»Wir
sind angekommen«, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen
Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von
Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New Yorks, umfangreicher
und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist,
das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses
beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe
reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen das
Gitter war schon geöffnet ein kurzer Weg zur Freitreppe des
Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl
zu bemerken, dass die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel
der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen:
»Da ist ja endlich der Herr Jakob.«
»Ich
heiße Rossmann«, sagte Karl und fasste die ihm hingereichte Hand
eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte.
»Er
ist ja nur Jakobs Neffe«, sagte Herr Pollunder erklärend, »und heißt
selbst Karl Rossmann.«
»Das
ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben«, sagte das Mädchen,
dem an Namen nicht viel lag.
Trotzdem
fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen
auf das Haus zuschritt: »Sie sind das Fräulein Klara?«
»Ja«,
sagte sie, und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her
auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, »ich wollte mich aber hier in der
Finsternis nicht vorstellen.«
Ja
hat sie uns denn am Gitter erwartet? dachte Karl, der im Gehen allmählich
aufwachte.
»Wir
haben übrigens noch einen Gast heute Abend«, sagte Klara.
»Nicht
möglich!« rief Pollunder ärgerlich.
»Herrn
Green«, sagte Klara.
»Wann
ist er gekommen?« fragte Karl, wie in einer Ahnung befangen.
»Vor
einem Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem eueren gehört?«
Karl
sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber
er hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas
stärker im Gehen.
»Es
nützt nichts, nur knapp außerhalb New Yorks zu wohnen, von
Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unseren Wohnsitz
unbedingt noch weiter verlegen müssen; und sollte ich die halbe Nacht
durchfahren müssen, ehe ich nach Hause komme.«
Sie
blieben an der Freitreppe stehen.
»Aber
Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier«, sagte Klara, die offenbar
mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich
hinaus beruhigen wollte.
»Warum
kommt er denn gerade heute Abend«, sagte Pollunder, und die Rede rollte
schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses, schweres
Fleisch leicht in große Bewegung kam.
»Allerdings!«
sagte Klara.
»Vielleicht
wird er bald wieder weggehen«, bemerkte Karl und staunte selbst über
das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm
gänzlich fremden Leuten befand.
»O
nein«, sagte Klara, »er hat irgendein großes Geschäft für
Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat
mir schon im Spaß gedroht, dass ich, wenn ich eine höfliche
Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.«
»Also
auch das noch. Dann bleibt er über Nacht!« rief Pollunder, als sei
damit endlich das Schlimmste erreicht. »Ich hätte wahrhaftig Lust«,
sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, »ich hätte
wahrhaftig Lust, Sie, Herr Rossmann, wieder ins Automobil zu nehmen und
zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein
gestört, und wer weiß, wann Sie uns nächstens Ihr Herr
Onkel wieder überlässt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder
zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.«
Und
er fasste Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber
Karl rührte sich nicht, und Klara bat, ihn hier zu lassen, denn zumindest
sie und Karl würden von Herrn Green nicht im Geringsten gestört
werden können, und schließlich merkte auch Pollunder selbst,
dass sein Entschluss nicht der festeste war. Überdies und
dies war vielleicht das Entscheidende hörte man plötzlich
Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: »Wo
bleibt ihr denn?«
»Kommt«,
sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen Karl
und Klara, die einander jetzt im Licht studierten.
Die
roten Lippen, die sie hat, sagte sich Karl und dachte an die Lippen
des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt
hatten.
»Nach
dem Nachtmahl«, so sagte sie, »werden wir, wenn es Ihnen recht ist, gleich
in meine Zimmer gehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind,
wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muss. Und Sie werden dann
so freundlich sein, mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt,
wie gut Sie das können, ich aber bin leider ganz unfähig, Musik
auszuüben, und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die
Musik eigentlich liebe.«
Mit
dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn
Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen
Gestalt Greens an Pollunders Größe hatte sich Karl eben
schon gewöhnt , die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen,
langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Mann
den Herrn Pollunder heute Abend irgendwie zu entlocken.
Herr
Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders
Arm und schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders
infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes
halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des
störenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch
Karl, der beim Tische wartete, bis die anderen sich setzten, dass die
große Glastüre zum Garten hin offen bleiben würde, denn
ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube, da ging gerade
Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte
sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles
so jugendlich rasch, dass der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun
fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke
des Staunens darüber, dass Karl die Erlaubnis des Onkels zu diesem
Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem
anderen hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn
Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Karl wache und
wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als dass man sie noch
Liebe eines Onkels nennen könne.
Nicht
genug, dass er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig
zwischen mich und den Onkel ein, dachte Karl und konnte keinen Schluck
der goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wieder
nichts anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und begann
die Suppe stumm in sich hineinzuschütten. Das Essen verging langsam
wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft
und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder
verfing sich nur einige Male in die Unterhaltung, wenn Herr Green von
Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch von solchen
Gesprächen bald zurück, und Herr Green musste ihn nach einiger
Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens
Gewicht darauf und da war es, dass Karl, der aufhorchte, als drohe
etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass der Braten
vor ihm stand und er bei einem Abendessen war , dass er von vornherein
nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch zu machen. Denn
wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden solle, von
besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das Wichtigste
heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgen
oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich,
noch lange vor Geschäftsschluss, bei Herrn Pollunder gewesen, habe
ihn aber nicht angetroffen, sodass er gezwungen gewesen sei, nach Hause
zu telefonieren, dass er über Nacht ausbleibe, und herauszufahren.
»Dann
muss ich um Entschuldigung bitten«, sagte Karl laut und ehe jemand Zeit
zur Antwort hatte, »denn ich bin daran schuld, dass Herr Pollunder sein
Geschäft heute früher verließ, und es tut mir sehr Leid.«
Herr
Pollunder bedeckte den größeren Teil seines Gesichtes mit der
Serviette, während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein
teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen
sollte.
»Da
braucht es keine Entschuldigung«, sagte Herr Green, der gerade eine Taube
mit scharfen Schnitten zerlegte, »ganz im Gegenteil, ich bin ja froh,
den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl
allein zu Hause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient,
die so alt ist, dass ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch
schwer fällt, und ich mich für lange in meinen Sessel zurücklehnen
kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor kurzem habe
ich durchgesetzt, dass der Diener die Speisen bis zur Tür des Speisezimmers
bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch gehört ihr,
soweit ich sie verstehe.«
»Mein
Gott«, rief Klara, »ist das eine Treue!«
»Ja,
es gibt noch Treue auf der Welt«, sagte Herr Green und führte einen
Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit
einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand
auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen.
»Sie
müssen noch sitzen bleiben«, sagte Klara. Und als er sich wieder
gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: »Wir werden bald zusammen verschwinden.
Haben Sie Geduld.«
Herr
Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als
sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen,
wenn er ihm Übelkeiten verursachte.
Das
Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit
der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden
neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein,
als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen.
Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung
des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Karl versucht
war, ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte
sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller
aufzusehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollunder nahm
Karls Appetit in Schutz, obwohl er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte
aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch den
Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich,
dass er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung Herrn
Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem
seinen Zustand, dass er einmal ganz unpassend rasch und viel aß
und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken
ließ und der Unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener,
der die Speisen reichte, oft nichts anzufangen wusste.
»Ich
werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein
Klara durch Ihr Nichtessen gekränkt haben«, sagte Herr Green und
beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch
die Art, wie er mit dem Besteck hantierte, auszudrücken.
»Sehen
Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist«, fuhr er fort und griff
Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehen und schloss die Augen.
»Du
Dingschen«, rief er, lehnte sich zurück und lachte, hochrot im Gesicht,
mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Karl das Benehmen
Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und
sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel
nicht näher zu sich, und wenn er einmal sprach, so sprach er zu allen,
aber zu Karl hatte er nichts Besonderes zu reden. Dagegen duldete er,
dass Green, dieser alte, ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher
Absicht Klara berührte, dass er Karl, Pollunders Gast beleidigte
oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten
sich stärkte und vordrang.
Nach
Aufhebung der Tafel als Green die allgemeine Stimmung merkte, war
er der Erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob
ging Karl allein abseits zu einem der großen, durch schmale
weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und
die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen
waren. Was war von der Abneigung übrig geblieben, die Herr Pollunder
und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und
die damals Karl etwas unverständlich vorgekommen war? Jetzt standen
sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens
Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der der
Vater zu Hause hie und da als von einer Tatsache zu erzählen pflegte,
die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte,
verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluss auch in Winkel und
Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. So weit entfernt
Karl auch stand, noch spürte er von dem Rauch einen Kitzel in der
Nase, und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platz
aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar
nicht mehr für ausgeschlossen, dass ihm der Onkel die Erlaubnis zu
diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen
Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung
Karls bei diesem Besuch, wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich
der Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel
ihm nicht, obwohl er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt
hatte. Seit sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht
von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders
von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest
wie der ihre den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals
gesehen, kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten
die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und
er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu
werden, wenn er stattdessen die Tür, auf deren Klinke er für
jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil
steigen oder, wenn der Chauffeur schon schlief, allein nach New York hätte
spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen
Mond stand frei für jedermann, und draußen im Freien vielleicht
Furcht zu haben schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor und zum
ersten Mal wurde ihm in diesem Saale wohl , wie er am Morgen
früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen
den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem
Schlafzimmer gewesen, wusste auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte
es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche
»Herein!« ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer
nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im
Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd
überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht
viel, aber man musste nur ausdenken, was das zur Folge haben könnte.
Vielleicht würde er zum ersten Mal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken,
der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem
Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück
zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie
infolge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war,
öfters als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen
und dann natürlich auch offener miteinander reden können. Es
lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache,
wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder, besser, starrköpfig
gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hier bleiben musste
es sah leider ganz danach aus, obwohl man ihn hier beim Fenster
stehen und auf eigene Faust sich unterhalten ließ , vielleicht
wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Besseren in dem
Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer
heute Abend ähnliche Gedanken.
Ein
wenig getröstet wandte er sich um. Klara stand vor ihm und sagte:
»Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht
ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch
machen.«
Sie
führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch
saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser
gefüllten Getränken, die Karl unbekannt waren und die er zu
kosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Ellbogen auf dem
Tisch, sein ganzes Gesicht war Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt;
wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz
gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen
und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick
Karl zur Türe folgte, sah sich Green, obwohl man doch schon unwillkürlich
sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch
nicht im Geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck
einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für
sich und Green für sich, solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen
versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen
werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines
von beiden herstellen.
Wenn
er das meint, sagte sich Karl, dann ist er ein Narr. Ich will
wahrhaftig nichts von ihm, und er soll mich auch in Ruhe lassen.
Kaum
war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, dass er sich wahrscheinlich
unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen
hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger
ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute
er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich
livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft
jene mit beiden Händen umschlossen hielten.
»Die
neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt«,
erklärte Klara. »Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und
es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner
eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen lässt.«
»Da
gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser«, sagte Karl.
»Natürlich«,
sagte Klara lachend und zog ihn weiter. »Sie haben merkwürdige Begriffe
von Amerika.«
»Sie
sollen mich nicht auslachen«, sagte er ärgerlich. Schließlich
kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im
Vorübergehen stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine
Tür auf und sagte, ohne anzuhalten: »Hier werden Sie schlafen.«
Karl
wollte sich natürlich das Zimmer gleich anschauen, aber Klara erklärte
ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher
mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich
meinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riss
sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem
Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem
vollen Umfang wiegte. Man hörte Vogelgesang. Im Zimmer selbst, das
vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar
nichts unterscheiden. Karl bedauerte, die elektrische Taschenlampe, die
er, vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In
diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein
paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken
können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus.
Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes
zu drängen. Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo
im Land. Sonst war es still.
Aber
nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich böse rief sie:
»Was soll denn das?« und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten,
wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mit großen Schritten
auf ihn zu, rief: »Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?« stieß
ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derart in die Brust, dass
er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im
letzten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit den Füßen
den Zimmerboden berührt.
»Jetzt
wäre ich bald hinausgefallen«, sagte er vorwurfsvoll.
»Schade,
dass es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße
Sie noch einmal hinunter.«
Und
wirklich umfasste sie ihn und trug ihn, der, zuerst verblüfft, sich
schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper
fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer
Wendung der Hüften los und umfasste sie.
»Ach,
Sie tun mir weh«, sagte sie gleich.
Aber
nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ
ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und
ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid
zu umfassen.
»Lassen
Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er
musste sich anstrengen, sie zu sehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie
mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.« Warum seufzt sie
so, dachte Karl, es kann ihr nicht wehtun, ich drücke
sie ja nicht, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich,
nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlte
er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihm
entwunden, fasste ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine
Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb
ihn vor sich, mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend,
gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin
und sagte, ohne sich allzu sehr zu ihm hinabzubeugen:
»Jetzt
rühr dich, wenn du kannst.«
»Katze,
tolle Katze«, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und
Scham rufen, in dem er sich befand. »du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!«
»Gib
acht auf deine Worte«, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem
Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, dass Karl ganz
unfähig war, etwas anderes zu tun als Luft zu schnappen, während
sie mit der anderen Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte,
sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luft zurückzog und jeden
Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen konnte.
»Wie
wäre es«, fragte sie dabei, »wenn ich dich zur Strafe für dein
Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach
Hause schicken wollte? Vielleicht wäre es dir nützlich für
deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung
abgeben würde. Du tust mir ja Leid und bist ein erträglicher
hübscher Junge, und hättest du Jiu-Jitsu gelernt, hättest
du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem
es verlockt mich geradezu riesig, dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst.
Ich werde es wahrscheinlich bedauern; wenn ich es aber tun sollte, so
wisse schon jetzt, dass ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und
ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen,
sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und
vielleicht bist du ein Ehrenmann ich möchte es fast glauben
und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und dich aus
der Welt schaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich gewesen? Gefalle
ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht, auf mein Zimmer zu kommen?
Achtung! Jetzt hätte ich dir schon fast unversehens die Ohrfeige
aufgepelzt. Wenn du heute also noch so loskommen solltest, benimm dich
nächstens feiner. Ich bin nicht dein Onkel, mit dem du trotzen kannst.
Im Übrigen will ich dich noch darauf aufmerksam machen, dass du,
wenn ich dich ungeohrfeigt loslasse, nicht glauben musst, dass deine jetzige
Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche
sind. Solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehen,
dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das
alles erzähle?«
Bei
der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen
Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen
Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann
still.
Sie
forderte ihn auf, aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich
nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht,
ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den
Kopf aufs Sofapolster aufgestützt so, wie ihn Klara gebettet hatte,
und wandte ihn nicht einen Fingerbreit. Klara ging im Zimmer herum, ihr
Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine
lange Weile stehen.
»Ausgetrotzt?«
hörte man sie dann fragen.
Karl
empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder
für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können.
Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehen und redete, und er
hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehen
war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, nur hier
auf dem Kanapee wollte er bleiben. Er lauerte nur darauf, dass sie wegginge,
um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln, und dann
wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches
Bedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte
er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht
immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm
vor den Augen, ohne dass er recht wusste, was es war.
Klara
trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke, und hätte
er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen.
»Ich
gehe jetzt«, sagte sie. »Vielleicht bekommst du später Lust, zu mir
zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte, von dieser Tür
aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren
Türen vorüber und die, zu welcher du dann kommst, ist die richtige.
Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem
Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde
nicht gerade auf dich warten, aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere
dich, dass du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber
vielleicht habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren,
dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von
unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, dass dir
das Sorge machen sollte.« Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit
mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort
setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden.
Um ein wenig Bewegung zu machen, ging er zur Tür und sah auf den
Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür
zugemacht und abgesperrt hatte und wieder bei seinem Tisch im Schein der
Kerze stand. Sein Entschluss war, nicht länger in diesem Haus zu
bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehen, ihm offen zu sagen,
wie ihn Klara behandelt hatte am Eingeständnis seiner Niederlage
lag ihm gar nichts , und mit dieser wohl genügenden Begründung
um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahren oder gehen zu dürfen.
Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden
haben, dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durch einen Diener
zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie
Karl plante, ging man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern
um, aber noch seltener ging man mit einem Gaste derart um, wie es Klara
getan hatte. Sie hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder
von der Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit
gehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja, war denn Karl zu einem
Ringkampf eingeladen worden, sodass es für ihn beschämend gewesen
wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich
den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen
verbracht hatte? Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte
sie ihm nur alles erzählen; der war sicher einsichtig, das wusste
Karl, obwohl er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im Einzelnen zu
erfahren. Karl wusste aber auch, dass, wenn Mack ihn unterrichtete, er
noch viel größere Fortschritte als Klara machen würde;
dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahrscheinlich
uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit,
deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte
dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das gleiche Kanapee aus,
auf das sie ihn heute geworfen hatte.
Jetzt
handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er
ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen
unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen,
aber selbst bei Licht war es nicht leicht, sich auszukennen. Er wusste
zum Beispiel nicht einmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene wie
der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen,
dass er sich gar nicht hatte umsehen können. Herr Green und die leuchtertragenden
Diener hatten ihm auch zu denken gegeben; kurz, er wusste jetzt tatsächlich
nicht einmal, ob sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert
hatten. Nach der Aussicht zu schließen, lag das Zimmer ziemlich
hoch, und er suchte sich deshalb einzubilden, dass sie über Treppen
gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen
steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht
sein? Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer
Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu
hören gewesen wäre!
Seine
Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze
und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für
den Fall, als sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer
wieder zu finden und danach, für den äußersten Notfall,
die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe
nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf
dem Gang zeigte sich der Übelstand, dass gegen Karl er ging
natürlich von Klaras Türe weg nach links ein Luftzug
strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte
auslöschen können, sodass Karl die Flamme mit der Hand schützen
und überdies öfters stehen bleiben musste, damit die niedergedrückte
Flamme sich erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen, und der
Weg schien dadurch doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken
der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türen
waren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war. Dann kam wieder
Tür an Tür, er suchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrt
und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen,
und Karl dachte an die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der
Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer
mehrere Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel
bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier standen
so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man
an die Tür schlug. Herr Pollunder schien Karl irregeführt zu
sein von falschen Freunden und vernarrt in seine Tochter und dadurch verdorben.
Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt, und nur sein Grundsatz,
auf die Menschenbeurteilung Karls keinen Einfluss zu nehmen, war schuld
an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Karl wollte
das morgen dem Onkel ohne weiteres sagen, denn nach seinem Grundsatz würde
der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören.
Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Karl an
seinem Onkel nicht gefiel, und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.
Plötzlich
hörte die Wand an der einen Gangseite auf, und ein eiskaltes marmornes
Geländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und
beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm entgegen.
Wenn das die Haupthalle des Hauses war im Schimmer der Kerze erschien
ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke , warum
war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große,
tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie einer Kirche. Karl
bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Haus bleiben zu können,
er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall
herumführen und über alles unterrichten lassen.
Das
Geländer war übrigens nicht lang, und bald wurde Karl wieder
vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung
des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nur die
ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte
sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang
kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder
in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl
schon, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde, und hoffte
schon, die offene Tür seines Zimmers vielleicht wieder zu finden,
aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich
Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden
Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah
er ein, dass es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war, und machte
sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes »Hallo!« zu
schreien, als er in der Richtung, aus der er gekommen war, ein kleines,
sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge
des geraden Ganges abschätzen; das Haus war eine Festung, keine Villa.
Karls Freude über dieses rettende Licht war so groß, dass er
alle Vorsicht vergaß und darauf zulief; schon bei den ersten Sprüngen
löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte
sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen,
der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.
»Wer
sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht, wodurch
er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas
steif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der
Brust in seidenartige Ringel ausging. Es muss ein treuer Diener
sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes erlaubt, dachte Karl
und sah diesen Bart unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne
sich dadurch behindert zu fühlen, dass er selbst beobachtet wurde.
Im Übrigen antwortete er sofort, dass er der Gast des Herrn Pollunder
sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden
könne.
»Ach
so«, sagte der Diener, »wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt.«
»Ich
weiß«, sagte Karl.
»Wollen
Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der Diener.
»Bitte«,
sagte Karl und tat es.
»Es
zieht hier so auf den Gängen«, sagte der Diener, »die Kerze löscht
leicht aus, darum habe ich eine Laterne.«
»Ja,
eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.
»Sie
sind auch schon von der Kerze ganz betropft«, sagte der Diener und leuchtete
mit der Kerze Karls Anzug ab.
»Das
habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, und es tat ihm sehr Leid, da
es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm
am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch
nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig
genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder
drehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen
Fleck, den der Diener folgsam entfernte.
»Warum
zieht es denn hier eigentlich so?« fragte Karl, als sie schon weitergingen.
»Es
ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte der Diener, »man hat zwar mit
dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken
auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger
mit so einem Bau. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche
gemacht worden, die niemand vermauert, und die Zugluft geht durch das
ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte
ich nicht bestehen.«
»Da
muss ich wohl lauter reden?« fragte Karl.
»Nein,
Sie haben eine klare Stimme«, sagte der Diener. »Aber um auf diesen Bau
zurückzukommen; besonders hier in der Nähe der Kapelle, die
später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muss,
ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.«
»Die
Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt, geht also
in eine Kapelle hinaus?«
»Ja.«
»Das
habe ich mir gleich gedacht«, sagte Karl.
»Sie
ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre sie nicht gewesen,
hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft.«
»Herr
Mack?« fragte Karl, »ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder?«
»Allerdings«,
sagte der Diener, »aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag
gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?«
»O
ja«, sagte Karl. »Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?«
»Er
ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte der Diener.
»Das
wusste ich freilich nicht«, sagte Karl und blieb stehen.
»Setzt
Sie das in solches Erstaunen?« fragte der Diener.
»Ich
will es mir nur zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt,
kann man ja die größten Fehler machen«, antwortete Karl.
»Es
wundert mich nur, dass man Ihnen davon nichts gesagt hat«, sagte der Diener.
»Ja,
wirklich«, sagte Karl beschämt.
»Wahrscheinlich
dachte man, Sie wüssten es«, sagte der Diener, »es ist ja keine Neuigkeit.
Hier sind wir übrigens«, und öffnete eine Türe, hinter
der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des
ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte.
Ehe
Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders
und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden
hörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und
führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten,
sich gleich am ersten Abend hier auszukennen.«
»Ich
werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkehren«, sagte Karl und wusste
nicht, warum er bei dieser Auskunft traurig wurde.
»Es
wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, ein wenig überlegen lächelnd,
und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte
dahin erklärt, dass Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht
im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit
ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem
dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die anderen hiesigen
Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen, und
sagte deshalb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine
große Freundlichkeit von Ihnen, und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls
werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was
ich weiter tun werde. Ich denke schon, dass mir Ihre Hilfe noch nötig
sein wird.« »Gut«, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden
und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich
auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhing. »Ich werde also hier warten.
Die Kerze können Sie auch bei mir lassen«, sagte der Diener noch,
als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte.
»Ich
bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte die Kerze dem Diener hin,
welcher ihm bloß zunickte, ohne dass man wusste, ob er es mit Absicht
tat oder ob es eine Folge dessen war, dass er mit der Hand seinen Bart
strich.
Karl
öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn
sie bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die
Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke fest gehalten wurde.
Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders
still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehen, merkte er noch, wie
hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen
war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch, die Tür schloss.
»Verzeihen
Sie, dass ich störe«, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit
ihren großen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog
er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden
könne. Er war aber nirgends zu sehen, der Esstisch war völlig
abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmerweise irgendwie in
die Küche fortgetragen worden.
»Wo
haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr Pollunder, dem übrigens
die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders
in seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte
den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe
und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein
bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch
andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.
»Ich
hätte eine Bitte, die Sie nicht missverstehen dürfen«, sagte
Karl, ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe
zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils.
»Was
soll denn das für eine Bitte sein?« fragte Herr Pollunder und sah
Karl mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. »Sie ist natürlich
schon erfüllt.« Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich
zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, obwohl er sich im Allgemeinen
doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber
das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger.
»Wie
gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?« fragte Herr Pollunder.
»Scheint es Ihnen nicht auch, dass man auf dem Lande sozusagen befreit
wird, wenn man aus der Stadt herauskommt? Im allgemeinen« und ein
nicht misszuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick ging
auf Herrn Green , »im Allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer
wieder, jeden Abend.«
Er
spricht, dachte Karl, als wüsste er nichts von dem großen
Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel
überall.
»Nun«,
sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und er schüttelte Karl freundschaftlich,
der stumm dastand.
»Ich
bitte«, sagte Karl, und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ
sich nicht vermeiden, dass der daneben sitzende Green alles hörte,
vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders
aufgefasst werden konnte, so gern verschwiegen hätte »ich
bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause.«
Und
da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere umso schneller
nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an
die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um
alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr
Pollunder, sind, dort bin auch ich gerne. Nur heute kann ich nicht hier
bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch
nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe
gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen,
gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen.
Ich habe seine Liebe zu mir einfach missbraucht. Was für Bedenken
er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß
bloß ganz bestimmt, dass nichts in diesem Bedenken war, was Sie,
Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste
Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft
meines Onkels auch nur im entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist
ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber
keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in
das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur
von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht
abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend
umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels
angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf.
Sie dürfen nicht glauben, dass ich schon jetzt irgendwie mein Brot
anständig und vor allem anderen soll mich Gott bewahren
verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch
gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als
Durchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutet für den
Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan
sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen
wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das Gymnasium zu
Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich
alles irgendwie aus, und man hat zum Schluss eine geordnete Bildung, mit
der sich etwas anfangen lässt und die einem die Entschlossenheit
zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium
leider herausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weiß gar
nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte,
für Amerikaner noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat
neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne
Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus
der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar
im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht
ahnen, welches Unglück über mich kommen wird und wie ich das
Englische brauchen werde, und zweitens musste ich für das Gymnasium
viel lernen, sodass ich für andere Beschäftigungen nicht besonders
viel Zeit hatte. Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen,
wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen
ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, dass ich es
mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nur das Geringste
gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muss ich, um den
Fehler, den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wiedergutzumachen,
sofort nach Hause gehen.«
Während
dieser langen Rede Karls hatte Herr Pollunder aufmerksam zugehört,
öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Karl, wenn auch
unmerklich, an sich gedrückt und einige Male ernst und wie erwartungsvoll
zu Green hinübergesehen, der sich weiterhin mit seiner Brieftasche
beschäftigte. Karl aber war, je deutlicher ihm seine Stellung zum
Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewusstsein kam, immer unruhiger geworden,
hatte sich unwillkürlich aus dem Arm Pollunders zu drängen gesucht.
Alles beengte ihn hier; der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über
die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die
Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend
in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng Zusammengehöriges,
das leer, glatt und für ihn vorbereitet dalag und mit einer starken
Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders Güte und Herrn Greens
Abscheulichkeit verschwammen, und er wollte aus diesem rauchigen Zimmer
nichts anderes für sich haben als die Erlaubnis zum Abschiednehmen.
Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn
Green kampfbereit, und doch erfüllte ihn ringsherum eine unbestimmte
Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.
Er
trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder
und von Herrn Green entfernt.
»Wollten
Sie ihm nicht etwas sagen?« fragte Herr Pollunder Herrn Green und fasste
wie bittend Herrn Greens Hand.
»Ich
wüsste nicht, was ich ihm sagen sollte«, sagte Herr Green, der endlich
einen Brief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt
hatte.
»Es
ist recht lobenswert, dass er zu seinem Onkel zurückkehren will,
und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, dass er dem Onkel
eine besondere Freude damit machen wird. Es müsste denn sein, dass
er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat,
was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er
bliebe hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen; wir sind zwar
beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen, zwischen
meiner und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen,
aber in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen, und
ganz besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier
von New York trennen.«
»Bitte,
Herr Green«, sagte Karl und näherte sich mit Selbstüberwindung
Herrn Green. »Ich höre aus Ihren Worten heraus, dass Sie es auch
für das Beste halten, wenn ich gleich zurückkehre.«
»Das
habe ich durchaus nicht gesagt«, meinte Herr Green und vertiefte sich
in das Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern
hin und her fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, dass er von Herrn
Pollunder gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während
er mit Karl eigentlich nichts zu tun habe.
Inzwischen
war Herr Pollunder zu Karl getreten und hatte ihn sanft von Herrn Green
weg zu einem der großen Fenster gezogen. »Lieber Herr Rossmann«,
sagte er, zu Karls Ohr hinabgebeugt, und wischte zur Vorbereitung mit
dem Taschentuch über sein Gesicht, und bei der Nase innehaltend,
schnäuzte er sich, »Sie werden doch nicht glauben, dass ich Sie gegen
Ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das
Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es
steht weit von hier in einer öffentlichen Garage, da ich noch keine
Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garage einzurichten.
Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in der
Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht, wo. Außerdem
ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt zu Hause zu sein, seine Pflicht
ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber das alles
wären keine Hindernisse für Ihre augenblickliche Heimkehr, denn
wenn Sie darauf bestehen, begleite ich Sie sofort zur nächsten Station
der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, dass Sie nicht viel
früher zu Hause ankommen dürften, als wenn Sie früh
wir fahren ja schon um sieben Uhr mit mir in meinem Automobil fahren
wollen.«
»Da
möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren«,
sagte Karl. »An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie sagen selbst,
dass ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh mit dem
Automobil.«
»Es
ist aber ein ganz kleiner Unterschied.«
»Trotzdem,
trotzdem, Herr Pollunder«, sagte Karl, »ich werde in Erinnerung an Ihre
Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, dass
Sie mich nach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht
werde ich es nächstens besser ausdrücken können, warum
heute jede Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für
mich so wichtig ist.« Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum
Weggehen erhalten, fügte er hinzu: »Aber keinesfalls dürfen
Sie mich begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein
Diener, der mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muss ich nur noch
meinen Hut suchen.« Und bei den letzten Worten durchschritt er schon das
Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein Hut doch
vielleicht zu finden wäre.
»Könnte
ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen?« sagte Herr Green und
zog eine Mütze aus der Tasche. »Vielleicht passt sie Ihnen zufällig.«
Verblüfft
blieb Karl stehen und sagte: »Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze
wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehen. Ich brauche
gar nichts.«
»Es
ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!«
»Dann
danke ich«, sagte Karl, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze.
Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau passte, nahm sie wieder
in die Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an
ihr suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. »Sie
passt so gut!« sagte er.
»Also,
sie passt!« rief Herr Green und schlug auf den Tisch.
Karl
ging schon zur Türe zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr
Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte
stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl:
»Ehe Sie weggehen, müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen.«
»Das
müssen Sie«, sagte auch Herr Pollunder, der ebenfalls aufgestanden
war. Ihm hörte man es an, dass die Worte nicht aus seinem Herzen
kamen, schwach ließ er die Hände an die Hosennaht schlagen
und knöpfte immer wieder seinen Rock auf und zu, der nach der augenblicklichen
Mode ganz kurz war und kaum zu den Hüften ging, was so dicke Leute
wie Herr Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatte man, wenn er
so neben Herrn Green stand, den deutlichen Eindruck, dass es bei Herrn
Pollunder keine gesunde Dicke war; der Rücken war in seiner ganzen
Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine
wahre Last, und das Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand
hier Herr Green, vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber
es war eine zusammenhängende, sich gegenseitig tragende Dicke, die
Füße waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht
und schaukelnd; er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.
»Gehen
Sie also vorerst«, fuhr Herr Green fort, »zu Fräulein Klara. Das
dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und passt auch sehr gut
in meine Zeiteinteilung hinein. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich,
ehe Sie von hier fortgehen, etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich
auch für Ihre Rückkehr entscheidend sein kann. Nur bin ich leider
durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten.
Sie können sich vorstellen, dass mir das selbst Leid tut, denn es
stört meine Nachtruhe, aber ich halte mich an meinen Auftrag. Jetzt
ist es viertel zwölf, ich kann also meine Geschäfte noch mit
Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei Ihre Gegenwart nur stören
würde, und Sie können ein hübsches Weilchen mit Fräulein
Klara verbringen. Punkt zwölf stellen Sie sich dann hier ein, wo
Sie das Nötige erfahren werden.«
Konnte
Karl diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringste
an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte
und die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mann stellte, während
Herr Pollunder, den es anging, sich mit Worten und Blicken möglichst
zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das er erst um Mitternacht
erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht wenigstens um die drei viertel
Stunde beschleunigte, um die es sie jetzt verschob, interessierte es ihn
wenig. Aber sein größter Zweifel war, ob er überhaupt
zu Klara gehen konnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenigstens
das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihm der Onkel als Briefbeschwerer
geschenkt hatte! Das Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche
Höhle sein. Aber nun war es ja ganz und gar unmöglich, hier
gegen Klara das Geringste zu sagen, da sie Pollunders Tochter und, wie
er jetzt gehört hatte, gar Macks Braut war. Sie hätte ja nur
um eine Kleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen, und er hätte
sie wegen ihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das
alles, aber schon merkte er, dass man keine Überlegungen von ihm
verlangte, denn Green öffnete die Tür und sagte dem Diener,
der vom Postamente sprang: »Führen Sie diesen jungen Mann zu Fräulein
Klara.«
So
führt man Befehle aus, dachte Karl, als ihn der Diener, fast
laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen
Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Karl an seinem Zimmer vorüberkam, dessen
Tür noch immer offen stand, wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung,
für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das aber nicht
zu.
»Nein«,
sagte er, »Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst
gehört.«
»Ich
würde mich nur einen Augenblick drinnen aufhalten«, sagte Karl, und
er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen,
damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.
»Erschweren
Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht«, sagte der Diener.
Er
scheint es für eine Strafe zu halten, dass ich zu Fräulein Klara
gehen muss, dachte Karl und machte ein paar Schritte, blieb aber
aus Trotz wieder stehen.
»Kommen
Sie doch, junger Herr«, sagte der Diener, »wenn Sie nun schon einmal hier
sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehen, es geht
eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, dass
es kaum möglich sein wird.«
»Ja,
ich will weggehen und werde auch weggehen«, sagte Karl, »und will jetzt
nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.«
»So?«
sagte der Diener, und Karl sah ihm wohl an, dass er kein Wort davon glaubte.
»Warum zögern Sie also, Abschied zu nehmen; kommen Sie doch.«
»Wer
ist auf dem Gang?« ertönte Klaras Stimme, und man sah sie aus einer
nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm
in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung. Karl
ging ihm langsam nach.
»Sie
kommen spät«, sagte Klara.
Ohne
ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da
er seine Natur schon kannte, im Ton strengen Befehls: »Sie warten auf
mich knapp vor dieser Tür!«
»Ich
wollte schon schlafen gehen«, sagte Klara und stellte die Lampe auf den
Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloss auch hier wieder der Diener vorsichtig
von außen die Tür. »Es ist ja schon halb zwölf vorüber.«
»Halb
zwölf vorüber?« wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über
diese Zahlen. »Dann muss ich mich aber sofort verabschieden«, sagte Karl,
»denn Punkt zwölf muss ich schon unten im Speisesaal sein.«
»Was
Sie für eilige Geschäfte haben!« sagte Klara und ordnete zerstreut
die Falten ihres losen Nachtkleides. Ihr Gesicht glühte und immerfort
lächelte sie. Karl glaubte zu erkennen, dass keine Gefahr bestand,
mit Klara wieder in Streit zu geraten. »Können Sie nicht doch noch
ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst
versprochen haben?«
»Ist
es nicht aber schon zu spät?« fragte Karl. Er hätte ihr gern
gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als
wäre sie irgendwie aufgestiegen in die Kreise Pollunders und weiterhin
Macks.
»Ja,
spät ist es schon«, sagte sie, und es schien ihr die Lust zur Musik
schon vergangen zu sein. »Dann widerhallt hier auch jeder Ton im ganzen
Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in der
Dachkammer die Dienerschaft auf.«
»Dann
lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen; übrigens,
wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal
meinen Onkel und schauen Sie bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer.
Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann
spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor,
es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu einem so
großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen
sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können,
wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel
will nächstens einen berühmten Lehrer für mich engagieren
Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue ,
und dessen Spiel wird allerdings dafür stehen, mir während der
Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein
soll, froh, dass es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich
kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und
nun erlauben Sie, dass ich mich verabschiede, schließlich ist es
ja doch schon Schlafenszeit.« Und weil ihn Klara gütig ansah und
ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd
hinzu, während er ihr die Hand reichte: »In meiner Heimat pflegt
man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß.«
»Warten
Sie«, sagte sie, ohne die Hand anzunehmen, »vielleicht sollten Sie doch
spielen.« Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der
das Piano stand.
Was
ist denn? dachte Karl. Lange kann ich nicht warten, so lieb
sie auch ist. Es klopfte an der Gangtüre, und der Diener, der
die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen
kleinen Spalt: »Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht
mehr warten.«
»Gehen
Sie nur«, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer
allein zu finden. »Lassen Sie mir nur die Laterne vor der Türe. Wie
spät ist es übrigens?«
»Bald
drei viertel zwölf«, sagte der Diener.
»Wie
langsam die Zeit vergeht!« sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe
schließen, da erinnerte sich Karl, dass er ihm noch kein Trinkgeld
gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche er trug
jetzt immer Münzengeld, nach amerikanischer Sitte lose klingelnd,
in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche und reichte
ihn dem Diener mit den Worten: »Für Ihre guten Dienste.«
Klara
war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als
es Karl einfiel, dass er den Diener doch nicht hätte wegschicken
sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen?
Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben
können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer
gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehen.
»Ich
bitte Sie also doch, ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten
Musik, dass man sich keine Gelegenheit, sie zu hören, entgehen lassen
will.«
»Dann
ist es aber höchste Zeit«, sagte Karl ohne weitere Überlegungen
und setzte sich gleich zum Klavier.
»Wollen
Sie Noten haben?« fragte Klara.
»Danke,
ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen«, antwortete Karl und
spielte schon. Es war ein kleines Lied, das, wie Karl wohl wusste, ziemlich
langsam hätte gespielt werden müssen, um, besonders für
Fremde, auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es in ärgstem
Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille
des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man
saß wie benommen da und rührte sich nicht.
»Ganz
schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die
Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln können.
»Wie
spät ist es?« fragte er.
»Drei
viertel zwölf.«
»Dann
habe ich noch ein Weilchen Zeit«, sagte er und dachte bei sich: Entweder
oder. Ich muss ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann,
aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen. Und er fing
sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, dass das aufgestörte
Verlangen des Zuhörens sich nach der nächsten Note streckte,
die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er musste ja tatsächlich
bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen,
aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehen, das, über
das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden
konnte. »Ich kann ja nichts«, sagte Karl nach Schluss des Liedes und sah
Klara mit Tränen in den Augen an.
Da
ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Händeklatschen. »Es hört
noch jemand zu!« rief Karl aufgerüttelt.
»Mack«,
sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: »Karl Rossmann,
Karl Rossmann!«
Karl
schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank
und öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen
Himmelbett halb liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine
geworfen. Der Baldachin aus blauer Seide war die einzige, ein wenig märchenhafte
Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes.
Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bettwäsche
und Macks Hemd waren so weiß, dass das über sie fallende Kerzenlicht
in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch der Baldachin
leuchtete, wenigstens am Rande, mit seiner leicht gewellten, nicht ganz
fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack versank aber das Bett und alles
in vollständigem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfosten und
hatte nur noch Augen für Mack.
»Servus«,
sagte Mack und reichte Karl die Hand. »Sie spielen ja recht gut, bisher
habe ich bloß Ihre Reitkunst gekannt.«
»Ich
kann das eine so schlecht wie das andere«, sagte Karl. »Wenn ich gewusst
hätte, dass Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt.
Aber Ihr Fräulein« er unterbrach sich, er zögerte »Braut«
zu sagen, da Mack und Klara offenbar schon miteinander schliefen.
»Ich
ahnte es ja«, sagte Mack, »darum musste Sie Klara aus New York hierherlocken,
sonst hätte ich Ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist
ja reichlich anfängerhaft, und selbst in diesen Liedern, die Sie
doch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie
einige Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen
davon, dass ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber
nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben? Klara, gib ihm doch
einen Sessel.«
»Ich
danke«, sagte Karl stockend. »Ich kann nicht bleiben, so gern ich hier
bliebe. Zu spät erfahre ich, dass es so wohnliche Zimmer in diesem
Hause gibt.«
»Ich
baue alles in dieser Art um«, sagte Mack.
In
diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander,
einer in den Lärm des anderen dreinschlagend. Karl fühlte das
Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen. Was war
das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!
»Höchste
Zeit«, sagte Karl, streckte Mack und Klara nur die Hände hin, ohne
sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne
nicht und bedauerte, dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben zu haben.
Er
wollte sich an der Wand zu der offenen Tür seines Zimmers hintasten,
war aber kaum in der Hälfte des Weges, als er Herrn Green mit erhobener
Kerze eilig heranschwanken sah. In der Hand, in der er auch die Kerze
hielt, trug er einen Brief.
»Rossmann,
warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie
denn bei Fräulein Klara getrieben?«
Viele
Fragen! dachte Karl, und jetzt drückt er mich noch an
die Wand, denn tatsächlich stand er dicht vor Karl, der mit
dem Rücken an der Wand lehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon
lächerliche Größe an, und Karl stellte sich zum Spaß
die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe.
»Sie
sind tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen, um zwölf hinunterzukommen,
und umschleichen stattdessen die Türe Fräulein Klaras. Ich dagegen
habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bin
damit schon da.« Und damit reichte er Karl den Brief. Auf dem Umschlag
stand »An Karl Rossmann, um Mitternacht persönlich abzugeben, wo
immer er angetroffen wird«.
»Schließlich«,
sagte Herr Green, während Karl den Brief öffnete, »ist es, glaube
ich, schon anerkennenswert, dass ich Ihretwegen aus New York hierhergefahren
bin, sodass Sie mich durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen
lassen müssten.«
»Vom
Onkel!« sagte Karl, kaum dass er in den Brief hineingeschaut hatte. »Ich
habe es erwartet«, sagte er zu Herrn Green gewendet.
»Ob
Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgültig.
Lesen Sie nur schon«, sagte dieser und hielt Karl die Kerze hin.
Karl
las bei ihrem Licht:
»Geliebter
Neffe! Wie du während unseres leider viel zu kurzen Zusammenlebens
schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das
ist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch für mich sehr
unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Prinzipien alles, was
ich bin, und niemand darf verlangen, dass ich mich vom Erdboden wegleugne,
niemand, auch du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch du gerade der
Erste in der Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen
allgemeinen Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten
gerade dich mit diesen beiden Händen, mit denen ich das Papier halte
und beschreibe, auffangen und hochheben. Da aber vorläufig gar nichts
darauf hindeutet, dass dies einmal geschehen könnte, muss ich dich
nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken, und ich bitte
dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen noch brieflich oder durch
Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast dich gegen meinen
Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzugehen, dann bleibe
aber auch bei diesem Entschluss dein Leben lang; nur dann war es ein männlicher
Entschluss. Ich erwählte zum Überbringer dieser Nachricht Herrn
Green, meinen besten Freund, der sicherlich für dich schonende Worte
genug finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung
stehen. Er ist ein einflussreicher Mann und wird dich, schon mir zuliebe,
in deinen ersten selbstständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen.
Um unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses Briefes
wieder unfasslich scheint, muss ich mir immer wieder neuerlich sagen:
Von deiner Familie, Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen,
dir deinen Koffer und deinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere
ihn daran. Mit besten Wünschen für dein weiteres Wohlergehen.
dein
treuer Onkel Jakob.«
»Sind
Sie fertig?« fragte Green.
»Ja«,
sagte Karl. »Haben Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?«
fragte Karl.
»Hier
ist er«, sagte Green und stellte Karls alten Reisekoffer, den er bisher
mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte, neben Karl
auf den Boden.
»Und
den Regenschirm?« fragte Karl weiter.
»Alles
hier«, sagte Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer
Hosentasche hängen hatte. »Die Sachen hat ein gewisser Schubal, ein
Obermaschinist der Hamburg-Amerika-Linie, gebracht, er hat behauptet,
sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit
danken.«
»Nun
habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder«, sagte Karl und legte den
Schirm auf den Koffer.
»Sie
sollten aber in Zukunft besser auf sie Acht geben, lässt Ihnen der
Herr Senator sagen«, bemerkte Herr Green und fragte dann, offenbar aus
privater Neugierde: »Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger
Koffer?«
»Es
ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner Heimat zum Militär
einrücken«, antwortete Karl, »es ist der alte Militärkoffer
meines Vaters. Er ist sonst ganz praktisch«, fügte er lächelnd
hinzu, »vorausgesetzt, dass man ihn nicht irgendwo stehen lässt.«
»Schließlich
sind Sie ja belehrt genug«, sagte Herr Green, »und einen zweiten Onkel
haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe ich Ihnen noch eine Karte dritter
Klasse nach San Franzisko. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen,
weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für Sie viel
bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen, die für Sie
in Betracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände im Spiele
hat und ein Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muss. In Frisko
können Sie ganz ungestört arbeiten; fangen Sie nur ruhig ganz
unten an und versuchen Sie, sich allmählich hinaufzuarbeiten.«
Karl
konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimme
Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht,
und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit dem man
vielleicht offener reden konnte als mit jedem anderen. Der beste Mensch,
der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und quälenden
Entschließung auserwählt wird, muss, solange er sie bei sich
behält, verdächtig scheinen. »Ich werde«, sagte Karl, die Bestätigung
eines erfahrenen Mannes erwartend, »dieses Haus sofort verlassen, denn
ich bin nur als Neffe meines Onkels aufgenommen, während ich als
Fremder hier nichts zu suchen habe. Würden Sie so liebenswürdig
sein, mir den Ausgang zu zeigen und mich dann auf den Weg zu führen,
auf dem ich zur nächsten Gastwirtschaft komme?«
»Aber
rasch«, sagte Green. »Sie machen mir nicht wenig Scherereien.«
Beim
Anblick des großen Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte
Karl, das war doch eine verdächtige Eile, und er fasste Green unten
beim Rock und sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes:
»Eines müssen Sie mir noch erklären: auf dem Umschlag des Briefes,
den Sie mir zu übergeben hatten, steht bloß, dass ich ihn um
Mitternacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben
Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten,
als ich um viertel zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über
Ihren Auftrag hinaus.«
Green
leitete seine Antwort mit einer Handbewegung ein, welche das Unnütze
von Karls Bemerkung übertrieben darstellte, und sagte dann: »Steht
vielleicht auf dem Umschlag, dass ich mich Ihretwegen zu Tode hetzen soll,
und lässt vielleicht der Inhalt des Briefes darauf schließen,
dass die Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ich Sie nicht zurückgehalten,
hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße
übergeben müssen.«
»Nein«,
sagte Karl unbeirrt, »es ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht: Zu
übergeben nach Mitternacht. Wenn Sie zu müde waren, hätten
Sie mir vielleicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was
allerdings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei
meinem Onkel angekommen, oder es wäre schließlich Ihre Pflicht
gewesen, mich in Ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die
Rede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte,
zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich,
dass die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und
Sie sind es, der die Schuld trägt, dass ich ihn versäumt habe.«
Karl
sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl, wie in Green die Beschämung
über diese Entlarvung mit der Freude über das Gelingen seiner
Absicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammen und sagte in einem
Tone, als wäre er Karl, der doch schon lange schwieg, mitten in die
Rede gefallen: »Kein Wort weiter!« und schob ihn, der Koffer und Schirm
wieder aufgenommen hatte, durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß,
hinaus.
Karl
stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne Geländer
führte vor ihm hinab. Er musste nur hinuntergehen und dann sich ein
wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße führte.
In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verirren. Unten im
Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die, losgelassen,
ringsherum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in der sonstigen
Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Gras
schlugen.
Ohne
von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Karl glücklich aus
dem Garten. Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher Richtung
New York lag. Er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelheiten
geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können. Schließlich
sagte er sich, dass er ja nicht unbedingt nach New York müsse, wo
ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht erwarte. Er
wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.
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