Die Besprechung mit dem Vorsteher machte K.
fast zu seiner eigenen Verwunderung wenig Sorgen. Er suchte es sich dadurch zu erklären,
dass nach seinen bisherigen Erfahrungen der amtliche Verkehr mit den gräflichen Behörden
für ihn sehr einfach gewesen war. Das lag einerseits daran, dass hinsichtlich der
Behandlung seiner Angelegenheit offenbar ein für allemal ein bestimmter, äußerlich ihm
sehr günstiger Grundsatz ausgegeben worden war, und andererseits lag es an der
bewunderungswürdigen Einheitlichkeit des Dienstes, die man besonders dort, wo sie
scheinbar nicht vorhanden war, als eine besonders vollkommene ahnte. K. war, wenn er
manchmal nur an diese Dinge dachte, nicht weit davon entfernt, seine Lage zufrieden
stellend zu finden, obwohl er sich immer nach solchen Anfällen des Behagens schnell
sagte, dass gerade darin die Gefahr lag.
Der direkte Verkehr mit den Behörden war ja nicht allzu schwer, denn die Behörden
hatten, so gut sie auch organisiert sein mochten, immer nur im Namen entlegener,
unsichtbarer Herren entlegene, unsichtbare Dinge zu verteidigen, während K. für etwas
lebendigst Nahes kämpfte, für sich selbst; überdies, zumindest in der allerersten Zeit,
aus eigenem Willen, denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte für sich,
sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte, aber an die er nach den
Maßnahmen der Behörden glauben konnte. Dadurch nun aber, dass die Behörden K. von
vornherein in unwesentlichen Dingen um mehr hatte es sich bisher nicht gehandelt
weit entgegenkamen, nahmen sie ihm die Möglichkeit kleiner, leichter Siege und mit
dieser Möglichkeit auch die zugehörige Genugtuung und die aus ihr sich ergebende, gut
begründete Sicherheit für weitere größere Kämpfe. Stattdessen ließen sie K.,
allerdings nur innerhalb des Dorfes, überall durchgleiten, wo er wollte, verwöhnten und
schwächten ihn dadurch, schalteten hier überhaupt jeden Kampf aus und verlegten ihn
dafür in das außeramtliche, völlig unübersichtliche, trübe, fremdartige Leben. Auf
diese Weise konnte es, wenn er nicht immer auf der Hut war, wohl geschehen, dass er eines
Tages trotz aller Liebenswürdigkeit der Behörden und trotz der vollständigen Erfüllung
aller so übertrieben leichten amtlichen Verpflichtungen, getäuscht durch die ihm
erwiesene scheinbare Gunst, sein sonstiges Leben so unvorsichtig führte, dass er hier
zusammenbrach und die Behörde, noch immer sanft und freundlich, gleichsam gegen ihren
Willen, aber im Namen irgendeiner ihm unbekannten öffentlichen Ordnung kommen musste, um
ihn aus dem Weg zu räumen. Und was war es eigentlich hier, jenes sonstige Leben? Nirgends
noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, dass es
manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt. Was bedeutete zum
Beispiel die bis jetzt nur formelle Macht, welche Klamm über K.s Dienst ausübte,
verglichen mit der Macht, die Klamm in K.s Schlafkammer in aller Wirklichkeit hatte. So
kam es, dass hier ein etwas leichtsinnigeres Verfahren, eine gewisse Entspannung, nur
direkt gegenüber den Behörden am Platze war, während sonst aber immer große Vorsicht
nötig war, ein Herumblicken nach allen Seiten, vor jedem Schritt.
Seine Auffassung der hiesigen Behörden fand K. zunächst beim Vorsteher sehr
bestätigt. Der Vorsteher, ein freundlicher, dicker, glattrasierter Mann, war krank, hatte
einen schweren Gichtanfall und empfing K. im Bett. »Das ist also unser Herr
Landvermesser«, sagte er, wollte sich zur Begrüßung aufrichten, konnte es aber nicht zu
Stande bringen und warf sich, entschuldigend auf die Beine zeigend, wieder zurück in die
Kissen. Eine stille, im Dämmerlicht des kleinfenstrigen, durch Vorhänge noch
verdunkelten Zimmers fast schattenhafte Frau brachte K. einen Sessel und stellte ihn zum
Bett. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Herr Landvermesser«, sagte der Vorsteher, »und
sagen Sie mir Ihre Wünsche.« K. las den Brief Klamms vor und knüpfte einige Bemerkungen
daran. Wieder hatte er das Gefühl der außerordentlichen Leichtigkeit des Verkehrs mit
den Behörden. Sie trugen förmlich jede Last, alles konnte man ihnen auferlegen, und
selbst blieb man unberührt und frei. Als fühle das in seiner Art auch der Vorsteher,
drehte er sich unbehaglich im Bett. Schließlich sagte er: »Ich habe, Herr Landvermesser,
wie Sie ja gemerkt haben, von der ganzen Sache gewusst. Dass ich selbst noch nichts
veranlasst habe, hat seinen Grund erstens in meiner Krankheit und dann darin, dass Sie so
lange nicht kamen, ich dachte schon, Sie seien von der Sache abgekommen. Nun aber, da Sie
so freundlich sind, selbst mich aufzusuchen, muss ich Ihnen freilich die volle,
unangenehme Wahrheit sagen. Sie sind als Landvermesser aufgenommen, wie Sie sagen; aber
leider, wir brauchen keinen Landvermesser. Es wäre nicht die geringste Arbeit für ihn
da. Die Grenzen unserer kleinen Wirtschaften sind abgesteckt, alles ist ordentlich
eingetragen. Besitzwechsel kommt kaum vor, und kleine Grenzstreitigkeiten regeln wir
selbst. Was soll uns also ein Landvermesser?« K. war, ohne dass er allerdings früher
darüber nachgedacht hätte, im Innersten davon überzeugt, eine ähnliche Mitteilung
erwartet zu haben. Eben deshalb konnte er gleich sagen: »Das überrascht mich sehr. Das
wirft alle meine Berechnungen über den Haufen. Ich kann nur hoffen, dass ein
Missverständnis vorliegt.« »Leider nicht«, sagte der Vorsteher, »es ist so,
wie ich sage.« »Aber wie ist das möglich!« rief K. »Ich habe doch diese
endlose Reise nicht gemacht, um jetzt wieder zurückgeschickt zu werden!« »Das
ist eine andere Frage«, sagte der Vorsteher, »die ich nicht zu entscheiden habe, aber
wie jenes Missverständnis möglich war, das kann ich Ihnen allerdings erklären. In einer
so großen Behörde wie der gräflichen kann es einmal vorkommen, dass eine Abteilung
dieses angeordnet, die andere jenes, keine weiß von der anderen, die übergeordnete
Kontrolle ist zwar äußerst genau, kommt aber ihrer Natur nach zu spät, und so kann
immerhin eine kleine Verwirrung entstehen. Immer sind es freilich nur winzigste
Kleinigkeiten wie zum Beispiel Ihr Fall. In großen Dingen ist mir noch kein Fehler
bekannt geworden, aber die Kleinigkeiten sind oft auch peinlich genug. Was nun Ihren Fall
betrifft, so will ich Ihnen, ohne Amtsgeheimnisse zu machen dazu bin ich nicht
genug Beamter, ich bin Bauer und dabei bleibt es , den Hergang offen erzählen. Vor
langer Zeit, ich war damals erst einige Monate Vorsteher, kam ein Erlass, ich weiß nicht
mehr von welcher Abteilung, in welchem in der den Herren dort eigentümlichen
kategorischen Art mitgeteilt war, dass ein Landvermesser berufen werden solle, und der
Gemeinde aufgetragen war, alle für seine Arbeiten notwendigen Pläne und Aufzeichnungen
bereitzuhalten. Dieser Erlass kann natürlich nicht Sie betroffen haben, denn das war vor
vielen Jahren, und ich hätte mich nicht daran erinnert, wenn ich nicht jetzt krank wäre
und im Bett über die lächerlichsten Dinge nachzudenken Zeit genug hätte.«
»Mizzi«, sagte er, plötzlich seinen Bericht unterbrechend, zu der Frau, die noch immer
in unverständlicher Tätigkeit durch das Zimmer huschte, »bitte, sieh dort im Schrank
nach, vielleicht findest du den Erlass.« »Er ist nämlich«, sagte er erklärend
zu K., »aus meiner ersten Zeit, damals habe ich noch alles aufgehoben.« Die Frau
öffnete gleich den Schrank, K. und der Vorsteher sahen zu. Der Schrank war mit Papieren
voll gestopft. Beim Öffnen rollten zwei große Aktenbündel heraus, welche rund gebunden
waren, so wie man Brennholz zu binden pflegt, die Frau sprang erschrocken zur Seite.
»Unten dürfte es sein, unten«, sagte der Vorsteher, vom Bett aus dirigierend. Folgsam
warf die Frau, mit beiden Armen die Akten zusammenfassend, alles aus dem Schrank, um zu
den unteren Papieren zu gelangen. Die Papiere bedeckten schon das halbe Zimmer. »Viel
Arbeit ist geleistet worden«, sagte der Vorsteher nickend, »und das ist nur ein kleiner
Teil. Die Hauptmasse habe ich in der Scheune aufbewahrt, und der größte Teil ist
allerdings verloren gegangen. Wer kann das alles zusammenhalten! In der Scheune ist aber
noch sehr viel.« »Wirst du den Erlass finden können?« wandte er sich dann
wieder zu seiner Frau. »du musst einen Akt suchen, auf dem das Wort
Landvermesser blau unterstrichen ist.« »Es ist zu dunkel hier«,
sagte die Frau, »ich werde eine Kerze holen«, und sie ging über die Papiere hinweg aus
dem Zimmer. »Meine Frau ist mir eine große Stütze«, sagte der Vorsteher, »in dieser
schweren Amtsarbeit, die doch nur nebenbei geleistet werden muss. Ich habe zwar für die
schriftlichen Arbeiten noch eine Hilfskraft, den Lehrer, aber es ist trotzdem unmöglich,
fertig zu werden, es bleibt immer viel Unerledigtes zurück, das ist dort in jenem Kasten
gesammelt«, und er zeigte auf einen anderen Schrank. »Und gar, wenn ich jetzt krank bin,
nimmt es überhand«, sagte er und legte sich müde, aber doch auch stolz zurück.
»Könnte ich nicht«, sagte K., als die Frau mit der Kerze zurückgekommen war und vor
dem Kasten kniend den Erlass suchte, »Ihrer Frau beim Suchen helfen?« Der Vorsteher
schüttelte lächelnd den Kopf: »Wie ich schon sagte, ich habe keine Amtsgeheimnisse vor
Ihnen; aber Sie selbst in den Akten suchen zu lassen, so weit kann ich denn doch nicht
gehen.« Es wurde jetzt still im Zimmer, nur das Rascheln der Papiere war zu hören, der
Vorsteher schlummerte vielleicht sogar ein wenig. Ein leises Klopfen an der Tür ließ K.
sich umdrehen. Es waren natürlich die Gehilfen. Immerhin waren sie schon ein wenig
erzogen, stürmten nicht gleich ins Zimmer, sondern flüsterten zunächst durch die ein
wenig geöffnete Tür: »Es ist uns zu kalt draußen.« »Wer ist es?« fragte der
Vorsteher aufschreckend. »Es sind nur meine Gehilfen«, sagte K., »ich weiß nicht, wo
ich sie auf mich warten lassen soll, draußen ist es zu kalt, und hier sind sie lästig.«
»Mich stören sie nicht«, sagte der Vorsteher freundlich. »Lassen Sie sie
hereinkommen. Übrigens kenne ich sie ja. Alte Bekannte.« »Mir aber sind sie
lästig«, sagte K. offen, ließ den Blick von den Gehilfen zum Vorsteher und wieder
zurück zu den Gehilfen wandern und fand aller drei Lächeln ununterscheidbar gleich.
»Wenn ihr aber nun schon hier seid«, sagte er dann versuchsweise, »so bleibt und helft
dort der Frau Vorsteher einen Akt zu suchen, auf dem das Wort Landvermesser
blau unterstrichen ist.« Der Vorsteher erhob keinen Widerspruch. Was K. nicht durfte, die
Gehilfen durften es, sie warfen sich auch gleich auf die Papiere, aber sie wühlten mehr
in den Haufen, als dass sie suchten, und während einer eine Schrift buchstabierte, riss
sie ihm der andere immer aus der Hand. Die Frau dagegen kniete vor dem leeren Kasten, sie
schien gar nicht mehr zu suchen, jedenfalls stand die Kerze sehr weit von ihr.
»Die Gehilfen«, sagte der Vorsteher mit einem selbstzufriedenen Lächeln, so als gehe
alles auf seine Anordnungen zurück, aber niemand sei im Stande, das auch nur zu vermuten,
»sie sind Ihnen also lästig, aber es sind doch Ihre eigenen Gehilfen.« »Nein«,
sagte K. kühl, »sie sind mir erst hier zugelaufen.« »Wie denn, zugelaufen«,
sagte der Vorsteher, »zugeteilt worden, meinen Sie wohl.« »Nun denn, zugeteilt
worden«, sagte K. »Sie könnten aber ebenso gut herabgeschneit sein, so bedenkenlos war
diese Zuteilung.« »Bedenkenlos geschieht hier nichts«, sagte der Vorsteher,
vergaß sogar den Fußschmerz und setzte sich aufrecht. »Nichts«, sagte K., »und wie
verhält es sich mit meiner Berufung?« »Auch Ihre Berufung war wohl erwogen«,
sagte der Vorsteher, »nur Nebenumstände haben verwirrend eingegriffen, ich werde es
Ihnen an Hand der Akten nachweisen.« »Die Akten werden ja nicht gefunden
werden«, sagte K. »Nicht gefunden?« rief der Vorsteher. »Mizzi, bitte, such ein wenig
schneller! Ich kann Ihnen jedoch zunächst die Geschichte auch ohne Akten erzählen. Jenen
Erlass, von dem ich schon sprach, beantworteten wir dankend damit, dass wir keinen
Landvermesser brauchen. Diese Antwort scheint aber nicht an die ursprüngliche Abteilung,
ich will sie A nennen, zurückgelangt zu sein, sondern irrtümlicherweise an eine andere
Abteilung B. Die Abteilung A blieb also ohne Antwort, aber leider bekam auch B nicht
unsere ganze Antwort; sei es, dass der Akteninhalt bei uns zurückgeblieben war, sei es,
dass er auf dem Weg verloren gegangen ist in der Abteilung selbst gewiss nicht,
dafür will ich bürgen , jedenfalls kam auch in der Abteilung B nur ein
Aktenumschlag an, auf dem nichts weiter vermerkt war, als dass der einliegende, leider in
Wirklichkeit aber fehlende Akt von der Berufung eines Landvermessers handle. Die Abteilung
A wartete inzwischen auf unsere Antwort, sie hatte zwar Vermerke über die Angelegenheit,
aber wie das begreiflicherweise öfters geschieht und bei der Präzision aller
Erledigungen geschehen darf, verließ sich der Referent darauf, dass wir antworten würden
und dass er dann entweder den Landvermesser berufen oder nach Bedürfnis weiter über die
Sache mit uns korrespondieren würde. Infolgedessen vernachlässigte er die Vormerke, und
das Ganze geriet bei ihm in Vergessenheit. In der Abteilung B kam aber der Aktenumschlag
an einen wegen seiner Gewissenhaftigkeit berühmten Referenten, Sordini heißt er, ein
Italiener; es ist selbst mir einem Eingeweihten, unbegreiflich, warum ein Mann von seinen
Fähigkeiten in der fast untergeordneten Stellung gelassen wird. Dieser Sordini schickte
uns natürlich den leeren Aktenumschlag zur Ergänzung zurück. Nun waren aber seit jenem
ersten Schreiben der Abteilung A schon viele Monate, wenn nicht Jahre vergangen;
begreiflicherweise, denn wenn, wie es die Regel ist, ein Akt den richtigen Weg geht,
gelangt er an seine Abteilung spätestens in einem Tag und wird am gleichen Tag noch
erledigt; wenn er aber einmal den Weg verfehlt und er muss bei der Vorzüglichkeit
der Organisation den falschen Weg förmlich mit Eifer suchen, sonst findet er ihn nicht
, dann, dann dauert es freilich sehr lange. Als wir daher Sordinis Note bekamen,
konnten wir uns an die Angelegenheit nur noch ganz unbestimmt erinnern, wir waren damals
nur zwei für die Arbeit, Mizzi und ich, der Lehrer war mir damals noch nicht zugeteilt,
Kopien bewahrten wir nur in den wichtigsten Angelegenheiten auf, kurz, wir konnten nur
sehr unbestimmt antworten, dass wir von einer solchen Berufung nichts wüssten und dass
nach einem Landvermesser bei uns kein Bedarf sei.«
»Aber«, unterbrach sich hier der Vorsteher, als sei er im Eifer des Erzählens zu
weit gegangen oder als sei es wenigstens möglich, dass er zu weit gegangen sei,
»langweilt Sie die Geschichte nicht?«
»Nein«, sagte K. »Sie unterhält mich.«
Darauf der Vorsteher: »Ich erzähle es Ihnen nicht zur Unterhaltung.«
»Es unterhält mich nur dadurch«, sagte K., »dass ich einen Einblick in das
lächerliche Gewirre bekomme, welches unter Umständen über die Existenz eines Menschen
entscheidet.«
»Sie haben noch keinen Einblick bekommen«, sagte ernst der Vorsteher, »und ich kann
Ihnen weiter erzählen. Von unserer Antwort war natürlich ein Sordini nicht befriedigt.
Ich bewundere den Mann, obwohl er für mich eine Qual ist. Er misstraut nämlich jedem,
auch wenn er zum Beispiel irgendjemanden bei unzähligen Gelegenheiten als den
vertrauenswürdigsten Menschen kennen gelernt hat, misstraut er ihm bei der nächsten
Gelegenheit, wie wenn er ihn gar nicht kennte oder richtiger, wie wenn er ihn als Lumpen
kennte. Ich halte das für richtig, ein Beamter muss so vorgehen; leider kann ich diesen
Grundsatz meiner Natur nach nicht befolgen, Sie sehen ja, wie ich Ihnen, einem Fremden,
alles offen vorlege, ich kann eben nicht anders. Sordini dagegen fasste unserer Antwort
gegenüber sofort Misstrauen. Es entwickelte sich nun eine große Korrespondenz. Sordini
fragte, warum es mir plötzlich eingefallen sei, dass kein Landvermesser berufen werden
solle; ich antwortete mit Hilfe von Mizzis ausgezeichnetem Gedächtnis, dass doch die
erste Anregung von Amts wegen ausgegangen sei (dass es sich um eine andere Abteilung
handelte, hatten wir natürlich schon längst vergessen); Sordini dagegen: warum ich diese
amtliche Zuschrift erst jetzt erwähne; ich wiederum: weil ich mich erst jetzt an sie
erinnert habe; Sordini: das sei sehr merkwürdig; ich: das sei gar nicht merkwürdig bei
einer so lange sich hinziehenden Angelegenheit; Sordini: es sei doch merkwürdig, denn die
Zuschrift, an die ich mich erinnert habe, existiere nicht; ich: natürlich existiere sie
nicht, weil der ganze Akt verloren gegangen sei; Sordini: es müsste aber doch ein Vormerk
hinsichtlich jener ersten Zuschrift bestehen, der aber bestehe nicht. Da stockte ich, denn
dass in Sordinis Abteilung ein Fehler unterlaufen sei, wagte ich weder zu behaupten noch
zu glauben. Sie machen vielleicht, Herr Landvermesser, Sordini in Gedanken den Vorwurf,
dass ihn die Rücksicht auf meine Behauptung wenigstens dazu hätte bewegen sollen, sich
bei anderen Abteilungen nach der Sache zu erkundigen. Gerade das aber wäre unrichtig
gewesen, ich will nicht, dass an diesem Manne auch nur in Ihren Gedanken ein Makel bleibt.
Es ist ein Arbeitsgrundsatz der Behörde, dass mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht
gerechnet wird. Dieser Grundsatz ist berechtigt durch die vorzügliche Organisation des
Ganzen, und er ist notwendig, wenn äußerste Schnelligkeit der Erledigung erreicht werden
soll. Sordini durfte sich also bei anderen Abteilungen gar nicht erkundigen, übrigens
hätten ihm diese Abteilungen gar nicht geantwortet, weil sie gleich gemerkt hätten, dass
es sich um Ausforschung einer Fehlermöglichkeit handle.«
»Erlauben Sie, Herr Vorsteher, dass ich Sie mit einer Frage unterbreche«, sagte K.,
»erwähnten Sie nicht früher einmal eine Kontrollbehörde? Die Wirtschaft ist ja nach
Ihrer Darstellung eine derartige, dass einem bei der Vorstellung, die Kontrolle könnte
ausbleiben, übel wird.«
»Sie sind sehr streng«, sagte der Vorsteher. »Aber vertausendfachen Sie Ihre
Strenge, und sie wird noch immer nichts sein, verglichen mit der Strenge, welche die
Behörde gegen sich selbst anwendet. Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen. Ob
es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu
bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und
selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig
sagen, dass es ein Fehler ist.«
»Das wäre etwas völlig Neues!« rief K.
»Mir ist es etwas sehr Altes«, sagte der Vorsteher. »Ich bin nicht viel anders als
Sie selbst davon überzeugt, dass ein Fehler vorgekommen ist, und Sordini ist infolge der
Verzweiflung darüber schwer erkrankt, und die ersten Kontrollämter, denen wir die
Aufdeckung der Fehlerquelle verdanken, erkennen hier auch den Fehler. Aber wer darf
behaupten, dass die zweiten Kontrollämter ebenso urteilen und auch die dritten und
weiterhin die anderen?«
»Mag sein«, sagte K., »in solche Überlegungen will ich mich doch lieber nicht
einmischen, auch höre ich ja zum ersten Mal von diesen Kontrollämtern und kann sie
natürlich noch nicht verstehen. Nur glaube ich, dass hier zweierlei unterschieden werden
müsse: nämlich erstens das, was innerhalb der Ämter vorgeht und was dann wieder amtlich
so oder so aufgefasst werden kann, und zweitens meine wirkliche Person, ich, der ich
außerhalb der Ämter stehe und dem von den Ämtern eine Beeinträchtigung droht, die so
unsinnig wäre, dass ich noch immer an den Ernst der Gefahr nicht glauben kann. Für das
erstere gilt wahrscheinlich das, was Sie, Herr Vorsteher, mit so verblüffender,
außerordentlicher Sachkenntnis erzählen, nur möchte ich aber dann auch ein Wort über
mich hören.«
»Ich komme auch dazu«, sagte der Vorsteher, »doch könnten Sie es nicht verstehen,
wenn ich nicht noch einiges vorausschickte. Schon dass ich jetzt die Kontrollämter
erwähnte, war verfrüht. Ich kehre also zu den Unstimmigkeiten mit Sordini zurück. Wie
erwähnt, ließ meine Abwehr allmählich nach. Wenn aber Sordini auch nur den geringsten
Vorteil gegenüber irgendjemandem in Händen hat, hat er schon gesiegt, denn nun erhöht
sich noch seine Aufmerksamkeit, Energie, Geistesgegenwart; und er ist für den
Angegriffenen ein schrecklicher, für die Feinde des Angegriffenen ein herrlicher Anblick.
Nur weil ich in anderen Fällen auch dieses letztere erlebt habe, kann ich so von ihm
erzählen, wie ich es tue. Übrigens ist es mir noch nie gelungen, ihn mit Augen zu sehen,
er kann nicht herunterkommen, er ist zu sehr mit Arbeit überhäuft, sein Zimmer ist mir
so geschildert worden, dass alle Wände mit Säulen von großen, aufeinander gestapelten
Aktenbündeln verdeckt sind, es sind dies nur Akten, die Sordini gerade in Arbeit hat, und
da immerfort den Bündeln Akten entnommen und eingefügt werden und alles in großer Eile
geschieht, stürzen diese Säulen immerfort zusammen, und gerade dieses fortwährende,
kurz aufeinander folgende Krachen ist für Sordinis Arbeitszimmer bezeichnend geworden.
Nun ja, Sordini ist ein Arbeiter, und dem kleinsten Fall widmet er die gleiche Sorgfalt
wie dem größten.«
»Sie nennen, Herr Vorsteher«, sagte K., »meinen Fall immer einen der kleinsten, und
doch hat er viele Beamte sehr beschäftigt, und wenn er vielleicht auch anfangs sehr klein
war, so ist er doch durch den Eifer von Beamten von Herrn Sordinis Art zu einem großen
Fall geworden. Leider, und sehr gegen meinen Willen, denn mein Ehrgeiz geht nicht dahin,
große, mich betreffende Aktensäulen entstehen und zusammenkrachen zu lassen, sondern als
kleiner Landvermesser bei einem kleinen Zeichentisch ruhig zu arbeiten.«
»Nein«, sagte der Vorsteher, »es ist kein großer Fall. In dieser Hinsicht haben Sie
keinen Grund zur Klage, es ist einer der kleinsten Fälle unter den kleinen. Der Umfang
der Arbeit bestimmt nicht den Rang des Falles, Sie sind noch weit entfernt vom
Verständnis für die Behörde, wenn Sie das glauben. Aber selbst wenn es auf den Umfang
der Arbeit ankäme, wäre Ihr Fall einer der geringsten, die gewöhnlichen Fälle, also
jene ohne so genannte Fehler, geben noch viel mehr und freilich auch viel ergiebigere
Arbeit. Übrigens wissen Sie ja noch gar nichts von der eigentlichen Arbeit, die Ihr Fall
verursachte, von der will ich ja erst erzählen. Zunächst ließ mich nun Sordini aus dem
Spiel, aber seine Beamten kamen, täglich fanden protokollarische Verhöre angesehener
Gemeindemitglieder im Herrenhof statt. Die meisten hielten zu mir, nur einige wurden
stutzig; die Frage der Landvermessung geht einem Bauern nahe, sie witterten irgendwelche
geheime Verabredungen und Ungerechtigkeiten, fanden überdies einen Führer, und Sordini
musste aus ihren Angaben die Überzeugung gewinnen, dass, wenn ich die Frage im
Gemeinderat vorgebracht hätte, nicht alle gegen die Berufung eines Landvermessers gewesen
wären. So wurde eine Selbstverständlichkeit dass nämlich kein Landvermesser
nötig ist immerhin zumindest fragwürdig gemacht. Besonders zeichnete sich hierbei
ein gewisser Brunswick aus Sie kennen ihn wohl nicht , er ist vielleicht
nicht schlecht, aber dumm und fantastisch, er ist ein Schwager von Lasemann.«
»Vom Gerbermeister?« fragte K. und beschrieb den Vollbärtigen, den er bei Lasemann
gesehen hatte.
»Ja, das ist er«, sagte der Vorsteher.
»Ich kenne auch seine Frau«, sagte K., ein wenig aufs Geratewohl.
»Das ist möglich«, sagte der Vorsteher und verstummte.
»Sie ist schön«, sagte K., »aber ein wenig bleich und kränklich. Sie stammt wohl
aus dem Schloss?« Das war halb fragend gesagt.
Der Vorsteher sah auf die Uhr, goss Medizin auf einen Löffel und schluckte sie hastig.
»Sie kennen im Schloss wohl nur die Büroeinrichtungen?« fragte K. grob.
»Ja«, sagte der Vorsteher mit einem ironischen und doch dankbaren Lächeln. »Sie
sind auch das Wichtigste. Und was Brunswick betrifft: Wenn wir ihn aus der Gemeinde
ausschließen könnten, wären wir fast alle glücklich und Lasemann nicht am wenigsten.
Aber damals gewann Brunswick einigen Einfluss, ein Redner ist er zwar nicht, aber ein
Schreier, und auch das genügt manchen. Und so kam es, dass ich gezwungen wurde, die Sache
dem Gemeinderate vorzulegen, übrigens zunächst Brunswicks einziger Erfolg, denn
natürlich wollte der Gemeinderat mit großer Mehrheit von einem Landvermesser nichts
wissen. Auch das ist nun schon jahrelang her, aber die ganze Zeit über ist die Sache
nicht zur Ruhe gekommen, zum Teil durch die Gewissenhaftigkeit Sordinis, der die
Beweggründe sowohl der Majorität als auch der Opposition durch die sorgfältigsten
Erhebungen zu erforschen suchte, zum Teil durch die Dummheit und den Ehrgeiz Brunswicks,
der verschiedene persönliche Verbindungen mit den Behörden hat, die er mit immer neuen
Erfindungen seiner Fantasie in Bewegung brachte. Sordini allerdings ließ sich von
Brunswick nicht täuschen, wie könnte Brunswick Sordini täuschen? Aber eben um
sich nicht täuschen zu lassen, waren neue Erhebungen nötig, und noch ehe sie beendigt
waren, hatte Brunswick schon wieder etwas Neues ausgedacht, sehr beweglich ist er ja, es
gehört das zu seiner Dummheit. Und nun komme ich auf eine besondere Eigenschaft unseres
behördlichen Apparates zu sprechen. Entsprechend seiner Präzision ist er auch äußerst
empfindlich. Wenn eine Angelegenheit sehr lange erwogen worden ist, kann es, auch ohne
dass die Erwägungen schon beendet wären, geschehen, dass plötzlich blitzartig an einer
unvorhersehbaren und auch später nicht mehr auffindbaren Stelle eine Erledigung
hervorkommt, welche die Angelegenheit, wenn auch meistens sehr richtig, so doch immerhin
willkürlich abschließt. Es ist, als hätte der behördliche Apparat die Spannung, die
jahrelange Aufreizung durch die gleiche, vielleicht an sich geringfügige Angelegenheit
nicht mehr ertragen und aus sich selbst heraus, ohne Mithilfe der Beamten, die
Entscheidung getroffen. Natürlich ist kein Wunder geschehen, und gewiss hat irgendein
Beamter die Erledigung geschrieben oder eine ungeschriebene Entscheidung getroffen,
jedenfalls aber kann, wenigstens von uns aus, von hier aus, ja selbst vom Amt aus nicht
festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat, und aus welchen
Gründen. Erst die Kontrollämter stellen das viel später fest; wir aber erfahren es
nicht mehr, es würde übrigens dann auch kaum jemanden noch interessieren. Nun sind, wie
gesagt, gerade diese Entscheidungen meistens vortrefflich, störend ist an ihnen nur, dass
man, wie es gewöhnlich die Sache mit sich bringt, von diesen Entscheidungen zu spät
erfährt und daher inzwischen über längst entschiedene Angelegenheiten noch immer
leidenschaftlich berät. Ich weiß nicht, ob in Ihrem Fall eine solche Entscheidung
ergangen ist manches spricht dafür, manches dagegen ; wenn es aber geschehen
wäre, so wäre die Berufung an Sie geschickt worden, und Sie hätten die große Reise
hierher gemacht, viel Zeit wäre dabei vergangen, und inzwischen hätte noch immer Sordini
hier in der gleichen Sache bis zur Erschöpfung gearbeitet, Brunswick intrigiert, und ich
wäre von beiden gequält worden. Diese Möglichkeit deute ich nur an, bestimmt aber weiß
ich folgendes: Ein Kontrollamt entdeckte inzwischen, dass aus der Abteilung A vor vielen
Jahren an die Gemeinde eine Anfrage wegen eines Landvermessers ergangen sei, ohne dass
bisher eine Antwort gekommen wäre. Man fragte neuerlich bei mir an, und nun war freilich
die ganze Sache aufgeklärt, die Abteilung A begnügte sich mit meiner Antwort, dass kein
Landvermesser nötig sei, und Sordini musste erkennen, dass er in diesem Falle nicht
zuständig gewesen war und, freilich schuldlos, so viele unnütze, nervenzerstörende
Arbeit geleistet hatte. Wenn nicht neue Arbeit von allen Seiten sich herangedrängt hätte
wie immer und wenn nicht Ihr Fall doch nur ein sehr kleiner Fall gewesen wäre man
kann fast sagen, der kleinste unter den kleinen , so hätten wir wohl alle
aufgeatmet, ich glaube, sogar Sordini selbst. Nur Brunswick grollte, aber das war nur
lächerlich. Und nun stellen Sie sich, Herr Landvermesser, meine Enttäuschung vor, als
jetzt, nach glücklicher Beendigung der ganzen Angelegenheit und auch seither ist
schon wieder viel Zeit verflossen , plötzlich Sie auftreten und es den Anschein
bekommt, als sollte die Sache wieder von vorn beginnen. Dass ich fest entschlossen bin,
dies, soweit es an mir liegt, auf keinen Fall zuzulassen, das werden Sie wohl verstehen?«
»Gewiss«, sagte K., »noch besser aber verstehe ich, dass hier ein entsetzlicher
Missbrauch mit mir, vielleicht sogar mit den Gesetzen getrieben wird. Ich werde mich für
meine Person dagegen zu wehren wissen.«
»Wie wollen Sie das tun?« fragte der Vorsteher.
»Das kann ich nicht verraten«, sagte K.
»Ich will mich nicht aufdrängen«, sagte der Vorsteher, »nur gebe ich Ihnen zu
bedenken, dass Sie in mir ich will nicht sagen, einen Freund, denn wir sind ja
völlig Fremde aber gewissermaßen einen Geschäftsfreund haben. Nur dass Sie als
Landvermesser aufgenommen werden, lasse ich nicht zu; sonst aber können Sie sich immer
mit Vertrauen an mich wenden, freilich in den Grenzen meiner Macht, die nicht groß ist.«
»Sie sprechen immer davon«, sagte K., »dass ich als Landvermesser aufgenommen werden
soll, aber ich bin doch schon aufgenommen. Hier ist Klamms Brief.«
»Klamms Brief«, sagte der Vorsteher. »Er ist wertvoll und ehrwürdig durch Klamms
Unterschrift, die echt zu sein scheint, sonst aber doch ich wage es nicht, mich
allein dazu zu äußern. Mizzi!« rief er, und dann: »Aber was macht ihr denn?«
Die so lange unbeachteten Gehilfen und Mizzi hatten offenbar den gesuchten Akt nicht
gefunden, hatten dann alles wieder in den Schrank sperren wollen, aber es war ihnen wegen
der ungeordneten Überfülle der Akten nicht gelungen. Da waren wohl die Gehilfen auf den
Gedanken gekommen, den sie jetzt ausführten. Sie hatten den Schrank auf den Boden gelegt,
alle Akten hineingestopft, hatten sich dann mit Mizzi auf die Schranktüre gesetzt und
suchten jetzt so, sie langsam niederzudrücken.
»Der Akt ist also nicht gefunden«, sagte der Vorsteher. »Schade, aber die Geschichte
kennen Sie ja schon, eigentlich brauchen wir den Akt nicht mehr, übrigens wird er gewiss
noch gefunden werden, er ist wahrscheinlich beim Lehrer, bei dem noch sehr viele Akten
sind. Aber komm nun mit deiner Kerze her, Mizzi, und lies mir diesen Brief.«
Mizzi kam und sah nun noch grauer und unscheinbarer aus, als sie auf dem Bettrand saß
und sich an den starken, lebenerfüllten Mann drückte, der sie umfasst hielt. Nur ihr
kleines Gesicht fiel jetzt im Kerzenlicht auf, mit klaren, strengen, nur durch den Verfall
des Alters gemilderten Linien. Kaum hatte sie in den Brief geblickt, faltete sie leicht
die Hände. »Von Klamm«, sagte sie. Sie lasen dann gemeinsam den Brief, flüsterten ein
wenig miteinander, und schließlich, während die Gehilfen gerade »Hurra!« riefen, denn
sie hatten endlich die Schranktür zugedrückt, und Mizzi sah still dankbar zu ihnen hin,
sagte der Vorsteher:
»Mizzi ist völlig meiner Meinung, und nun kann ich es wohl auszusprechen wagen.
Dieser Brief ist überhaupt keine amtliche Zuschrift, sondern ein Privatbrief. Das ist
schon an der Überschrift: Sehr geehrter Herr! deutlich erkennbar. Außerdem
ist darin mit keinem Worte gesagt, dass Sie als Landvermesser aufgenommen sind, es ist
vielmehr nur im Allgemeinen von herrschaftlichen Diensten die Rede, und auch das ist nicht
bindend ausgesprochen, sondern Sie sind nur aufgenommen wie Sie wissen, das
heißt, die Beweislast dafür, dass Sie aufgenommen sind, ist Ihnen auferlegt. Endlich
werden Sie in amtlicher Hinsicht ausschließlich an mich, den Vorsteher, als Ihren
nächsten Vorgesetzten verwiesen, der Ihnen alles Nähere mitteilen soll, was ja zum
größten Teil schon geschehen ist. Für einen, der amtliche Zuschriften zu lesen versteht
und infolgedessen nicht amtliche Briefe noch besser liest, ist das alles überdeutlich.
Dass Sie, ein Fremder, das nicht erkennen, wundert mich nicht. Im Ganzen bedeutet der
Brief nichts anderes, als dass Klamm persönlich sich um Sie zu kümmern beabsichtigt für
den Fall, dass Sie in herrschaftliche Dienste aufgenommen werden.«
»Sie deuten, Herr Vorsteher«, sagte K., »den Brief so gut, dass schließlich nichts
anderes übrig bleibt als die Unterschrift auf einem leeren Blatt Papier. Merken Sie
nicht, wie Sie damit Klamms Namen, den Sie zu achten vorgeben, herabwürdigen?«
»Das ist ein Missverständnis«, sagte der Vorsteher. »Ich verkenne die Bedeutung des
Briefes nicht, ich setze ihn durch meine Auslegung nicht herab, im Gegenteil. Ein
Privatbrief Klamms hat natürlich viel mehr Bedeutung als eine amtliche Zuschrift; nur
gerade die Bedeutung, die Sie ihm beilegen, hat er nicht.«
»Kennen Sie Schwarzer?« fragte K.
»Nein«, sagte der Vorsteher, »du vielleicht, Mizzi? Auch nicht. Nein, wir kennen ihn
nicht.«
»Das ist merkwürdig«, sagte K., »er ist der Sohn eines Unterkastellans.«
»Lieber Herr Landvermesser«, sagte der Vorsteher, »wie soll ich denn alle Söhne
aller Unterkastellane kennen?«
»Gut«, sagte K., »dann müssen Sie mir also glauben, dass er es ist. Mit diesem
Schwarzer hatte ich noch am Tage meiner Ankunft einen ärgerlichen Auftritt. Er erkundigte
sich dann telefonisch bei dem Unterkastellan namens Fritz und bekam die Auskunft, dass ich
als Landvermesser aufgenommen sei. Wie erklären Sie sich das, Herr Vorsteher?«
»Sehr einfach«, sagte der Vorsteher, »Sie sind eben noch niemals mit unseren
Behörden in Berührung gekommen. Alle diese Berührungen sind nur scheinbar, Sie aber
halten sie infolge Ihrer Unkenntnis der Verhältnisse für wirklich. Und was das Telefon
betrifft: Sehen Sie, bei mir, der ich wohl wahrlich genug mit den Behörden zu tun habe,
gibt es kein Telefon. In Wirtsstuben und dergleichen, da mag es gute Dienste leisten, so
etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht. Haben Sie schon einmal hier
telefoniert, ja? Nun also, dann werden Sie mich vielleicht verstehen. Im Schloss
funktioniert das Telefon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat, wird dort
ununterbrochen telefoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses
ununterbrochene Telefonieren hören wir in den hiesigen Telefonen als Rauschen und Gesang,
das haben Sie gewiss auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das
einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telefone übermitteln, alles
andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloss,
keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus im Schloss
anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr, es
würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiß, bei fast allen dieses
Läutewerk abgestellt wäre. Hier und da aber hat ein übermüdeter Beamter das
Bedürfnis, sich ein wenig zu zerstreuen, besonders am Abend oder bei Nacht, und schaltet
das Läutewerk ein; dann bekommen wir Antwort, allerdings eine Antwort, die nichts ist als
Scherz. Es ist das ja auch sehr verständlich. Wer darf denn Anspruch erheben, wegen
seiner privaten kleinen Sorgen mitten in die wichtigsten und immer rasend vor sich
gehenden Arbeiten hineinzuläuten? Ich begreife auch nicht, wie selbst ein Fremder glauben
kann, dass, wenn er zum Beispiel Sordini anruft, es auch wirklich Sordini ist, der ihm
antwortet. Vielmehr ist es wahrscheinlich ein kleiner Registrator einer ganz anderen
Abteilung. Dagegen kann es allerdings in auserlesener Stunde geschehen, dass, wenn man den
kleinen Registrator anruft, Sordini selbst die Antwort gibt. Dann freilich ist es besser,
man läuft vom Telefon weg, ehe der erste Laut zu hören ist.«
»So habe ich das allerdings nicht angesehen«, sagte K., »diese Einzelheiten konnte
ich nicht wissen; viel Vertrauen hatte ich zu diesen telefonischen Gesprächen nicht und
war mir immer bewusst, dass nur das wirkliche Bedeutung hat, was man geradezu im Schloss
erfährt oder erreicht.«
»Nein«, sagte der Vorsteher, an einem Wort sich festhaltend, »wirkliche Bedeutung
kommt diesen telefonischen Antworten durchaus zu, wie denn nicht? Wie sollte eine
Auskunft, die ein Beamter aus dem Schloss gibt, bedeutungslos sein? Ich sagte es schon
gelegentlich des Klammschen Briefes; alle diese Äußerungen haben keine amtliche
Bedeutung; wenn Sie ihnen amtliche Bedeutung zuschreiben, gehen Sie in die Irre; dagegen
ist ihre private Bedeutung in freundschaftlichem oder feindseligem Sinne sehr groß, meist
größer, als eine amtliche Bedeutung jemals sein könnte.«
»Gut«, sagte K., »angenommen, dass sich alles so verhält, dann hätte ich also eine
Menge guter Freunde im Schloss; genau besehen, war schon damals vor vielen Jahren der
Einfall jener Abteilung, man könnte einmal einen Landvermesser kommen lassen, ein
Freundschaftsakt mir gegenüber, und in der Folgezeit reihte sich dann einer an den
anderen, bis ich dann, allerdings zu bösem Ende, hergelockt wurde und man mir mit dem
Hinauswurf droht.«
»Es ist eine gewisse Wahrheit in Ihrer Auffassung«, sagte der Vorsteher, »Sie haben
darin recht, dass man die Äußerungen des Schlosses nicht wortwörtlich hinnehmen darf.
Aber Vorsicht ist doch überall nötig, nicht nur hier, und desto nötiger, je wichtiger
die Äußerung ist, um die es sich handelt. Was Sie dann aber vom Herlocken sagten, ist
mir unbegreiflich. Wären Sie meinen Ausführungen besser gefolgt, dann müssten Sie doch
wissen, dass die Frage Ihrer Hierherberufung viel zu schwierig ist, als dass wir sie hier
im Laufe einer kleinen Unterhaltung beantworten könnten.«
»So bleibt dann das Ergebnis«, sagte K., »dass alles sehr unklar und unlösbar ist,
bis auf den Hinauswurf.«
»Wer wollte wagen, Sie hinauszuwerfen, Herr Landvermesser?« sagte der Vorsteher.
»Eben die Unklarheit der Vorfragen verbürgt Ihnen die höflichste Behandlung, nur sind
Sie dem Anschein nach zu empfindlich. Niemand hält Sie hier zurück, aber das ist doch
kein Hinauswurf.«
»Oh, Herr Vorsteher«, sagte K., »nun sind wieder Sie es, der manches allzu klar
sieht. Ich werde Ihnen einiges davon aufzählen, was mich hier zurückhält: die Opfer,
die ich brachte, um von zu Hause fortzukommen, die lange, schwere Reise, die begründeten
Hoffnungen, die ich mir wegen der Aufnahme hier machte, meine vollständige
Vermögenslosigkeit, die Unmöglichkeit, jetzt wieder eine andere entsprechende Arbeit zu
Hause zu finden, und endlich, nicht zum wenigsten, meine Braut, die eine Hiesige ist.«
»Ach, Frieda«, sagte der Vorsteher ohne jede Überraschung. »Ich weiß. Aber Frieda
würde Ihnen überallhin folgen. Was freilich das Übrige betrifft, so sind hier
allerdings gewisse Erwägungen nötig, und ich werde darüber im Schloss berichten. Sollte
eine Entscheidung kommen oder sollte es vorher nötig werden, Sie noch einmal zu
verhören, werde ich Sie holen lassen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Nein, gar nicht«, sagte K., »ich will keine Gnadengeschenke vom Schloss, sondern
mein Recht.«
»Mizzi«, sagte der Vorsteher zu seiner Frau, die noch immer an ihn gedrückt dasaß
und traum verloren mit Klamms Brief spielte, aus dem sie ein Schiffchen geformt hatte,
erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort. »Mizzi, das Bein fängt mich wieder sehr zu
schmerzen an, wir werden den Umschlag erneuern müssen.«
K. erhob sich. »Dann werde ich mich also empfehlen«, sagte er. »Ja«, sagte Mizzi,
die schon eine Salbe zurechtmachte, »es zieht auch zu stark.« K. wandte sich um; die
Gehilfen hatten, in ihrem immer unpassenden Diensteifer, gleich auf K.s Bemerkung hin
beide Türflügel geöffnet. K. konnte, um das Krankenzimmer vor der mächtig
eindringenden Kälte zu bewahren, nur flüchtig vor dem Vorsteher sich verbeugen. Dann
lief er, die Gehilfen mit sich reißend, aus dem Zimmer und schloss schnell die Tür.
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