Vor dem Wirtshaus erwartete ihn der Wirt.
Ohne gefragt zu werden, hätte er nicht zu sprechen gewagt, deshalb fragte ihn K., was er
wolle. »Hast du schon eine neue Wohnung?« fragte der Wirt, zu Boden sehend. »du fragst
im Auftrage deiner Frau«, sagte K., »du bist wohl sehr abhängig von ihr?«
»Nein«, sagte der Wirt, »ich frage nicht in ihrem Auftrag. Aber sie ist sehr aufgeregt
und unglücklich deinetwegen, kann nicht arbeiten, liegt im Bett und seufzt und klagt
fortwährend.« »Soll ich zu ihr gehen?« fragte K. »Ich bitte dich darum«,
sagte der Wirt, »ich wollte dich schon vom Vorsteher holen, horchte dort an der Tür,
aber ihr wart im Gespräch, ich wollte nicht stören, auch hatte ich Sorge wegen meiner
Frau, lief wieder zurück, sie ließ mich aber nicht zu sich, so blieb mir nichts übrig,
als auf dich zu warten.« »Dann komm also schnell«, sagte K., »ich werde sie
bald beruhigen.« »Wenn es nur gelingen wollte«, sagte der Wirt.
Sie gingen durch die lichte Küche, wo drei oder vier Mägde, jede weit von der
anderen, bei ihrer zufälligen Arbeit im Anblick K.s förmlich erstarrten. Schon in der
Küche hörte man das Seufzen der Wirtin. Sie lag in einem durch eine leichte Bretterwand
von der Küche abgetrennten, fensterlosen Verschlag. Er hatte nur Raum für ein großes
Ehebett und einen Schrank. Das Bett war so aufgestellt, dass man von ihm aus die ganze
Küche übersehen und die Arbeit beaufsichtigen konnte. Dagegen war von der Küche aus im
Verschlag kaum etwas zu sehen. Dort war es ganz finster, nur das weiß-rote Bettzeug
schimmerte ein wenig hervor. Erst wenn man eingetreten war und die Augen sich eingewöhnt
hatten, unterschied man Einzelheiten.
»Endlich kommen Sie«, sagte die Wirtin schwach. Sie lag auf dem Rücken ausgestreckt,
der Atem machte ihr offenbar Beschwerden, sie hatte das Federbett zurückgeworfen. Sie sah
im Bett viel jünger aus als in den Kleidern, aber ein Nachthäubchen aus zartem
Spitzengewebe, das sie trug, obwohl es zu klein war und auf ihrer Frisur schwankte, machte
die Verfallenheit des Gesichtes Mitleid erregend. »Wie hätte ich kommen sollen?« sagte
K. sanft. »Sie haben mich doch nicht rufen lassen.« »Sie hätten mich nicht so
lange warten lassen sollen«, sagte die Wirtin mit dem Eigensinn des Kranken. »Setzen Sie
sich«, sagte sie und zeigte auf den Bettrand, »ihr anderen geht aber fort!« Außer den
Gehilfen hatten sich inzwischen auch die Mägde eingedrängt. »Ich will auch fortgehen,
Gardena«, sagte der Wirt. K. hörte zum ersten Mal den Namen der Frau. »Natürlich«,
sagte sie langsam und, als sei sie mit anderen Gedanken beschäftigt, fügte sie zerstreut
hinzu: »Warum solltest denn gerade du bleiben?« Aber als sich alle in die Küche
zurückgezogen hatten auch die Gehilfen folgten diesmal gleich, allerdings waren
sie hinter einer Magd her , war Gardena doch aufmerksam genug, um zu erkennen, dass
man aus der Küche alles hören konnte, was hier gesprochen wurde, denn der Verschlag
hatte keine Tür, und so befahl sie allen, auch die Küche zu verlassen. Es geschah
sofort.
»Bitte«, sagte dann Gardena, »Herr Landvermesser, gleich vorn im Schrank hängt ein
Umhängetuch, reichen Sie es mir, ich will mich damit zudecken, ich ertrage das Federbett
nicht, ich atme so schwer.« Und als ihr K. das Tuch gebracht hatte, sagte sie: »Sehen
Sie, das ist ein schönes Tuch, nicht wahr?« K. schien es ein gewöhnliches Wolltuch zu
sein, er befühlte es nur aus Gefälligkeit noch einmal, sagte aber nichts. »Ja, es ist
ein schönes Tuch«, sagte Gardena und hüllte sich ein. Sie lag nun friedlich da; alles
Leid schien von ihr genommen zu sein, ja sogar ihre vom Liegen in Unordnung gebrachten
Haare fielen ihr ein, sie setzte sich für ein Weilchen auf und verbesserte die Frisur ein
wenig rings um das Häubchen. Sie hatte reiches Haar.
K. wurde ungeduldig und sagte: »Sie ließen mich, Frau Wirtin, fragen, ob ich schon
eine andere Wohnung habe.« »Ich ließ Sie fragen?« sagte die Wirtin. »Nein, das
ist ein Irrtum.« »Ihr Mann hat mich eben jetzt danach gefragt.« »Das
glaube ich«, sagte die Wirtin, »ich bin mit ihm geschlagen. Als ich Sie nicht hier haben
wollte, hat er Sie hier gehalten, jetzt, da ich glücklich bin, dass Sie hier wohnen,
treibt er Sie fort. So ähnlich macht er es immer.« »Sie haben also«, sagte K.,
»Ihre Meinung über mich so sehr geändert? In ein, zwei Stunden?« »Ich habe
meine Meinung nicht geändert«, sagte die Wirtin, wieder schwächer, »reichen Sie mir
Ihre Hand. So. Und nun versprechen Sie mir, völlig aufrichtig zu sein, auch ich will es
Ihnen gegenüber sein.« »Gut«, sagte K., »wer wird aber anfangen?«
»Ich«, sagte die Wirtin. Es machte nicht den Eindruck, als wolle sie K. damit
entgegenkommen, sondern als sei sie begierig, als Erste zu reden.
Sie zog eine Fotografie unter dem Polster hervor und reichte sie K. »Sehen Sie dieses
Bild an«, sagte sie bittend. Um es besser zu sehen, machte K. einen Schritt in die
Küche, aber auch dort war es nicht leicht, etwas auf dem Bild zu erkennen, denn dieses
war vom Alter ausgebleicht, vielfach gebrochen, zerdrückt und fleckig. »Es ist in keinem
sehr guten Zustand«, sagte K. »Leider, leider«, sagte die Wirtin, »wenn man es durch
Jahre immer bei sich herumträgt, wird es so. Aber wenn Sie es genau ansehen, werden Sie
doch alles erkennen, ganz gewiss. Ich kann Ihnen übrigens helfen, sagen Sie mir, was Sie
sehen, es freut mich sehr, von dem Bild zu hören. Was also?« »Einen jungen
Mann«, sagte K. »Richtig«, sagte die Wirtin, »und was macht er?« »Er liegt,
glaube ich, auf einem Brett, streckt sich und gähnt.« Die Wirtin lachte. »Das ist ganz
falsch«, sagte sie. »Aber hier ist doch das Brett, und hier liegt er«, beharrte K. auf
seinem Standpunkt. »Sehen Sie doch genauer hin«, sagte die Wirtin ärgerlich, »liegt er
wirklich?« »Nein«, sagte nun K., »er liegt nicht, er schwebt und, nun sehe ich
es, es ist gar kein Brett, sondern wahrscheinlich eine Schnur, und der junge Mann macht
einen Hochsprung.« »Nun also«, sagte die Wirtin erfreut, »er springt, so üben
die amtlichen Boten. Ich habe ja gewusst, dass Sie es erkennen werden. Sehen Sie auch sein
Gesicht?« »Vom Gesicht sehe ich nur sehr wenig«, sagte K., »er strengt sich
offenbar sehr an, der Mund ist offen, die Augen zusammengekniffen, und das Haar
flattert.« »Sehr gut«, sagte die Wirtin anerkennend. »Mehr kann einer, der ihn
nicht persönlich gesehen hat, nicht erkennen. Aber es war ein schöner Junge; ich habe
ihn nur einmal flüchtig gesehen und werde ihn nie vergessen.« »Wer war es
denn?« fragte K. »Es war«, sagte die Wirtin, »der Bote, durch den Klamm mich zum
ersten Male zu sich berief.«
K. konnte nicht genau zuhören, er wurde durch Klirren von Glas abgelenkt. Er fand
gleich die Ursache der Störung. Die Gehilfen standen draußen im Hof, hüpften im Schnee
von einem Fuß auf den anderen. Sie taten, als wären sie glücklich, K. wieder zu sehen;
vor Glück zeigten sie ihn einander und tippten dabei immerfort an das Küchenfenster. Auf
eine drohende Bewegung K.s ließen sie sofort davon ab, suchten einander
zurückzudrängen, aber einer entwischte gleich dem anderen, und schon waren sie wieder
beim Fenster. K. eilte in den Verschlag, wo ihn die Gehilfen von außen nicht sehen
konnten und er sie nicht sehen musste. Aber das leise, wie bittende Klirren der
Fensterscheibe verfolgte ihn auch dort noch lange.
»Wieder einmal die Gehilfen«, sagte er der Wirtin zu seiner Entschuldigung und zeigte
hinaus. Sie aber achtete nicht auf ihn, das Bild hatte sie ihm fortgenommen, angesehen,
geglättet und wieder unter das Polster geschoben. Ihre Bewegungen waren langsamer
geworden, aber nicht vor Müdigkeit, sondern unter der Last der Erinnerung. Sie hatte K.
erzählen wollen und hatte ihn vergessen über der Erzählung. Sie spielte mit den Fransen
ihres Tuches. Erst nach einem Weilchen blickte sie auf, fuhr sich mit der Hand über die
Augen und sagte: »Auch dieses Tuch ist von Klamm. Und auch das Häubchen. Das Bild, das
Tuch und das Häubchen, das sind drei Andenken, die ich an ihn habe. Ich bin nicht jung
wie Frieda, ich bin nicht so ehrgeizig wie sie, auch nicht so zart fühlend, sie ist sehr
zart fühlend; kurz, ich weiß mich in das Leben zu schicken, aber das muss ich
eingestehen, ohne die drei Dinge hätte ich es hier nicht so lange ausgehalten, ja, ich
hätte es wahrscheinlich keinen Tag hier ausgehalten. Diese drei Andenken scheinen Ihnen
vielleicht gering, aber sehen Sie: Frieda, die so lange mit Klamm verkehrt hat, besitzt
gar kein Andenken, ich habe sie gefragt, sie ist zu schwärmerisch und auch zu
ungenügsam; ich dagegen, die nur dreimal bei Klamm war später ließ er mich nicht
mehr rufen, ich weiß nicht, warum , habe doch wie in Vorahnung der Kürze meiner
Zeit diese Andenken mitgebracht. Freilich, man muss sich darum kümmern, Klamm selbst gibt
nichts, aber wenn man dort etwas Passendes liegen sieht, kann man es sich ausbitten.«
K. fühlte sich unbehaglich gegenüber diesen Geschichten, sosehr sie ihn auch
betrafen.
»Wie lange ist denn das alles her?« fragte er seufzend.
»Über zwanzig Jahre«, sagte die Wirtin. »Weit über zwanzig Jahre.«
»So lange hält man Klamm die Treue«, sagte K. »Sind Sie sich aber, Frau Wirtin,
dessen auch bewusst, dass Sie mir mit solchen Geständnissen, wenn ich an meine
zukünftige Ehe denke, schwere Sorgen machen?«
Die Wirtin fand es ungebührlich, dass sich K. mit seinen Angelegenheiten hier
einmischen wollte, und sah ihn erzürnt von der Seite an.
»Nicht so böse, Frau Wirtin«, sagte K. »Ich sagte Ja kein Wort gegen Klamm, aber
ich bin doch durch die Macht der Ereignisse in gewisse Beziehungen zu Klamm getreten; das
kann der größte Verehrer Klamms nicht leugnen. Nun also. Infolgedessen muss ich bei
Klamms Erwähnung immer auch an mich denken, das ist nicht zu ändern. Übrigens, Frau
Wirtin« hier fasste K. ihre zögernde Hand , »denken Sie daran, wie
schlecht unsere letzte Unterhaltung ausgefallen ist und dass wir diesmal in Frieden
auseinander gehen wollen.«
»Sie haben recht«, sagte die Wirtin und beugte den Kopf, »aber schonen Sie mich. Ich
bin nicht empfindlicher als andere, im Gegenteil, jeder hat empfindliche Stellen, ich habe
nur diese eine.«
»Leider ist es gleichzeitig auch die meine«, sagte K., »ich aber werde mich gewiss
beherrschen; nun aber erklären Sie mir, Frau Wirtin, wie soll ich in der Ehe diese
entsetzliche Treue gegenüber Klamm ertragen, vorausgesetzt, dass auch Frieda Ihnen darin
ähnlich ist?«
»Entsetzliche Treue?« wiederholte die Wirtin grollend. »Ist es denn Treue? Treu bin
ich meinem Mann, aber Klamm? Klamm hat mich einmal zu seiner Geliebten gemacht, kann ich
diesen Rang jemals verlieren? Und wie Sie es bei Frieda ertragen sollen? Ach, Herr
Landvermesser, wer sind Sie denn, der so zu fragen wagt?«
»Frau Wirtin«, sagte K. warnend.
»Ich weiß«, sagte die Wirtin, sich fügend, »aber mein Mann hat solche Fragen nicht
gestellt. Ich weiß nicht, wer unglücklich zu nennen ist, ich damals oder Frieda jetzt.
Frieda, die mutwillig Klamm verließ, oder ich, die er nicht mehr hat rufen lassen.
Vielleicht ist es doch Frieda, wenn sie es auch noch nicht in vollem Umfang zu wissen
scheint. Aber meine Gedanken beherrschte doch mein Unglück damals ausschließlicher, denn
immerfort musste ich mich fragen und höre im Grunde auch heute noch nicht auf, so zu
fragen: Warum ist das geschehen? Dreimal hat dich Klamm rufen lassen und zum vierten Mal
nicht mehr und niemals mehr zum vierten Mal! Was beschäftigte mich damals mehr? Worüber
konnte ich denn sonst mit meinem Mann sprechen, den ich damals kurz nachher heiratete? Bei
Tag hatten wir keine Zeit, wir hatten dieses Wirtshaus in einem elenden Zustand
übernommen und mussten es in die Höhe zu bringen suchen, aber in der Nacht? Jahrelang
drehten sich unsere nächtlichen Gespräche nur um Klamm und die Gründe seiner
Sinnesänderung. Und wenn mein Mann bei diesen Unterhaltungen einschlief, weckte ich ihn,
und wir sprachen weiter.«
»Nun werde ich«, sagte K., »wenn Sie erlauben, eine sehr grobe Frage stellen.«
Die Wirtin schwieg.
»Ich darf also nicht fragen«, sagte K., »auch das genügt mir.«
»Freilich«, sagte die Wirtin, »auch das genügt Ihnen, und das besonders. Sie
missdeuten alles, auch das Schweigen. Sie können eben nicht anders. Ich erlaube Ihnen zu
fragen.«
»Wenn ich alles missdeute«, sagte K., »missdeute ich vielleicht auch meine Frage,
vielleicht ist sie gar nicht so grob. Ich wollte nur wissen, wie Sie Ihren Mann kennen
gelernt haben und wie dieses Wirtshaus in Ihren Besitz gekommen ist?«
Die Wirtin runzelte die Stirn, sagte aber gleichmütig: »Das ist eine sehr einfache
Geschichte. Mein Vater war Schmied, und Hans, mein jetziger Mann, der Pferdeknecht bei
einem Großbauern war, kam öfters zu meinem Vater. Es war damals nach der letzten
Zusammenkunft mit Klamm, ich war sehr unglücklich und hätte es eigentlich nicht sein
dürfen, denn alles war ja korrekt vor sich gegangen, und dass ich nicht mehr zu Klamm
durfte, war eben Klamms Entscheidung, war also korrekt; nur die Gründe waren dunkel, in
denen durfte ich nicht forschen, aber unglücklich hätte ich nicht sein dürfen. Nun, ich
war es doch und konnte nicht arbeiten und saß in unserem Vorgärtchen, den ganzen Tag.
Dort sah mich Hans, setzte sich manchmal zu mir, ich klagte ihm nicht, aber er wusste,
worum es ging, und weil er ein guter Junge ist, kam es vor, dass er mit mir weinte. Und
als der damalige Gastwirt, dem die Frau gestorben war und der deshalb das Gewerbe aufgeben
musste auch war er schon ein alter Mann , einmal an unserem Gärtchen
vorüberkam und uns dort sitzen sah, blieb er stehen und bot uns kurzerhand das Wirtshaus
zur Pacht an, wollte, weil er Vertrauen zu uns habe, kein Geld im Voraus und setzte die
Pacht sehr billig an. Dem Vater wollte ich nicht zur Last fallen, alles andere war mir
gleichgültig, und so reichte ich in Gedanken an das Wirtshaus und an die neue, vielleicht
ein wenig Vergessen bringende Arbeit Hans die Hand. Das ist die Geschichte.«
Es war ein Weilchen still, dann sagte K.: »Die Handlungsweise des Gastwirts war
schön, aber unvorsichtig, oder hatte er besondere Gründe für sein Vertrauen zu Ihnen
beiden?«
»Er kannte Hans gut«, sagte die Wirtin, »er war Hansens Onkel.«
»Dann freilich«, sagte K. »Hansens Familie war also offenbar viel an der Verbindung
mit Ihnen gelegen?«
»Vielleicht«, sagte die Wirtin, »ich weiß es nicht, ich kümmerte mich nie darum.«
»Es muss doch aber so gewesen sein«, sagte K., »wenn die Familie bereit war, solche
Opfer zu bringen und das Wirtshaus einfach, ohne Sicherung, in Ihre Hände zu geben.«
»Es war nicht unvorsichtig, wie sich später gezeigt hat«, sagte die Wirtin. »Ich
warf mich in die Arbeit, stark war ich, des Schmiedes Tochter, ich brauchte nicht Magd,
nicht Knecht; ich war überall, in der Wirtsstube, in der Küche, im Stall, im Hof, ich
kochte so gut, dass ich sogar dem Herrenhof Gäste abjagte. Sie waren zu Mittag noch nicht
in der Wirtsstube, Sie kennen nicht unsere Mittagsgäste, damals waren noch mehr, seitdem
haben sich schon viele verlaufen. Und das Ereignis war, dass wir nicht nur die Pacht
richtig zahlen konnten, sondern nach einigen Jahren das Ganze kauften und es heute fast
schuldenfrei ist. Das weitere Ergebnis freilich war, dass ich mich dabei zerstörte,
herzkrank wurde und nun eine alte Frau geworden bin. Sie glauben vielleicht, dass ich viel
älter als Hans bin, aber in Wirklichkeit ist er nur zwei oder drei Jahre jünger und wird
allerdings niemals altern, denn bei seiner Arbeit Pfeiferauchen, den Gästen
zuhören, dann die Pfeife ausklopfen und manchmal ein Bier holen , bei dieser Arbeit
altert man nicht.«
»Ihre Leistungen sind bewundernswert«, sagte K., »daran ist kein Zweifel, aber wir
sprachen von den Zeiten vor Ihrer Heirat, und damals wäre es doch merkwürdig gewesen,
wenn Hansens Familie unter Geldopfern oder zumindest mit Übernahme eines so großen
Risikos, wie es die Hingabe des Wirtshauses war, zur Heirat gedrängt und hierbei keine
andere Hoffnung gehabt hätte als Ihre Arbeitskraft, die man ja noch gar nicht kannte, und
Hansens Arbeitskraft, deren Nichtvorhandensein man doch schon erfahren haben musste.«
»Nun ja«, sagte die Wirtin müde, »ich weiß ja, worauf Sie zielen und wie fehl Sie
dabei gehen. Von Klamm war in allen diesen Dingen keine Spur. Warum hätte er für mich
sorgen sollen oder richtiger: wie hätte er überhaupt für mich sorgen können? Er wusste
ja nichts mehr von mir. Dass er mich nicht mehr hatte rufen lassen, war ein Zeichen, dass
er mich vergessen hatte. Wen er nicht mehr rufen lässt, vergisst er völlig. Ich wollte
davon vor Frieda nicht reden. Es ist aber nicht nur Vergessen, es ist mehr als das. Den,
welchen man vergessen hat, kann man ja wieder kennen lernen. Bei Klamm ist das nicht
möglich. Wen er nicht mehr rufen lässt, den hat er nicht nur für die Vergangenheit
völlig vergessen, sondern förmlich auch für alle Zukunft. Wenn ich mir viel Mühe gebe,
kann ich mich ja hineindenken in Ihre Gedanken, in Ihre hier sinnlosen, in der Fremde, aus
der Sie kommen, vielleicht gültigen Gedanken. Möglicherweise versteigen Sie sich bis zu
der Tollheit, zu glauben, Klamm hätte mir gerade meinen Hans deshalb zum Manne gegeben,
damit ich nicht viel Hindernis habe, zu ihm zu kommen, wenn er mich in Zukunft einmal
riefe. Nun, weiter kann auch Tollheit nicht gehen. Wo wäre der Mann, der mich hindern
könnte, zu Klamm zu laufen, wenn mir Klamm ein Zeichen gibt? Unsinn, völliger Unsinn;
man verwirrt sich selbst, wenn man mit diesem Unsinn spielt.«
»Nein«, sagte K., »verwirren wollen wir uns nicht, ich war mit meinen Gedanken noch
lange nicht so weit, wie Sie annehmen, wenn auch, um die Wahrheit zu sagen, auf dem Wege
dorthin. Vorläufig wunderte mich aber nur, dass die Verwandtschaft so viel von der Heirat
erhoffte und dass diese Hoffnungen sich tatsächlich auch erfüllten, allerdings durch den
Einsatz Ihres Herzens, Ihrer Gesundheit. Der Gedanke an einen Zusammenhang dieser
Tatsachen mit Klamm drängte sich mir dabei allerdings auf, aber nicht oder noch nicht in
der Grobheit, mit der Sie es darstellten, offenbar nur zu dem Zweck, um mich wieder einmal
anfahren zu können, weil Ihnen das Freude macht. Mögen Sie die Freude haben! Mein
Gedanke aber war der: Zunächst ist Klamm offenbar die Veranlassung der Heirat. Ohne Klamm
wären Sie nicht unglücklich gewesen, nicht untätig im Vorgärtchen gesessen, ohne Klamm
hätte Sie Hans dort nicht gesehen, ohne Ihre Traurigkeit hätte der schüchterne Hans Sie
nie anzusprechen gewagt, ohne Klamm hätten Sie sich nie mit Hans in Tränen gefunden,
ohne Klamm hätte der alte, gute Onkel-Gastwirt niemals Hans und Sie dort friedlich
beisammen gesehen, ohne Klamm wären Sie nicht gleichgültig gegen das Leben gewesen,
hätten also Hans nicht geheiratet. Nun, in dem allen ist doch schon genug Klamm, sollte
ich meinen. Es geht aber noch weiter. Hätten Sie nicht Vergessen gesucht, hätten Sie
gewiss nicht so rücksichtslos gegen sich selbst gearbeitet und die Wirtschaft nicht so
hoch gebracht. Also auch hier Klamm. Aber Klamm ist auch noch, abgesehen davon, die
Ursache Ihrer Krankheit, denn Ihr Herz war schon vor Ihrer Heirat von der unglücklichen
Leidenschaft erschöpft. Bleibt nur noch die Frage, was Hansens Verwandte so sehr an der
Heirat lockte. Sie selbst erwähnten einmal, dass Klamms Geliebte zu sein eine
unverlierbare Rangerhöhung bedeutet; nun, so mag sie also dies gelockt haben. Außerdem
aber glaube ich, die Hoffnung, dass der gute Stern, der Sie zu Klamm geführt hat
vorausgesetzt, dass es ein guter Stern war, aber Sie behaupten es , zu Ihnen
gehöre, also bei Ihnen bleiben müsse und Sie nicht etwa so schnell und plötzlich
verlassen werde, wie Klamm es getan hat.«
»Meinen Sie das alles im Ernst?« fragte die Wirtin.
»Im Ernst«, sagte K. schnell, »nur glaube ich, dass Hansens Verwandtschaft mit ihren
Hoffnungen weder ganz recht noch ganz Unrecht hatte, und ich glaube auch den Fehler zu
erkennen, den sie gemacht haben. Äußerlich scheint ja alles gelungen, Hans ist gut
versorgt, hat eine stattliche Frau, steht in Ehren, die Wirtschaft ist schuldenfrei. Aber
eigentlich ist doch nicht alles gelungen, er wäre mit einem einfachen Mädchen, dessen
erste große Liebe er gewesen wäre, gewiss viel glücklicher geworden; wenn er, wie Sie
es ihm vorwerfen, manchmal in der Wirtsstube wie verloren dasteht, so deshalb, weil er
sich wirklich wie verloren fühlt ohne darüber unglücklich zu sein, gewiss, so
weit kenne ich ihn schon , aber ebenso gewiss ist es, dass dieser hübsche,
verständige Junge mit einer anderen Frau glücklicher, womit ich gleichzeitig meine,
selbstständiger, fleißiger, männlicher geworden wäre. Und Sie selbst sind doch gewiss
nicht glücklich und, wie Sie sagten, ohne die drei Andenken wollten Sie gar nicht
weiterleben, und herzkrank sind Sie auch. Also hatte die Verwandtschaft mit ihren
Hoffnungen Unrecht? Ich glaube nicht. Der Segen war über Ihnen, aber man verstand nicht,
ihn herunterzuholen.«
»Was hat man denn versäumt?« fragte die Wirtin. Sie lag nun ausgestreckt auf dem
Rücken und blickte zur Decke empor.
»Klamm zu fragen«, sagte K.
»So wären wir also wieder bei Ihnen«, sagte die Wirtin.
»Oder bei Ihnen«, sagte K. »Unsere Angelegenheiten grenzen aneinander.«
»Was wollen Sie also von Klamm?« fragte die Wirtin. Sie hatte sich aufrecht gesetzt,
die Kissen aufgeschüttelt, um sitzend sich anlehnen zu können, und sah K. voll in die
Augen. »Ich habe Ihnen meinen Fall, aus dem Sie einiges hätten lernen können, offen
erzählt. Sagen Sie mir nun ebenso offen, was Sie Klamm fragen wollen. Nur mit Mühe habe
ich Frieda überredet, in ihr Zimmer hinaufzugehen und dort zu bleiben; ich fürchtete,
Sie würden in ihrer Anwesenheit nicht genug offen sprechen.«
»Ich habe nichts zu verbergen«, sagte K. »Zunächst aber will ich Sie auf etwas
aufmerksam machen. Klamm vergisst gleich, sagten Sie. Das kommt mir nun erstens sehr
unwahrscheinlich vor, zweitens aber ist es unbeweisbar, offenbar nichts anderes als eine
Legende, ausgedacht vom Mädchenverstand derjenigen, welche bei Klamm gerade in Gnade
waren. Ich wundere mich, dass Sie einer so platten Erfindung glauben.«
»Es ist keine Legende«, sagte die Wirtin, »es ist vielmehr der all gemeinen
Erfahrung entnommen.«
»Also auch durch eine Erfindung zu widerlegen«, sagte K. »Dann gibt es aber auch
noch einen Unterschied zwischen Ihrem und Friedas Fall. Dass Klamm Frieda nicht mehr
gerufen hätte, ist gewissermaßen gar nicht vorgekommen, vielmehr hat er sie gerufen,
aber sie hat nicht gefolgt. Es ist sogar möglich, dass er noch immer auf sie wartet.«
Die Wirtin schwieg und ließ nur ihren Blick beobachtend an K. auf und ab gehen. Dann
sagte sie: »Ich will allem, was Sie zu sagen haben, ruhig zuhören. Reden Sie lieber
offen, als dass Sie mich schonen. Nur eine Bitte habe ich. Gebrauchen Sie nicht Klamms
Namen. Nennen Sie ihn Er oder sonst wie, aber nicht beim Namen.«
»Gern«, sagte K., »aber was ich von ihm will, ist schwer zu sagen. Zunächst will
ich ihn in der Nähe sehen, dann will ich seine Stimme hören, dann will ich von ihm
wissen, wie er sich zu unserer Heirat verhält. Worum ich ihn dann vielleicht noch bitten
werde, hängt vom Verlauf der Unterredung ab. Es kann manches zur Sprache kommen, aber das
wichtigste ist doch für mich, dass ich ihm gegenüberstehe. Ich habe nämlich noch mit
keinem wirklichen Beamten unmittelbar gesprochen. Es scheint das schwerer zu erreichen zu
sein, als ich glaubte. Nun aber habe ich die Pflicht, mit ihm als einem Privatmann zu
sprechen, und dieses ist meiner Meinung nach viel leichter durchzusetzen. Als Beamten kann
ich ihn nur in seinem vielleicht unzugänglichen Büro sprechen, im Schloss oder, was
schon fraglich ist, im Herrenhof. Als Privatmann aber überall, im Haus, auf der Straße,
wo es mir nur gelingt, ihm zu begegnen. Dass ich dann nebenbei auch den Beamten mir
gegenüber haben werde, werde ich gern hinnehmen, aber es ist nicht mein erstes Ziel.«
»Gut«, sagte die Wirtin und drückte ihr Gesicht in die Kissen, als sage sie etwas
Schamloses. »Wenn ich durch meine Verbindungen es erreiche, dass Ihre Bitte um eine
Unterredung zu Klamm geleitet wird, versprechen Sie mir, bis zum Herabkommen der Antwort
nichts auf eigene Faust zu unternehmen?«
»Das kann ich nicht versprechen«, sagte K., »so gerne ich Ihre Bitte oder Ihre Laune
erfüllen wollte. Die Sache drängt nämlich, besonders nach dem ungünstigen Ergebnis
meiner Besprechung mit dem Vorsteher.«
»Dieser Einwand entfällt«, sagte die Wirtin, »der Vorsteher ist eine ganz
belanglose Person. Haben Sie denn das nicht bemerkt? Er könnte keinen Tag in seiner
Stellung bleiben, wenn nicht seine Frau wäre, die alles führt.«
»Mizzi?« fragte K. Die Wirtin nickte. »Sie war dabei«, sagte K.
»Hat sie sich geäußert?« fragte die Wirtin.
»Nein«, sagte K., »ich hatte aber auch nicht den Eindruck, dass sie das könnte.«
»Nun ja«, sagte die Wirtin, »so irrig sehen Sie hier alles an. Jedenfalls: Was der
Vorsteher über Sie verfügt hat, hat keine Bedeutung, und mit der Frau werde ich
gelegentlich reden. Und wenn ich Ihnen nun noch verspreche, dass die Antwort Klamms
spätestens in einer Woche kommen wird, haben Sie wohl keinen Grund mehr, mir nicht
nachzugeben.«
»Das alles ist nicht entscheidend«, sagte K. »Mein Entschluss steht fest und ich
würde ihn auch auszuführen versuchen, wenn eine ablehnende Antwort käme. Wenn ich aber
diese Absicht von vornherein habe, kann ich doch nicht vorher um die Unterredung bitten
lassen. Was ohne die Bitte vielleicht ein kühner, aber doch gut gläubiger Versuch
bleibt, wäre nach einer ablehnenden Antwort offene Widersetzlichkeit. Das wäre freilich
viel schlimmer.«
»Schlimmer?« sagte die Wirtin. »Widersetzlichkeit ist es auf jeden Fall. Und nun tun
Sie nach Ihrem Willen. Reichen Sie mir den Rock.«
Ohne Rücksicht auf K. zog sie sich den Rock an und eilte in die Küche. Schon seit
längerer Zeit hörte man Unruhe von der Wirtsstube her. An das Guckfenster war geklopft
worden. Die Gehilfen hatten es einmal aufgestoßen und hereingerufen, dass sie Hunger
hätten. Auch andere Gesichter waren dann dort erschienen. Sogar einen leisen, aber
mehrstimmigen Gesang hörte man.
Freilich, K.s Gespräch mit der Wirtin hatte das Kochen des Mittagessens sehr
verzögert, es war noch nicht fertig, aber die Gäste waren versammelt. Immerhin hatte
niemand gewagt, gegen das Verbot der Wirtin die Küche zu betreten. Nun aber, da die
Beobachter am Guckfenster meldeten, die Wirtin komme schon, liefen die Mägde gleich in
die Küche, und als K. die Wirtsstube betrat, strömte die erstaunlich zahlreiche
Gesellschaft, mehr als zwanzig Leute, Männer und Frauen, provinzmäßig, aber nicht
bäuerisch angezogen, vom Guckfenster, wo sie versammelt gewesen waren, zu den Tischen, um
sich Plätze zu sichern. Nur an einem kleinen Tisch in einem Winkel saß schon ein Ehepaar
mit einigen Kindern; der Mann, ein freundlicher, blauäugiger Herr mit zerrauftem, grauem
Haar und Bart, stand zu den Kindern hinabgebeugt und gab mit einem Messer den Takt zu
ihrem Gesang, den er immerfort zu dämpfen bemüht war; vielleicht wollte er sie durch den
Gesang den Hunger vergessen machen. Die Wirtin entschuldigte sich vor der Gesellschaft mit
einigen gleichgültig hingesprochenen Worten, niemand machte ihr Vorwürfe. Sie sah sich
nach dem Wirt um, der sich aber vor der Schwierigkeit der Lage wohl schon längst
geflüchtet hatte. Dann ging sie langsam in die Küche; für K., der zu Frieda in sein
Zimmer eilte, hatte sie keinen Blick mehr.
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