarah war mittlerweile vom Bett gerutscht und krabbelte auf allen vieren der Tür entgegen. „Du verdammtes Miststück,“ brüllte Markus hinter ihr her, und die Mischung aus Schmerz und rasender Wut in seiner Stimme lies sie noch eine Zahn zulegen. Endlich hatte sie die rettende Tür erreicht und zog sich stöhnend am Türknauf in die Höhe. Für einen furchtbaren Moment dachte sie, Markus hätte die Tür abgeschlossen, als sie den Türknauf drehte, die Tür selbst sich aber keinen Millimeter bewegte. Doch dann stellte sie fest, das sie gegen die Tür drückte anstatt daran zu ziehen und als sie es erneut versuchte schwang sie endlich nach innen auf und Sarah fiel mehr als das sie ging ins Freie. Sie wagte einen schnellen Blick zurück. Markus hatte sich in eine sitzende Position aufgerichtet und war gerade dabei mit zusammengebissenen Zähnen, das Messer, das tief in seiner Brust steckte, herauszuziehen. Seine Hosen hingen ihm immernoch um die Knöchel und ein kleines, rotes Rinnsal lief über seine nackte Brust. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Mit letzter Kraft stand sie auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding, sie strauchelte und konnte sich im letzten Moment an einem Pfosten der Veranda festhalten. Schwärze begann sich über sie zu legen und verzweifelt biss sie sich auf die Zunge. Der Schmerz holte sie sofort zurück in die Wirklichkeit und schwankend lief sie die Stufen der Veranda hinunter. Mit einem schnellen Blick sah sie sich um. Sie musste so schnell wie möglich die Straße erreichen. Zu ihrer Linken verlief das u-förmige Gebäude, hier kam sie nicht weiter. Sie lief also an Markus Wagen vorbei und direkt auf das kleine Weidegatter zu. Spitze Steine und kleine Glasscherben schnitten in ihre nackten Fußsohlen, doch sie achtete nicht weiter darauf. Hinter sich hörte sie schwere Schritte auf den Holzdielen und dieses Geräusch mobilisierte das letzte Bisschen Kraft, das ihr geblieben war. Sie beschleunigte ihre Schritte und hatte das Weidegatter fast erreicht, als sie Markus erneut hinter sich brüllen hörte „komm zurück Du Schlampe, Du gehörst mir.“ Gleich darauf erfolgte ein lauter Knall und Sand spritzte neben ihren Füßen auf. Eine weitere Kugel schlug gleich darauf in das Weidegatter ein und kleine Holzsplitter flogen davon. Sarah passierte unversehrt das Gatter und rannte nun im Zickzack die lange, unebene Einfahrt entlang. Hinter sich hörte sie Markus vor Wut heulen, doch er schien schwer verletzt zu sein, denn er folgte ihr nicht. Ihr Lungen begannen zu brennen und ihre Beine waren schwer wie Blei. Lange konnte sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten. In der Ferne tauchte das graue Band der Straße auf und der Anblick gab Sarah neuen Mut. Als sie die Einmündung fast erreicht hatte, hörte sie hinter sich leises Motorengeräusch, daß schnell näher kam. Die Panik klopfte erneut bei ihr an und verzweifelt blickte Sarah die Straße entlang. Links war nichts weiter als das endlose Band der Straße zu erkennen, doch als sie nach rechts blickte, sah sie, wie sich ein Wagen näherte. Hätte sie noch Luft in ihren Lungen gehabt, hätte sie laut geschrien vor Freude doch so trat sie mit letzter Kraft in die Mitte der Fahrbahn und blieb dort einfach stehen. Kurz blickte sie zurück und sah eine große Staubwolke schnell näher kommen. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Fahrzeug, daß sie nun fast erreicht hatte. Für einen Augenblick war sie sich sicher, daß der Fahrer des Wagens einfach weiter fahren würde und sie hier dem sicheren Tod überlassen würde, doch ihre Glückssträhne schien nicht abreißen zu wollen, denn mit quietschenden Reifen hielt das Auto vor ihr an. Ein Mann mitte fünfzig, mit grauen Schläfen und einem mächtigen Bauch öffnete die Fahrertür, als sie schwankend auf den Wagen zusteuerte. „Kann ich ihnen helfen Miss?“ fragte er überflüssigerweise. Sarah hatte inzwischen die Beifahrertür erreicht „bitte, bringen sie mich von hier weg. So ein Verrückter hat mich gefangen gehalten, da kommt er schon,“ ängstlich deutete sie mit dem Kopf in Richtung Staubwolke, die jetzt schon gefährlich nahe an der Kreuzung war. „Bitte, schnell,“ sagte sie und riß die Beifahrertür auf. Der Mann blickte für einen kurzen Moment zwischen Staubwolke und Sarah hin und her, dann schien er sich für die blutüberströmte Frau entschieden zu haben und stieg wieder in den Wagen ein. Noch bevor Sarah sich anschnallen konnte, trat der Mann das Gaspedal voll durch und sie wurde in ihren Sitz gepresst. Sie passierten gerade die Einmündung, als Markus am Steuer des dunklen Kombis auf die Straße schoß. Um Haaresbreite verfehlte er das Heck ihres Autos und raste ungebremst in den gegenüberliegenden Straßengraben. Unter großer Anstrengung drehte Sarah sich in ihrem Sitz um und sah, wie sich der Kombi mehrmals überschlug und dann auf dem Dach liegen blieb. Mit einem erleichterten Seufzer lies sie sich in die weichen Polster sinken und schloss die Augen. „Ich bringe sie am besten in das nächste Krankenhaus,“ sagte der Retter neben ihr und Sarah schrak aus ihrer Dämmerung hoch. „Nein, bitte. Ich möchte einfach nur nach Hause zu meinem Freund. “ sagte sie und sah dabei den Mann neben ihr flehend an. Der Mann lächelte „o.k., das kann ich verstehen. Wo wohnt denn ihr Freund?“ Sarah nannte ihm die Adresse und aus den Augenwinkeln nahm sie seinen überraschten Gesichtsausdruck war. Er musterte sie mit einem schnellen Seitenblick „mein Gott Mädchen, was hat der Typ ihnen bloß angetan?“ fragte er. „Das ist eine lange Geschichte,“ entgegnete Sarah, schloss die Augen und gnädige Schwärze senkte sich über sie.

Als sie in die Straße einbogen, in der A.J. wohnte, kam Sarah wieder zu sich. Einige hundert Meter vor sich erblickte sie das große, weiße Haus, vor dem etliche Autos parkten, darunter zwei Streifenwagen. Erleichterung und Freude durchströmten sie. Sie war wieder zu Hause. Ihr Retter parkte hinter einem blauen BMW und stellte den Motor ab. „Ich denke, ich bringe sie lieber bis zur Tür,“ sagte er „Sie sehen nicht so aus, als ob sie das noch alleine schaffen,“ mit diesen Worten öffnete er die Tür und kam mit schnellen Schritten um den Wagen herum. Als er die Beifahrertür öffnete, fiel Sarah ihm halb entgegen und schnell fing er sie auf. „Na, na, Mädchen, jetzt nicht schlapp machen. Wir haben es gleich geschafft.“ Er fasste sie um die Hüfte und Sarah legte ihm einen Arm um die Schulter. Langsam näherten sie sich der Eingangstür. Halb erwartete Sarah, daß die Tür aufgerissen würde und A.J., wie am Tage ihrer Ankunft, die Stufen der Veranda herunter geeilt kam, um sie zu begrüßen. Doch nichts rührte sich. Endlich hatten sie es geschafft und ihr Retter drückte den Klingelknopf. Sarah nahm den Arm von seiner Schulter und richtete sich etwas auf. Wenn sie schon hier stand, mit blutverschmiertem T-Shirt, nur in ihrer Unterhose und mit bloßen Füßen, wollte sie wenigstens etwas Haltung zeigen. Die Tür wurde aufgerissen und da stand er vor ihr. Unter A.J.s Augen lagen dunkle Schatten und er hatte sich scheinbar seit dem letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, nicht mehr rasiert. Jetzt weiteten sich seine Augen vor Entsetzen „oh mein Gott,“ war das letzte was sie hörte, dann brach sie endgültig zusammen.

Kapitel 29