In dem kleinen Wirtshaus, in das Karl nach kurzem
Marsch kam, und das eigentlich nur eine kleine letzte Station des New Yorker
Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werden pflegte,
verlangte Karl die billigste Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte, mit dem Sparen
sofort anfangen zu müssen. Er wurde, seiner Forderung entsprechend, vom Wirt mit einem
Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn ein zerrauftes, altes
Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten Schlaf, empfing und, fast ohne ihn
anzuhören, mit ununterbrochenen Ermahnungen, leise aufzutreten, in ein Zimmer führte,
dessen Tür sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben, schloss.
Karl wusste zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen waren oder
ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es; schließlich
bemerkte er eine kleine, verhängte Luke, deren Tuch er wegzog, wodurch einiges Licht
hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aber beide schon besetzt waren. Karl sah dort
zwei junge Leute, die in schwerem Schlafe lagen und vor allem deshalb wenig
vertrauenswürdig erschienen, weil sie, ohne verständlichen Grund, angezogen schliefen;
der eine hatte sogar seine Stiefel an.
In dem Augenblick, als Karl die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer die Arme
und Beine ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, dass Karl trotz seinen
Sorgen in sich hineinlachte.
Er sah bald ein, dass er, abgesehen davon, dass auch keine andere Schlafgelegenheit,
weder Kanapee noch Sofa, vorhanden war, zu keinem Schlafe werde kommen können, denn er
durfte seinen erst wiedergewonnenen Koffer und das Geld, das er bei sich trug, keiner
Gefahr aussetzen. Weggehen aber wollte er auch nicht, denn er getraute sich nicht, an der
Zimmerfrau und dem Wirt vorüber das Haus gleich wieder zu verlassen. Schließlich war es
ja hier doch vielleicht nicht unsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war freilich,
dass im ganzen Zimmer, soweit sich das bei dem halben Licht feststellen ließ, kein
einziges Gepäckstück zu entdecken war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich waren
die zwei jungen Leute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen mussten und
deshalb angezogen schliefen. Dann war es allerdings nicht besonders ehrenvoll, mit ihnen
zu schlafen, aber desto ungefährlicher. Nur durfte er sich aber, solange das nicht außer
jedem Zweifel stand, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.
Unter dem Bett stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich Karl mit schleichenden
Schritten holte. Er hatte kein Bedenken, Licht zu machen, denn das Zimmer gehörte nach
Auftrag des Wirtes ihm ebenso gut wie den beiden anderen, die überdies den Schlaf der
halben Nacht schon genossen hatten und durch den Besitz der Betten ihm gegenüber in
unvergleichlichem Vorteil waren. Im Übrigen gab er sich natürlich durch Vorsicht beim
Herumgehen und Hantieren alle Mühe, sie nicht zu wecken.
Zunächst wollte er seinen Koffer untersuchen, um einmal einen Überblick über seine
Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte und von denen sicher das
Wertvollste schon verloren gegangen sein dürfte. Denn wenn der Schubal seine Hand auf
etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, dass man es unbeschädigt zurückbekommt. Allerdings
hatte er vom Onkel ein großes Trinkgeld erwarten können, während er aber andererseits
wieder beim Fehlen einzelner Objekte auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn
Butterbaum, sich hatte ausreden können.
Über den ersten Anblick beim Öffnen des Koffers war Karl entsetzt. Wie viele Stunden
hatte er während der Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnen und wieder neu zu
ordnen, und jetzt war alles so wild durcheinander hineingestopft, dass der Deckel beim
Öffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang.
Bald aber erkannte Karl zu seiner Freude, dass die Unordnung nur darin ihren Grund
hatte, dass man seinen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatte und für den der
Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen war, nachträglich mit eingepackt hatte.
Nicht das Geringste fehlte. In der Geheimtasche des Rockes befand sich nicht nur der Pass,
sondern auch das von zu Hause mitgenommene Geld, sodass Karl, wenn er jenes, das er bei
sich hatte, dazu legte, mit Geld für den Augenblick reichlich versehen war. Auch die
Wäsche, die er bei seiner Ankunft auf dem Leib getragen hatte, fand sich vor, rein
gewaschen und gebügelt. Er legte auch sofort Uhr und Geld in die bewährte Geheimtasche.
Das einzig Bedauerliche war, dass die Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen
Sachen ihren Geruch mitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel
beseitigen ließ, hatte Karl die Aussicht, monatelang in diesen Geruch eingehüllt
herumzugehen.
Beim Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zuunterst lagen es waren dies eine
Taschenbibel, Briefpapier und die Fotografien der Eltern , fiel ihm die Mütze vom
Kopf und in den Koffer. In ihrer alten Umgebung erkannte er sie sofort, es war seine
Mütze, die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben hatte. Er hatte jedoch
aus Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht getragen, da er wusste, dass man in Amerika
allgemein Mützen statt Hüte trägt, weshalb er die seine nicht schon vor der Ankunft
hatte abnützen wollen. Nun hatte sie allerdings Herr Green dazu benützt, um sich auf
Karls Kosten zu belustigen. Ob ihm vielleicht auch dazu der Onkel den Auftrag gegeben
hatte? Und in einer unabsichtlichen, wütenden Bewegung fasste er den Kofferdeckel, der
laut zuklappte.
Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst streckte sich und
gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast der ganze Kofferinhalt auf
dem Tisch ausgeschüttet; wenn es Diebe waren, brauchten sie nur heranzutreten und
auszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit vorzukommen, sondern um auch sonst gleich
Klarheit zu schaffen, ging Karl mit der Kerze in der Hand zu den Betten und erklärte, mit
welchem Rechte er hier sei. Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zu haben,
denn noch viel zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn bloß ohne jedes
Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere Arbeit oder Not hatten ihnen
vorzeitig die Knochen aus den Gesichtern vorgetrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen
ums Kinn, ihr schon lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf, und
ihre tief liegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor Verschlafenheit mit den
Fingerknöcheln.
Karl wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte deshalb: »Ich
heiße Karl Rossmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie mir, da wir doch ein
gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität. Ich erkläre nur noch
gleich, dass ich keinen Anspruch auf ein Bett habe, da ich so spät gekommen bin und
überhaupt nicht die Absicht habe, zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem
schönen Kleid stoßen, ich bin völlig arm und ohne Aussichten.«
Der Kleinere von beiden es war jener, der die Stiefel anhatte deutete mit
Armen, Beinen und Mienen an, dass ihn das alles gar nicht interessiere und dass jetzt
überhaupt keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich nieder und schlief
sofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nieder, sagte aber
noch vor dem Einschlafen mit lässig ausgestreckter Hand: »Der da heißt Robinson und ist
Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe.« Kaum hatte er
das gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Karls Kerze aus und fiel auf das Kissen
zurück.
Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt, sagte sich Karl und kehrte zum
Tisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut. Unangenehm
war bloß, dass der eine Irländer war. Karl wusste nicht mehr genau, in welchem Buch er
einmal zu Hause gelesen hatte, dass man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle.
Während seines Aufenthaltes beim Onkel hätte er freilich die beste Gelegenheit gehabt,
der Frage nach der Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehen, hatte dies aber,
weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig versäumt. Nun wollte er
wenigstens mit der Kerze, die er wieder angezündet hatte, diesen Irländer genauer
ansehen, wobei er fand, dass gerade dieser erträglicher aussah als der Franzose. Er hatte
sogar noch eine Spur von runden Wangen und lächelte im Schlaf ganz freundlich, soweit das
Karl aus einiger Entfernung, auf den Fußspitzen stehend, feststellen konnte.
Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Karl auf den einzigen
Stuhl des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er ja dafür die ganze
Nacht noch verwenden konnte, und blätterte ein wenig in der Bibel, ohne etwas zu lesen.
Dann nahm er die Fotografie der Eltern zur Hand, auf welcher der kleine Vater hoch
aufgerichtet stand, während die Mutter in dem Fauteuil vor ihm, ein wenig eingesunken,
dasaß. Die eine Hand hielt der Vater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere, zur
Faust geballt, auf einem illustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen
Schmucktischchen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine andere Fotografie, auf welcher Karl
mit seinen Eltern abgebildet war. Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an, während er
nach dem Auftrag des Fotografen den Apparat hatte anschauen müssen. Diese Fotografie
hatte er aber auf die Reise nicht mitbekommen.
Desto genauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen Seiten den
Blick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch den Anblick durch
verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendig werden, sein waagerechter, starker
Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich, es war keine gute Aufnahme. Die
Mutter dagegen war schon besser abgebildet, ihr Mund war so verzogen, als sei ihr ein Leid
angetan worden und als zwinge sie sich zu lächeln. Karl schien es, als müsse dies jedem,
der das Bild ansah, so sehr auffallen, dass es ihm im nächsten Augenblick wieder schien,
die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast widersinnig. Wie könne man von
einem Bild so sehr die unumstößliche Überzeugung eines verborgenen Gefühls des
Abgebildeten erhalten! Und er sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken
wieder zurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorne an der Lehne des
Fauteuils herabhing, zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleicht doch gut wäre,
den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide (und der Vater zuletzt sehr
streng in Hamburg) von ihm verlangt hatten. Er hatte sich freilich damals, als ihm die
Mutter am Fenster an einem schrecklichen Abend die Amerikareise angekündigt hatte,
unabänderlich zugeschworen, niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines
unerfahrenen Jungen hier in den neuen Verhältnissen! Ebenso gut hätte er damals
schwören können, dass er nach zwei Monaten amerikanischen Aufenthalts General der
amerikanischen Miliz sein werde, während er tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei
Lumpen beisammen war, in einem Wirtshaus vor New York, und außerdem zugeben musste, dass
er hier wirklich an seinem Platze war. Und lächelnd prüfte er die Gesichter der Eltern,
als könne man aus ihnen erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht
von ihrem Sohn zu bekommen.
In diesem Anschauen merkte er bald, dass er doch sehr müde war und kaum die Nacht
werde durchwachen können. Das Bild entfiel seinen Händen, dann legte er das Gesicht auf
das Bild, dessen Kühle seiner Wange wohl tat, und mit einem angenehmen Gefühl schlief er
ein.
Geweckt wurde er früh durch das Kitzeln unter der Achsel. Es war der Franzose, der
sich diese Zudringlichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schon vor Karls Tisch
und beide sahen ihn mit keinem geringeren Interesse an, als es Karl in der Nacht ihnen
gegenüber getan hatte. Karl wunderte sich nicht darüber, dass ihn ihr Aufstehen nicht
schon geweckt hatte; sie mussten durchaus nicht aus böser Absicht besonders leise
aufgetreten sein, denn er hatte tief geschlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehen und
offenbar auch das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.
Nun begrüßten sie einander ordentlich und mit einer gewissen Förmlichkeit, und Karl
erfuhr, dass die beiden Maschinenschlosser waren, die in New York schon lange Zeit keine
Arbeit hatten bekommen können und infolgedessen ziemlich heruntergekommen waren. Robinson
öffnete zum Beweise dessen seinen Rock, und man konnte sehen, dass kein Hemd da war, was
man allerdings auch schon an dem lose sitzenden Kragen hätte erkennen können, der hinten
am Rock befestigt war. Sie hatten die Absicht, in das zwei Tagereisen von New York
entfernte Städtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen frei waren.
Sie hatten nichts dagegen, dass Karl mitkomme, und versprachen ihm erstens, zeitweilig
seinen Koffer zu tragen, und zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommen sollten, ihm eine
Lehrlingsstelle zu verschaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeit vorhanden sei, eine
Leichtigkeit wäre. Karl hatte noch kaum zugestimmt, als sie ihm schon freundschaftlich
den Rat gaben, das schöne Kleid auszuziehen, da es ihm bei jeder Bewerbung um eine Stelle
hinderlich sein werde. Gerade in diesem Hause sei eine gute Gelegenheit, das Kleid
loszuwerden, denn die Zimmerfrau betreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Karl, der auch
rücksichtlich des Kleides noch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und
trugen es davon. Als Karl, allein gelassen und ein wenig schlaftrunken, sein altes
Reisekleid noch langsam anzog, machte er sich Vorwürfe, das Kleid verkauft zu haben, das
ihm vielleicht bei der Bewerbung um eine Lehrlingsstelle schaden, bei der um einen
besseren Posten aber nur nützen konnte, und er öffnete die Tür, um die beiden
zurückzurufen, stieß aber schon mit ihnen zusammen, die einen halben Dollar als Erlös
auf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche Gesichter machten, dass man sich unmöglich
dazu überreden konnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihren Verdienst gehabt, und
zwar einen ärgerlich großen.
Es war übrigens keine Zeit, sich darüber auszusprechen, denn die Zimmerfrau kam
herein, genau so verschlafen wie in der Nacht, und trieb alle drei auf den Gang hinaus,
mit der Erklärung, dass das Zimmer für neue Gäste hergerichtet werden müsse. Davon war
aber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Karl, der seinen Koffer gerade
hatte ordnen wollen, musste zusehen, wie die Frau seine Sachen mit beiden Händen packte
und mit einer Kraft in den Koffer warf, als seien es irgendwelche Tiere, die man zum
Kuschen bringen musste. Die beiden Schlosser machten sich zwar um sie zu schaffen, zupften
sie an ihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber wenn sie die Absicht hatten, Karl damit
zu helfen, so war das ganz verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappt hatte, drückte
sie Karl den Halter in die Hand, schüttelte die Schlosser ab und jagte alle drei mit der
Drohung aus dem Zimmer, dass sie, wenn sie nicht folgten, keinen Kaffee bekommen würden.
Die Frau musste offenbar gänzlich vergessen haben, dass Karl nicht von allem Anfang an zu
den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie als eine einzige Bande. Allerdings
hatten die Schlosser Karls Kleid ihr verkauft und damit eine gewisse Gemeinsamkeit
erwiesen.
Auf dem Gange mussten sie lange hin und her gehen, und besonders der Franzose, der sich
in Karl eingehängt hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte, den Wirt, wenn er sich
vorwagen sollte, niederzuboxen, und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein, dass er die
geballten Fäuste rasend aneinander rieb. Endlich kam ein unschuldiger kleiner Junge, der
sich strecken musste, als er dem Franzosen die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine
Kanne vorhanden, und man konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, dass noch Gläser
erwünscht wären. So konnte immer nur einer trinken und die beiden anderen standen vor
ihm und warteten. Karl hatte keine Lust zu trinken, wollte aber die anderen nicht kränken
und stand also, wenn er an der Reihe war, untätig da, die Kanne an den Lippen.
Zum Abschied warf der Irländer die Kanne auf die steinernen Fliesen hin. Sie
verließen, von niemandem gesehen, das Haus und traten in den dichten, gelblichen
Morgennebel. Sie marschierten im Allgemeinen still nebeneinander am Rande der Straße,
Karl musste seinen Koffer tragen, die anderen würden ihn wahrscheinlich erst auf seine
Bitte ablösen; hie und da schoss ein Automobil aus dem Nebel, und die drei drehten ihre
Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen, die so auffällig in ihrem Bau und so kurz in
ihrer Erscheinung waren, dass man nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von
Insassen zu bemerken. Später begannen die Kolonnen von Fuhrwerken, welche Lebensmittel
nach New York brachten, und die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen
so ununterbrochen dahinzogen, dass niemand die Straße hätte überqueren können. Von
Zeit zu Zeit verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte auf einer
turmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab schritt, um alles übersehen und mit einem
Stöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße sowie den von den Seitenstraßen hier
einmündenden Verkehr ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platze und zum
nächsten Polizisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigenden und aufmerksamen
Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ordnung gehalten wurde. Über die
allgemeine Ruhe staunte Karl am meisten. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen
Schlachttiere gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört als das Klappern der Hufe und
das Sausen der Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die
gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andrangs von den Seiten große
Umstellungen vorgenommen werden mussten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt
für Schritt, dann aber kam es auch wieder vor, dass für ein Weilchen alles blitzschnell
vorbeijagte, bis es, wie von einer einzigen Bremse regiert, sich wieder besänftigte.
Dabei stieg von der Straße nicht der geringste Staub auf, alles bewegte sich in der
klarsten Luft. Fußgänger gab es keine, hier wanderten keine einzelnen Marktweiber zur
Stadt wie in Karls Heimat, aber doch erschienen hie und da große, flache Automobile, auf
denen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben, also doch vielleicht Marktweiber, standen und
die Hälse streckten, um den Verkehr zu überblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt
zu holen. Dann sah man ähnliche Automobile, auf denen einzelne Männer, die Hände in den
Hosentaschen, herumspazierten. Auf einem dieser Automobile, die verschiedene Aufschriften
trugen, las Karl unter einem kleinen Aufschrei: »Hafenarbeiter für die Spedition Jakob
aufgenommen.« Der Wagen fuhr gerade ganz langsam, und ein auf der Wagentreppe stehender
kleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wanderer zum Einsteigen ein. Karl
flüchtete sich hinter die Schlosser, als könne sich auf dem Wagen der Onkel befinden und
ihn sehen. Er war froh, dass auch die beiden die Einladung ablehnten, wenn ihn auch der
hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen kränkte, mit dem sie das taten. Sie mussten
durchaus nicht glauben, dass sie zu gut waren, um in die Dienste des Onkels zu treten. Er
gab es ihnen, wenn auch natürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehen. Darauf bat
ihn Delamarche, sich gefälligst nicht in Sachen einzumischen, die er nicht verstehe;
diese Art, Leute aufzunehmen, sei ein schändlicher Betrug, und die Firma Jakob sei
berüchtigt in den ganzen Vereinigten Staaten. Karl antwortete nicht, hielt sich aber von
nun an mehr an den Irländer, er bat ihn auch, ihm jetzt ein wenig den Koffer zu tragen,
was dieser, nachdem Karl seine Bitte mehrmals wiederholt hatte, auch tat. Nur klagte er
ununterbrochen über die Schwere des Koffers, bis es sich zeigte, dass er nur die Absicht
hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu erleichtern, die ihm wohl schon im Hotel
angenehm aufgefallen war. Karl musste sie auspacken, der Franzose nahm sie zu sich, um sie
mit seinem dolchartigen Messer zu behandeln und fast ganz allein aufzuessen. Robinson
bekam nur hie und da eine Schnitte, Karl dagegen, der wieder den Koffer tragen musste,
wenn er ihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte, bekam nichts, als hätte er
sich seinen Anteil schon im Voraus genommen. Es schien ihm zu kleinlich, um ein Stückchen
zu betteln, aber die Galle regte sich in ihm.
Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit
welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte. An der Seite der Straße lagen
schlecht bebaute Felder, die sich um große Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht im
freien Lande standen. In den wahllos hingestellten einzelnen Mietskasemen zitterten die
vielen Fenster in der mannigfaltigsten Bewegung und Beleuchtung, und auf all den kleinen,
schwachen Balkonen hatten Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sie herum, sie
verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher und Wäschestücke im
Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten. Glitten die Blicke von den Häusern ab,
dann sah man Lerchen hoch am Himmel fliegen und unten wieder die Schwalben, nicht allzu
weit über den Köpfen der Fahrenden.
Vieles erinnerte Karl an seine Heimat und er wusste nicht, ob er gut daran tue, New
York zu verlassen und in das Innere des Landes zu gehen. In New York war das Meer und zu
jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat. Und so blieb er stehen und sagte
zu seinen beiden Begleitern, er habe doch wieder Lust, in New York zu bleiben. Und als
Delamarche ihn einfach weitertreiben wollte, ließ er sich nicht treiben und sagte, dass
er doch wohl noch das Recht habe, über sich zu entscheiden. Der Irländer musste erst
vermitteln und erklären, dass Butterford viel schöner als New York sei, und beide
mussten ihn noch sehr bitten, ehe er wieder weiterging. Und selbst dann wäre er noch
nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte, dass es für ihn vielleicht besser sei,
an einen Ort zu kommen, wo die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat keine so leichte
sei. Gewiss werde er dort besser arbeiten und vorwärts kommen, da ihn keine unnützen
Gedanken hindern würden.
Und nun war er es, der die beiden anderen zog, und sie freuten sich so sehr über
seinen Eifer, dass sie, ohne sich erst bitten zu lassen, den Koffer abwechselnd trugen und
Karl gar nicht recht verstand, womit er ihnen eigentlich diese Freude verursache. Sie
kamen in eine ansteigende Gegend, und wenn sie hie und da stehen blieben, konnten sie beim
Rückblick das Panorama New Yorks und seines Hafens immer ausgedehnter sich entwickeln
sehen. Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den East River,
und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein,
und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. Alles in beiden
Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern gab es kaum einen
Unterschied zwischen den großen und den kleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen
ging wahrscheinlich das Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen
als leichter Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe verjagbar zu sein schien.
Selbst in den Hafen, den größten der Welt, war Ruhe eingekehrt, und nur hie und da
glaubte man, wohl beeinflusst von der Erinnerung an einen früheren Anblick aus der Nähe,
ein Schiff zu sehen, das eine kurze Strecke sich fortschob. Aber man konnte ihm auch nicht
lange folgen, es entging den Augen und war nicht mehr zu finden.
Aber Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten nach rechts und
links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze und Gärten, die sie mit
Namen benannten. Sie konnten es nicht begreifen, dass Karl über zwei Monate in New York
gewesen war und kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte als eine Straße. Und sie
versprachen ihm, wenn sie in Butterford genug verdient hätten, mit ihm nach New York zu
gehen und ihm alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene
Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im
Anschluss daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen
begleitete und das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm hier
mit dem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallen hatte. So gab
es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die
sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen.
Einmal fragte Karl, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er Delamarches
und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger vielleicht auf den gleichen, vielleicht auf
meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dann weitergingen, fragte Karl, wann sie
frühestens mit genügendem Verdienst nach New York zurückkehren könnten. Delamarche
sagte, das könne schon ganz gut in einem Monat sein, denn in Butterford sei
Arbeitermangel und die Löhne seien hoch. Natürlich würden sie ihr Geld in eine
gemeinsame Kasse legen, damit zufällige Unterschiede im Verdienst unter ihnen als
Kameraden ausgeglichen würden. Die gemeinsame Kasse gefiel Karl nicht, obwohl er als
Lehrling natürlich weniger verdienen würde als ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte
Robinson, dass sie natürlich, wenn in Butterford keine Arbeit wäre, weiterwandern
müssten, entweder um als Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach
Kalifornien in die Goldwäscherei zu gehen, was, nach Robinsons ausführlichen
Erzählungen zu schließen, sein liebster Plan war.
»Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäschereien
wollen?« fragte Karl, der ungern von der Notwendigkeit solcher weiten, unsicheren Reisen
hörte.
»Warum ich Schlosser geworden bin?« sagte Robinson, »doch gewiss nicht deshalb,
damit meiner Mutter Sohn dabei verhungert. In den Goldwäschereien ist ein feiner
Verdienst.«
»War einmal«, sagte Delamarche.
»Ist noch immer«, sagte Robinson und erzählte von vielen dabei reich gewordenen
Bekannten, die noch immer dort waren, natürlich keinen Finger mehr rührten, aus alter
Freundschaft ihm aber und selbstverständlich auch seinen Kameraden zu Reichtum verhelfen
würden.
»Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen«, sagte Delamarche und sprach damit
Karl aus der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise war es nicht.
Während des Tages machten sie nur einmal in einem Wirtshaus Halt und aßen davor im
Freien an einem, wie es Karl schien, eisernen Tisch fast rohes Fleisch, das man mit Messer
und Gabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißen konnte. Das Brot hatte eine
walzenartige Form, und in jedem Brotlaib steckte ein langes Messer. Zu diesem Essen wurde
eine schwarze Flüssigkeit gereicht, die im Halse brannte. Delamarche und Robinson
schmeckte sie aber, sie erhoben oft auf die Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser
und stießen miteinander an, wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an Glas
hielten. Am Nebentisch saßen Arbeiter in kalkbespritzten Blusen, und alle tranken die
gleiche Flüssigkeit. Automobile, die in Mengen vorüberfuhren, warfen Schwaden von Staub
über die Tische hin. Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, man sprach erregt vom
Streik der Bauarbeiter, der Name Mack wurde öfters genannt. Karl erkundigte sich über
ihn und erfuhr, dass dies der Vater des ihm bekannten Mack und der größte Bauunternehmer
von New York war. Der Streik kostete ihn Millionen und bedrohte vielleicht seine
geschäftliche Stellung. Karl glaubte kein Wort von diesem Gerede schlecht unterrichteter,
übel wollender Leute.
Verbittert wurde das Essen für Karl außerdem dadurch, dass es sehr fraglich war, wie
das Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, dass jeder seinen Teil
gezahlt hätte, aber Delamarche wie auch Robinson hatten gelegentlich bemerkt, dass für
das letzte Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangen war. Uhr, Ring oder sonst etwas
Veräußerbares war an keinem zu sehen. Und Karl konnte ihnen doch nicht vorhalten, dass
sie an dem Verkauf seiner Kleider etwas verdient hätten, das wäre doch Beleidigung und
Abschied für immer gewesen. Das Erstaunliche aber war, dass weder Delamarche noch
Robinson irgendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten, vielmehr hatten sie gute Laune
genug, möglichst oft Anknüpfungen mit der Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit
schwerem Gang zwischen den Tischen hin und her ging. Ihr Haar hing ihr von den Seiten ein
wenig lose in Stirn und Wangen, und sie strich es immer wieder zurück, indem sie mit den
Händen darunter hinfuhr. Schließlich, als man vielleicht das erste freundliche Wort von
ihr erwartete, trat sie zum Tische, legte beide Hände auf ihn und fragte: »Wer zahlt?«
Nie waren Hände rascher aufgeflogen als jetzt jene von Delamarche und Robinson, die auf
Karl zeigten. Karl erschrak darüber nicht, denn er hatte es ja vorausgesehen, und sah
nichts Schlimmes darin, dass die Kameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete,
einige Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wenn es auch anständiger gewesen wäre,
diese Sache vor dem entscheidenden Augenblick ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war
bloß, dass er das Geld erst aus der Geheimtasche heraufbefördern musste. Seine
ursprüngliche Absicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not aufzuheben und sich
also vorläufig mit seinen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu stellen. Der Vorteil,
den er durch dieses Geld und vor allem durch das Verschweigen des Besitzes gegenüber den
Kameraden erlangte, wurde für diese mehr als reichlich dadurch aufgewogen, dass sie schon
seit ihrer Kindheit in Amerika waren, dass sie genügende Kenntnisse und Erfahrungen für
Gelderwerb hatten und dass sie schließlich an bessere Lebensverhältnisse als ihre
gegenwärtigen nicht gewöhnt waren. Diese bisherigen Absichten, die Karl rücksichtlich
seines Geldes hatte, mussten an und für sich durch diese Bezahlung nicht gestört werden,
denn einen Vierteldollar konnte er schließlich entbehren und deshalb also ein
Vierteldollarstück auf den Tisch legen und erklären, dies sei sein einziges Eigentum und
er sei bereit, es für die gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die Fußreise
genügte ein solcher Betrag auch vollkommen. Nun aber wusste er nicht, ob er genügend
Kleingeld hatte, und überdies lag dieses Geld sowie die zusammengelegten Banknoten
irgendwo in der Tiefe der Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn man den
ganzen Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, dass die
Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas erfuhren. Nun schien es zum Glück,
dass die Kameraden sich noch immer mehr für die Kellnerin interessierten als dafür, wie
Karl das Geld für die Bezahlung zusammenbrächte. Delamarche lockte die Kellnerin durch
die Aufforderung, die Rechnung aufzustellen, zwischen sich und Robinson und sie konnte die
Zudringlichkeiten der beiden nur dadurch abwehren, dass sie einem oder dem anderen die
ganze Hand auf das Gesicht legte und ihn wegschob. Inzwischen sammelte Karl, heiß vor
Anstrengung, unter der Tischplatte in der einen Hand das Geld, das er mit der anderen
Stück für Stück in der Geheimtasche herumjagte und herausholte. Endlich glaubte er,
obwohl er das amerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte, wenigstens der Menge
der Stücke nach, eine genügende Summe, und legte sie auf den Tisch. Der Klang des Geldes
unterbrach sofort die Scherze. Zu Karls Ärger und zu allgemeinem Erstaunen zeigte sich,
dass fast ein ganzer Dollar dalag. Keiner fragte zwar, warum Karl von dem Gelde, das für
eine bequeme Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte, früher nichts gesagt hatte,
aber Karl war doch in großer Verlegenheit. Langsam strich er, nachdem das Essen bezahlt
war, das Geld wieder ein, noch aus seiner Hand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für
die Kellnerin als Trinkgeld brauchte, die er umarmte und an sich drückte, um ihr dann,
von der anderen Seite her, das Geld zu überreichen.
Karl war ihnen dankbar, dass sie auf dem Weitermarsch keine Bemerkungen über das Geld
machten, und er dachte sogar eine Zeit lang daran, ihnen sein ganzes Vermögen
einzugestehen, unterließ das aber doch, da sich keine rechte Gelegenheit fand. Gegen
Abend kamen sie in eine mehr ländliche, fruchtbare Gegend. Ringsherum sah man ungeteilte
Felder, die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten, reiche Landsitze
umgrenzten die Straße, und stundenlang ging man zwischen den vergoldeten Gittern der
Gärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und vielemal hörten
sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern.
Eben ging die Sonne an dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie sich auf einer
Anhöhe inmitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hinwarfen, um sich von den Strapazen
auszuruhen. Delamarche und Robinson lagen da und streckten sich nach Kräften. Karl saß
aufrecht und sah auf die ein paar Meter tiefer führende Straße, auf der immer wieder
Automobile, wie schon während des ganzen Tages, leicht aneinander vorübereilten, als
würden sie in genauer Anzahl immer wieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen
Anzahl in der anderen Ferne erwartet. Während des ganzen Tages seit dem frühesten Morgen
hatte Karl kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen gesehen.
Robinson machte den Vorschlag, die Nacht hier zu verbringen, da sie alle genügend
müde wären, da sie dann desto früher ausmarschieren könnten und da sie schließlich
kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager vor Einbruch völliger Dunkelheit
finden könnten. Delamarche war einverstanden, und nur Karl glaubte zu der Bemerkung
verpflichtet zu sein, dass er Geld genug habe, um das Nachtlager für alle auch in einem
Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie würden das Geld noch brauchen, er solle es nur
gut aufheben. Delamarche verbarg nicht im geringsten, dass man mit Karls Geld schon
rechnete. Da sein erster Vorschlag angenommen war, erklärte nun Robinson weiter, nun
müssten sie aber vor dem Schlafen, um sich für morgen zu kräftigen, etwas Tüchtiges
essen, und einer solle das Essen für alle aus dem Hotel holen, das in nächster Nähe an
der Landstraße mit der Aufschrift »Hotel Occidental« leuchtete. Als der Jüngste, und
da sich auch sonst niemand meldete, zögerte Karl nicht, sich für diese Besorgung
anzubieten, und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brot und Bier erhalten hatte,
ins Hotel hinüber.
Es musste eine große Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste Saal des Hotels,
den Karl betrat, war von einer lauten Menge erfüllt, und an dem Büfett, das sich an
einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzog, liefen unaufhörlich viele Kellner
mit weißen Schürzen vor der Brust und konnten doch die ungeduldigen Gäste nicht
zufrieden stellen, denn immer wieder hörte man an den verschiedensten Stellen Flüche und
Fäuste, die auf den Tisch schlugen. Karl wurde von niemandem beachtet; es gab auch im
Saale selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen drei
Tischnachbarn verschwindenden Tischen saßen, holten alles, was sie wünschten, beim
Büfett. Auf allen Tischchen stand eine große Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen,
und alle Speisen, die vom Büfett geholt wurden, wurden vor dem Essen aus dieser Flasche
übergossen. Wollte Karl überhaupt erst zum Büfett kommen, wo ja dann wahrscheinlich,
besonders bei seiner großen Bestellung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden, musste
er sich zwischen vielen Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht nicht
ohne grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch alles wie gefühllos
hinnahmen, selbst als Karl einmal, allerdings gleichfalls von einem Gast, gegen ein
Tischchen gestoßen wurde, das er fast umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich zwar,
wurde aber offenbar nicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das Geringste von dem,
was man ihm zurief.
Beim Büfett fand er mit Mühe ein kleines freies Plätzchen, auf dem ihm eine lange
Weile die Aussicht durch die aufgestützten Ellbogen seiner Nachbarn genommen war. Es
schien hier überhaupt eine Sitte, die Ellbogen aufzustützen und die Faust an die
Schläfe zu drücken; Karl musste daran denken, wie der Lateinprofessor Dr. Krumpal gerade
diese Haltung gehasst hatte und wie er immer heimlich und unversehens herangekommen war
und mittels eines plötzlich erscheinenden Lineals mit scherzhaftem Ruck die Ellbogen von
den Tischen gestreift hatte.
Karl stand eng ans Büfett gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt, war hinter
ihm ein Tisch aufgestellt worden, und der eine der dort sich niederlassenden Gäste
streifte schwer, wenn er sich nur ein wenig beim Reden zurückbog, mit seinem großen Hut
Karls Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung, vom Kellner etwas zu bekommen, selbst als
die beiden plumpen Nachbarn befriedigt weggegangen waren. Einigemal hatte Karl einen
Kellner über den Tisch hin bei der Schürze gefasst, aber immer hatte sich der mit
verzerrtem Gesicht losgerissen. Keiner war zu halten, sie liefen nur und liefen nur. Wenn
wenigstens in der Nähe Karls etwas Passendes zum Essen und Trinken gewesen wäre, er
hätte es genommen, sich nach dem Preis erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude
weggegangen. Aber gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit heringartigen Fischen, deren
schwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer sein und würden
wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren kleine Fässchen mit Rum erreichbar,
aber Rum wollte er seinen Kameraden nicht bringen, sie schienen schon sowieso bei jeder
Gelegenheit nur auf den konzentriertesten Alkohol auszugehen und darin wollte er sie nicht
noch unterstützen.
Es blieb also Karl nichts übrig, als einen anderen Platz zu suchen und mit seinen
Bemühungen von vorne anzufangen. Nun aber war auch schon die Zeit sehr vorgerückt. Die
Uhr am anderen Ende des Saales, deren Zeiger man bei scharfem Hinsehen durch den Rauch
gerade noch erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber. Anderswo am Büfett war aber das
Gedränge noch größer als an dem früheren, ein wenig abgelegenen Platz. Außerdem
füllte sich der Saal desto mehr, je später es wurde. Immer wieder zogen durch die
Haupttüre mit großem Hallo neue Gäste ein. An manchen Stellen räumten Gäste
selbstherrlich das Büfett ab und setzten sich aufs Pult und tranken einander zu, es waren
die besten Plätze, man übersah den ganzen Saal.
Karl drängte sich zwar noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung, etwas zu
erreichen, hatte er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, dass er, der die
hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu dieser Besorgung angeboten hatte. Seine
Kameraden würden ihn mit vollem Rechte auszanken und gar noch denken, dass er, nur um
Geld zu sparen, nichts mitgebracht hatte. Nun stand er gar in einer Gegend, wo ringsherum
an den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen, gelben Kartoffeln gegessen wurden; es
war ihm unbegreiflich, wie sich die Leute das verschafft hatten.
Da sah er ein paar Schritte vor sich eine ältere, offenbar zum Hotelpersonal gehörige
Frau, die lachend mit einem Gaste redete. Dabei arbeitete sie fortwährend mit einer
Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofort war Karl entschlossen, seine Bestellung bei dieser
Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzige Frau im Saal eine Ausnahme vom
allgemeinen Lärm und Jagen bedeutete und dann auch aus dem einfachen Grunde, weil sie die
einzige Hotelangestellte war, die man erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, dass sie
nicht beim ersten Wort, das er an sie richten würde, in Geschäften fortlief. Aber ganz
das Gegenteil trat ein. Karl hatte sie noch gar nicht angeredet, sondern nur ein wenig
belauert, als sie, wie man eben manchmal mitten im Gespräch beiseiteschaut, zu Karl
hinsah und ihn, ihre Rede unterbrechend, freundlich und in einem Englisch, klar wie die
Grammatik, fragte, ob er etwas suche.
»Allerdings«, sagte Karl, »ich kann hier gar nichts bekommen.«
»Dann kommen Sie mit mir, Kleiner«, sagte sie, verabschiedete sich von ihrem
Bekannten, der seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeit erschien, fasste
Karl bei der Hand, ging zum Büfett, schob einen Gast beiseite, öffnete eine Klapptüre
im Pult, durchquerte den Gang hinter dem Pult, wo man sich vor den unermüdlich laufenden
Kellnern in Acht nehmen musste, öffnete eine zweifache Tapetentüre, und schon befanden
sie sich in großen, kühlen Vorratskammern, Man muss eben den Mechanismus
kennen, sagte sich Karl.
»Also, was wollen Sie denn?« fragte sie und beugte sich dienstbereit zu ihm herab.
Sie war sehr dick, ihr Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, natürlich im
Verhältnis, fast zarte Bildung. Karl war fast versucht, im Anblick der vielen Esswaren,
die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen aufgerichtet lagen, für seine Bestellung
rasch ein feineres Nachtessen auszudenken, besonders da er erwarten konnte, von dieser
einflussreichen Frau billiger bedient zu werden, schließlich aber nannte er doch wieder,
da ihm nichts Passendes einfiel, nur Speck, Brot und Bier.
»Nichts weiter?« fragte die Frau.
»Nein danke«, sagte Karl, »aber für drei Personen.«
Auf die Frage der Frau nach den beiden anderen erzählte Karl in ein paar kurzen Worten
von seinen Kameraden, es machte ihm Freude, ein wenig ausgefragt zu werden.
»Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge«, sagte die Frau und erwartete nun
offenbar weitere Wünsche Karls. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihn beschenken und
kein Geld annehmen wollen, und schwieg deshalb. »Das werden wir gleich zusammengestellt
haben«, sagte die Frau, ging mit einer bei ihrer Dicke bewunderungswerten Beweglichkeit
zu einem Tisch hin, schnitt mit einem langen, dünnen, sägeblattartigen Messer ein
großes Stück mit viel Fleisch durchwachsenen Specks ab, nahm aus einem Regal einen Laib
Brot, hob vom Boden drei Flaschen Bier auf und legte alles in einen leichten Strohkorb,
den sie Karl reichte. Zwischendurch erklärte sie Karl, sie habe ihn deshalb
hierhergeführt, weil die Esswaren draußen auf dem Büfett im Rauch und in den vielen
Ausdünstungen trotz dem schnellen Verbrauch immer die Frische verlieren. Für die Leute
draußen sei aber alles gut genug. Karl sagte nun gar nichts mehr, denn er wusste nicht,
wodurch er diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte an seine Kameraden, die
vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren, doch nicht bis in diese Vorratskammer
gedrungen wären und sich mit den verdorbenen Esswaren auf dem Büfett hätten begnügen
müssen. Man hörte hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauern mussten sehr dick sein, um
diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Karl hatte schon den Strohkorb ein Weilchen
lang in der Hand, dachte aber nicht ans Zahlen und rührte sich auch nicht. Nur als die
Frau noch nachträglich eine Flasche, ähnlich denen, die draußen auf den Tischen
standen, in den Korb legen wollte, dankte er schaudernd.
»Haben Sie noch einen weiten Marsch?« fragte die Frau.
»Bis nach Butterford«, antwortete Karl.
»Das ist noch sehr weit«, sagte die Frau.
»Noch eine Tagereise«, sagte Karl.
»Nicht weiter?« fragte die Frau.
»O nein«, sagte Karl.
Die Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam herein, schaute
suchend herum, wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel, in der ein breiter, mit
ein wenig Petersilie bestreuter Haufen von Sardinen lag, hingewiesen und trug dann diese
Schüssel in den erhobenen Händen in den Saal hinaus.
»Warum wollen Sie denn eigentlich im Freien übernachten?« fragte die Frau. »Wir
haben hier Platz genug. Schlafen Sie bei uns im Hotel.«
Das war für Karl sehr verlockend, besonders da er die vorige Nacht so schlecht
verbracht hatte.
»Ich habe mein Gepäck draußen«, sagte er zögernd und nicht ganz ohne Eitelkeit.
»Das bringen Sie nur her«, sagte die Frau, »das ist kein Hindernis.«
»Aber meine Kameraden!« sagte Karl und merkte sofort, dass die allerdings ein
Hindernis waren.
»Die dürfen natürlich auch hier übernachten«, sagte die Frau.
»Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten.«
»Meine Kameraden sind im Übrigen brave Leute«, sagte Karl, »aber sie sind nicht
rein.«
»Haben Sie den Schmutz im Saal nicht gesehen?« fragte die Frau und verzog das
Gesicht. »Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei Betten
vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das Hotel ist vollbesetzt, ich
bin auch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser als im Freien ist es jedenfalls.«
»Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen«, sagte Karl. Er stellte sich vor, welchen
Lärm die beiden auf den Gängen dieses feinen Hotels machen würden; Robinson würde
alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst diese Frau belästigen. »Ich weiß
nicht, warum das unmöglich sein soll«, sagte die Frau, »aber wenn Sie es so wollen,
dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen allein zu uns.«
»Das geht nicht, das geht nicht«, sagte Karl, »es sind meine Kameraden und ich muss
bei ihnen bleiben.«
»Sie sind starrköpfig«, sagte die Frau und sah von ihm weg, »man meint es gut mit
Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allen Kräften.«
Karl sah das alles ein, aber er wusste keinen Ausweg, so sagte er nur noch: »Meinen
besten Dank für Ihre Freundlichkeit.« Dann erinnerte er sich daran, dass er noch nicht
gezahlt hatte, und fragte nach dem schuldigen Betrag.
»Zahlen Sie das erst, wenn Sie mir den Strohkorb zurückbringen«, sagte die Frau.
»Spätestens morgen früh muss ich ihn haben.«
»Bitte«, sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte, und
sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: »Gute Nacht, Sie handeln aber
nicht recht.« Er war schon ein paar Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: »Auf
Wiedersehen morgen!«
Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus dem Saal den ungeschwächten
Lärm, in den sich jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Er war froh, dass er
nicht durch den Saal hatte hinausgehen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen fünf
Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in ihrer ganzen Breite hell. Noch
immer fuhren draußen, wenn auch schon in unterbrochener Folge, Automobile, rascher aus
der Ferne her anwachsend als bei Tage, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen
den Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels und
eilten aufleuchtend in das weitere Dunkel.
Die Kameraden fand Karl schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu lange ausgeblieben.
Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papiere ausbreiten, die er im Korb
vorfand, um erst, wenn alles fertig wäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinem
Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen hatte und dessen Schlüssel er
in der Tasche trug, vollständig geöffnet sah, während der halbe Inhalt ringsherum im
Gras verstreut war.
»Steht auf!« rief er. »ihr schlaft, und inzwischen waren Diebe da.«
»Fehlt denn etwas?« fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff
schon nach dem Bier.
»Ich weiß nicht«, rief Karl, »aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine
Unvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu lassen.«
Delamarche und Robinson lachten, und der erstere sagte: »Sie dürfen eben nächstens
nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt, und Sie brauchen zum
Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, dass Sie in Ihrem
Koffer etwas zum Essen haben könnten, und haben das Schloss so lange gekitzelt, bis es
sich aufgemacht hat. Im Übrigen war ja gar nichts darin, und Sie können alles wieder
ruhig einpacken.«
»So«, sagte Karl, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das
eigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit
zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder
zurückschnellte, um erst dann in großem Erguss in die Tiefe zu rollen.
»Haben Sie schon zu Ende gegessen?« fragte er, als sich die beiden einen Augenblick
verschnauften.
»Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?« fragte Delamarche, der glaubte, Karl
beanspruche seinen Anteil.
»Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich«, sagte Karl und ging zu seinem
Koffer.
»Der scheint Launen zu haben«, sagte Delamarche zu Robinson.
»Ich habe keine Launen«, sagte Karl, »aber ist das vielleicht recht, in meiner
Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen? Ich weiß, man
muss unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das
ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie
rasch auf, ich muss den Korb zurückgeben.«
»Siehst du, Robinson, so spricht man«, sagte Delamarche, »das ist die feine
Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein
guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt,
haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag
verloren und jetzt weil ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat
verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher
ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer, und weil er
ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen
und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben.«
Karl, der seine Sachen packte, ohne sich umzuwenden: »Reden Sie nur so weiter und
erleichtern Sie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in
Europa auch Freunde gehabt, und keiner kann mir vorwerfen, dass ich mich falsch oder
gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn
ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich
sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ich
verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich waren, sich
meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen? Aber
es ist etwas anderes. Sie haben nichts, und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im
geringsten, aber Sie missgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu
demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen
haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und
beschimpfen weiter mein Volk damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei
Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen, Robinson. Gegen
Ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, dass Sie von Delamarche zu sehr abhängig
sind.«
»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zu Karl trat und ihm einen leichten
Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, »da sehen wir ja, wie Sie sich entpuppen. Den
ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir
jede Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im
Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein
kleiner Schlaumeier, und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden.
Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages
abgeschaut haben. Du, Robinson, wir beneiden ihn meint er um seinen Besitz.
Ein Tag Arbeit in Butterford von Kalifornien gar nicht zu reden , und wir
haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem Rockfutter noch
versteckt haben mögen. Also, nur immer Achtung aufs Maul!«
Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, aber vom Bier
ein wenig belebten Robinson herankommen. »Wenn ich noch lange hier bleibe«, sagte er,
»könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu haben,
mich durchzuprügeln.«
»Alle Geduld hat ein Ende«, sagte Robinson.
»Sie schweigen besser, Robinson«, sagte Karl, ohne Delamarche aus den Augen zu
lassen, »im Innern geben Sie mir ja doch Recht, aber nach außen müssen Sie es mit
Delamarche halten!«
»Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?« fragte Delamarche.
»Fällt mir nicht ein«, sagte Karl. »Ich bin froh, dass ich fortgehe, und ich will
mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Sie haben mir
den Vorwurf gemacht, dass ich Geld besitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen,
dass es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst ein
paar Stunden kannte, und bestätigen Sie nicht noch durch ihr jetziges Benehmen die
Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?«
»Bleib ruhig«, sagte Delamarche zu Robinson, obwohl sich dieser nicht rührte. Dann
fragte er Karl: »Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja
so gemütlich beisammenstehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehen Sie ein,
warum Sie eigentlich ins Hotel wollen.« Karl musste einen Schritt über den Koffer hinweg
machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch
nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt vorwärts, wobei er den
Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im Gras liegen geblieben war, und wiederholte
seine Frage.
Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden
Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl
erblickt, sagte er: »Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf
beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin lässt Ihnen nämlich
sagen, dass sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringend braucht.«
»Hier ist er«, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsicheren Stimme. Delamarche und
Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseitegetreten, wie sie es vor fremden
gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: »Dann
lässt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch
vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden anderen Herren wären
willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht
ist ja heute warm, aber hier, auf der Lehne, ist es durchaus nicht ungefährlich zu
schlafen, man findet öfters Schlangen.«
»Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen«,
sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf
da, und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf.
Beide bauten offenbar darauf, dass Karl sie ohne weiteres mitnehmen werde.
»Für diesen Fall«, sagte der Kellner, »habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu
führen und Ihr Gepäck zu tragen.«
»Dann warten Sie, bitte, noch einen Augenblick«, sagte Karl und bückte sich, um die
paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.
Plötzlich richtete er sich auf. Die Fotografie fehlte, sie war ganz oben im Koffer
gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Fotografie fehlte.
»Ich kann die Fotografie nicht finden«, sagte er bittend zu Delamarche.
»Welche Fotografie?« fragte dieser.
»Die Fotografie meiner Eltern«, sagte Karl.
»Wir haben keine Fotografie gesehen«, sagte Delamarche.
»Es war keine Fotografie darin, Herr Rossmann«, bestätigte auch Robinson von seiner
Seite.
»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Karl, und seine Hilfe suchenden Blicke zogen
den Kellner näher. »Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den
Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten!«
»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Delamarche, »in dem Koffer war keine
Fotografie.«
»Sie war mir wichtiger als alles, was ich sonst im Koffer habe«, sagte Karl zum
Kellner, der herumging und im Grase suchte. »Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme
keine zweite.« Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch:
»Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.«
Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: »Vielleicht könnten wir
noch die Taschen der Herren untersuchen.«
»Ja«, sagte Karl sofort, »ich muss die Fotografie finden. Aber ehe ich die Taschen
durchsuche, sage ich noch, dass, wer mir die Fotografie freiwillig gibt, den ganzen
gefüllten Koffer bekommt.« Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum
Kellner: »Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt
verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Fotografie gefunden wird, den ganzen
Koffer. Mehr kann ich nicht tun.«
Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu
behandeln schien als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karl darauf aufmerksam,
dass beide gleichzeitig untersucht werden müssten, da sonst einer unbeobachtet die
Fotografie beiseite schaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons
Tasche eine ihm gehörige Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner
zu: »Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm, bitte, alles. Ich will
nichts als die Fotografie, nur die Fotografie.«
Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße, fettige
Brust Robinsons, und es kam ihm zu Bewusstsein, dass er an seinen Kameraden vielleicht ein
großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im Übrigen war alles
umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Fotografie vor.
»Es hilft nichts«, sagte der Kellner.
»Sie haben wahrscheinlich die Fotografie zerrissen und die Stücke weggeworfen«,
sagte Karl. »Ich dachte, sie wären Freunde, aber im Geheimen wollten sie mir nur
schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, dass die
Fotografie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche.« Karl sah nur den
Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst,
auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.
Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, dass die beiden in das Hotel
mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den
Strohkorb, und sie gingen. Karl war schon auf der Straße, als er, im Nachdenken sich
unterbrechend, stehen blieb und in das Dunkel hinaufrief: »Hören Sie einmal, sollte doch
einer von Ihnen die Fotografie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen er
bekommt den Koffer noch immer und wird, ich schwöre es, nicht angezeigt.« Es kam keine
eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines
Zurufs Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange
Weile wartete Karl, ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal
rief er in Abständen: »Ich bin noch immer da!« Aber kein Laut antwortete, nur einmal
rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten
Wurf.