Kapitel 8
Die nächsten Wochen verbrachte sie hauptsächlich mit Arbeit. Eines ihrer Babys ging in die Endphase und wie üblich hatte sie hierfür einige Überstunden zu leisten. Wenn sie nach Hause kam wartete meistens eine Mail von A.J. auf sie. Mittlerweile war es sowas wie ein Ritual geworden, daß er versuchte herauszubekommen, wie sie aussah. Doch all seine Beteuerungen, daß sie sich ganz sicher treffen würden und es ihm egal war, ob sie nun fett und unansehnlich oder eine Schönheit war, konnten sie nicht umstimmen. Sie konnte selbst nicht sagen warum sie sich dagegen sträubte ihm einfach eine kurze Beschreibung von sich zu schicken. Sie fühlte sich einfach nicht wohl bei dem Gedanken. Inzwischen hatten sie sich recht gut kennengelernt. Meistens konnte sie an seinen ersten Sätzen erkennen, ob er momentan gerade gestresst und bedrückt war, oder guter Dinge und hochmotiviert. Er wiederum war für sie ein wichtiger Seelentröster geworden. Wenn es in der Arbeit mal nicht so gut lief, oder sie sich von Katrin vernachlässigt fühlte da diese die meiste Zeit mit ihrem Martin verbrachte, dann war er für sie da und hörte ihr zu. So komisch es klingen mochte, aber obwohl sie noch nie persönlich ein Wort miteinander gewechselt hatten, waren sie sich doch sehr nahe gekommen. Zwei-, dreimal hatten sie auch wieder miteinander gechattet. Einmal hatten sie sich zufällig im Netz getroffen und drei Stunden miteinander gesprochen. Die anderen Male hatten sie sich verabredet. Es war sogar soweit gegangen, daß sie sich samstags morgens um acht Uhr aus dem Bett gequält hatte, weil A.J. auch gerne mal abends mit ihr chatten wollte. Er meinte, es wäre doch eine ganz andere Atmosphäre, wenn es draußen schon dunkel sei und er seinen Arbeitstag hinter sich hatte. Es war dann auch ein ganz besonderes Erlebnis für Sarah gewesen. Normalerweise meldete er sich bei ihr, wenn es bei ihm Nachmittag und er mehr oder weniger gerade aufgestanden war. Diesmal trafen sie sich direkt nach einem Konzert von ihm. Er erzählte von den tausenden von kreischenden Fans, die ihm zugejubelt hatten, dem Meer von Köpfen und Armen und die vielen Stimmen die sich zu einer einzigen vereinigten wenn sie die Lieder mitsangen. Er war so aufgedreht und witzig, daß Sarah den Eindruck hatte, ein völlig neue Person vor sich zu haben. Sie hatten im Laufe der Zeit festgestellt, daß sie über die selben Dinge lachen konnten, das sie auf die gleichen Filme standen und ihr Musikgeschmak zumindest ähnlich war. Er erzählte ihr, wie es ihm auf der Tour erging, was er und seine Freunde so den ganzen Tag erlebten und wie seine Ängste und Ziele aussahen. Ab und zu waren seinen Mails kleine Kommentare von seinen Bandmitgliedern beigefügt. Scheinbar hatte es sich herumgesprochen, daß er da eine Brieffreundin in Deutschland gefunden hatte und jeder wollte mal Hallo sagen, sich vorstellen und ein paar Kommentare über A.J. abgeben. Sie selbst erzählte ihm vom Tod ihrer Eltern, wie sie ein Jahr nur wie ein Roboter vor sich hin lebte, wie sie dadurch Katrin kennengelernt und wie diese ihr geholfen hatte, wieder einen Draht zu ihrem Bruder zu finden, der sich durch seine eigene Trauer von ihr abgekapselt hatte. Sie berichtete von der voranschreitenden Arbeit an ihrem Projektantrag und das sie insgeheim hoffte, diesmal den ersten Preis damit zu gewinnen. Als er sie eines Tages fragte, warum sie eine zeitlang Probleme gehabt hatte morgens aus dem Bett zu kommen, antwortete sie ausweichend, daß es ihr zu diesem Zeitpunkt einfach allgemein nicht gut ging. Die Geschichte mit Markus wollte sie ihm nicht erzählen. Der Einzige, der die Einzelheiten kannte, war ihr Bruder. Selbst Katrin hatte sie sie nie erzählt. Es war ihr bewusst, das Katrin etwas ahnte. Nachdem sie allerdings einmal nachgefragt hatte und auf eine undurchdringliche Mauer des Schweigens gestoßen war, hatte sie sich wohl dazu entschlossen zu warten, bis Sarah von sich aus darüber sprach. Einmal die Woche traf sich Sarah mit ihrem Bruder. Sie hatten irgendwann festgestellt, daß sie sich, trotz der geringen Entfernung in der sie wohnten, sehr selten sahen und so hatten sie einen festen Tag in der Woche vereinbart, an dem sie füreinander kochten und die neusten Neuigkeiten austauschten. Jona war am Anfang recht unbeeindruckt von ihrer E-Mail-Bekanntschaft mit A.J. gewesen. Da es sich hier um eine Boygroup handelte und er für solche Musik wenig übrig hatte, hielt sich sein Interesse in Grenzen. Nachdem Sarah allerdings jede Woche mit leicht geröteten Wangen vor ihm saß und ihm das Neuste aus A.J.s Mails berichtete, konnte er nicht umhin sich etwas näher mit dem Mann zu beschäftigen der scheinbar seit Jahren der erste Mann war, der seine Schwester so beeindrucken konnte. Er stellte zu seiner Beruhigung fest, daß es sich hierbei scheinbar um einen recht netten, vielleicht ein bisschen durchgeknallten Typ handelte, der leider weit weg war und Millionen auf dem Bankkonto hatte. Keine schlechten Voraussetzung, sollten die beiden sich tatsächlich mal kennenlernen. Am Tag des Abgabetermins für ihren Projektantrag hatten sich Sarah und A.J. zum chatten verabredet. Pünktlich um acht Uhr abends war sie online und wartete darauf, daß er erschien. Sie musste nur einige Sekunden warten, dann meldete der Computer, daß Bone69 jetzt online war. Wie immer entstand nun der Kampf, wer zuerst sein Telegramm absenden konnte. Sarah verlor. Kurz bevor sie auf senden klicken konnte erschien die kleine Nachricht auf ihrem Monitor Bone69 schickt Ihnen ein Telegramm. Wollen sie jetzt antworten? Sie klickte auf jetzt antworten und schon erschienen seine Worte auf ihrem Bildschirm. Bone69 Hi Sofcake100 Hallo A.J. Bone69 War ausnahmsweise mal schneller heute ;-) Softcake100 Glück gehabt. Bin scheinbar zu ausgepowert. Bone69 Was ist passiert? Der Abgabetermin? Softcake100 Ja der Termin, bin geradeso fertig geworden. Dauernd wollten irgendwelche Leute was von mir, so daß ich nicht so voran kam, wie ich gehofft hatte, aber jetzt ist Gott sei Dank alles geschafft. Heute nachmittag habe ich meinem Chef das ziemlich dicke Packet übergeben. Bone69 Gratuliere, tamtarrada. Bin stolz auf Dich. Softcake100 Danke, das höre ich gerne. Bin auch stolz auf mich. War ein hartes Stück Arbeit. Bone69 Geht es Dir auch immer so, daß Du nach solchen Aktionen total zufrieden und glücklich bist? Wenn ich einen Song fertig geschrieben habe und er ist so richtig perfekt geworden, dann lehne ich mich zurück und könnte die ganze Welt umarmen. Sofcake100 Ja, ich kenne das Gefühl. Leider ist niemand hier, den ich jetzt umarmen könnte :-). Bone69 Und was ist mit mir? Sofcake100 Du bist momentan zu kalt und eckig um Dich zu umarmen ;-). Bone69 LOL. Schließ einfach Deine Augen und stell Dir vor, ich drück Dich ganz fest. Sarah tat wie ihr geheißen. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie er jetzt hinter ihrem Stuhl stand und die Arme um sie legte. Sie konnte fast seinen Atem an ihrem Ohr kitzeln fühlen. Ein leises Ping holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück, als seine nächsten Worte auf dem Bildschirm erschienen. Bone69 Ein schönes Gefühl Dich im Arm zu haben. Softcake100 Ja, Du bist ein guter Im-Arm-Halter ;-). Bone69 ;-) Danke, ich gebe mein Bestes. Leider ist die Wirklichkeit ziemlich ernüchternd. Ich denke, es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, wie wir uns endlich mal persönlich drücken können. Sarah erschrak. Damit hatte sie nicht gerechnet. Bisher war es für sie wie eine unausgesprochene Vereinbarung gewesen, daß sie sich nicht treffen würden, trotz der ganzen Frotzeleien darüber. Scheinbar sah er das nicht so. Warum auch? Er wußte nicht wie es war, einem Mann gegenüber zu stehen und bei einer falschen Bewegung von ihm zusammenzuzucken, weil sie dachte er würde sie schlagen. Bei manchen Männern genügte es ihr schon mit ihnen alleine in einem Raum zu sein, daß sie sich äußerst unwohl fühlte. Das alles konnte sie ihm nicht erklären, ohne ihm die Geschichte mit Markus zumindest ansatzweise zu erzählen. Das wollte sie auf keinen Fall. Was sollte sie nur tun? Während sie so dasaß und verzweifelt hin und her überlegte, Gedanken aufgriff und sie wieder verwarf, gingen nach und nach weitere Telegramme von ihm ein, die immer beunruhigter klangen. Bone69 He, noch da? Bone69 Halloooooo Bone69 Sarah, alles klar bei Dir? Bone69 Bitte sag was, ich sehe doch, das Du noch online bist. Bone69 Sarah, was ist los, ich mache mir Sorgen. Sarah beschloss einfach drauflos zu schreiben. Irgendwas würde ihr hoffentlich einfallen. Softcake100 Bin noch da. Bin wohl etwas überrascht. Ein Treffen ist mir nie in den Sinn gekommen. Bone69 Gott sei Dank. Habe schon befürchtet Du bist vom Stuhl gefallen oder sowas. Warum hast Du nie über ein Treffen nachgedacht? Ich bin eigentlich der Meinung, daß das der nächste logische Schritt ist. Immerhin stehen wir uns sehr nahe ... dachte ich zumindest bis jetzt. Sofcake100 Das denke ich doch auch und es tut mir leid, wenn Du jetzt vielleicht daran zweifeln wirst, aber ich möchte mich nicht mit Dir treffen. Jetzt stand es da, schwarz auf weiß und sie wußte, daß das die reine Wahrheit war. Sie hatte so sehr Angst davor ihn zu treffen, vielleicht festzustellen, daß er nicht so nett und sensibel war, wie er durch seine Mails schien, daß es keine Alternative gab. Tränen schossen ihr in die Augen, als seine Antwort ausblieb. Sie begriff in diesem Moment, wie wichtig er für sie geworden war. Sie wollte ihn nicht verlieren. Doch sich mit ihm zu treffen kam für sie einfach nicht in Frage. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange als endlich, nach einer halben Ewigkeit, seine Antwort kam. Bone69 Ich weiß nicht, warum Du so denkst. Ich weiß nur, daß Du mir wichtig bist. Wenn das Dein letztes Wort ist, muss ich das so akzeptieren. Ein erleichterter Schluchzer entrang sich ihrer Kehle als sie auf antworten klickte Sofcake100 Du weißt garnicht, wie froh ich darüber bin. Ich möchte Dich nicht verlieren. Ich habe meine Gründe für meine Entscheidung und ich bin sehr froh, daß Du das so akzeptierst. Bone69 Es wird nicht einfach sein. Ehrlich gesagt verstehe ich das nicht wirklich. Warum willst Du mich nicht treffen? Sofcake100 Können wir es nicht einfach so dabei belassen? Es liegt nicht an Dir, ganz bestimmt nicht. Es hat einzig und alleine etwas mit mir zu tun. Bone69 Du verlangst ziemlich viel. Sofcake100 Ich weiß, aber mehr kann ich Dir im Moment leider nicht geben. Bone69 O.k. fürs erste lasse ich das mal so stehen. Sicherlich werde ich ab und zu nochmal nachfragen, ob Du es Dir inzwischen anders überlegt hast. So schnell gebe ich nicht auf :-). Softcake100 Meinetwegen, aber die Antwort wird immer gleich ausfallen. Bone69 Warten wir es ab. Ich bin ganz gut im Überzeugen. Softcake100 Du wirst Dir vielleicht zum ersten Mal die Zähne ausbeißen. Ich bin nämlich eine Meisterin im nein-sagen. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe ich das auch durch. Bone69 Lass uns einen Handel abschließen. Ich werde versuchen nicht zu sehr zu bohren. Im Gegenzug dazu versprichst Du mir, daß Du mir sofort Bescheid gibst, wenn Du Deine Meinung aus irgendwelchen Gründen ändern solltest, o.k.? Sofcake100 Klingt gut, erwarte aber nicht zuviel. Bone69 Ich will nur, daß Du weißt, daß ich jederzeit für Dich da bin und hier sitze und auf Dich warte. Softcake100 Das ist lieb und ich weiß es zu schätzen. Bone69 O.k. das schreit nach einem Themenwechsel. Softcake100 Lol. Wie immer hast Du den Ernst der Lage richtig erkannt ;-). Bone69 Ja, ich denke, ich bin garnicht so übel, oder? :-) Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie damit, über die Ereignisse des Tages zu plaudern. A.J. wollte mehr über ihre Kollegen im Büro erfahren, Sarah interessierte sich für die Party von gestern Abend auf der A.J. gewesen war. Als die Uhr dann schließlich elf Uhr zeigte, verabschiedete Sarah sich. Sofcake100 Es wird langsam Zeit für mich, ins Bett zu gehen. Bone69 Ich werde niemals verstehen, wie ein normaler Mensch vor ein Uhr nachts ins Bett gehen kann. Softcake100 Das ist ganz einfach. Versuche einfach jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen. Spätestens nach zwei Wochen schaffst es auch Du früher ins Bett zu gehen. Bone69 Da hast Du wohl recht. Dann also ein gute Nacht. Softcake100 und Dir einen schönen Tag ;-). Bone69 Träume was schönes. Schreib mir bald und denke nochmal über ein Treffen nach. Es würde mir viel bedeuten. Softcake100 Nachdenken kann ich, ich werde aber zu keinem anderen Ergebnis kommen. Bone69 Habe schon verstanden. Also, dann mach, das Du in Dein Nachthemd kommst. Viel Spaß morgen in der Arbeit. Softcake100 Vielen Dank. Bis bald. CU x Bone69 Gute Nacht x Wiederwillig beendete sie die Internetverbindung. Es viel ihr nie leicht sich von ihm zu verabschieden um sich dann rumzudrehen und ins Bett zu gehen. Heute viel es ihr besonders schwer. Das sie ihn nicht sehen wollte, hatte ihn getroffen. Sie war froh, daß er ihre Entscheidung so schnell akzeptiert hatte. Allerdings hatte sie auch gemerkt, daß es ihm nicht leicht gefallen war. Er würde sicherlich noch öfters auf dieses Thema zu sprechen kommen. Doch sie sah im Moment keinen Grund, warum sich ihre Meinung ändern sollte. |